- „Wir müssen uns für unser Tun rechtfertigen“
Vor 20 Jahren erschütterte ein Spiegel-Bericht des Investigativjournalisten Hans Leyendecker die Republik: Der Terrorist Wolfgang Grams sei in Bad Kleinen von Polizisten ermordet worden. Heute schämt sich Leyendecker dafür. Cicero-Online-Redakteurin Petra Sorge sprach mit ihm über seine fatale Fehleinschätzung, den Quellenschutz und journalistische Ehrlichkeit
Herr Leyendecker, nach dem Polizeieinsatz in Bad Kleinen 1993 behaupteten Sie im Spiegel, der RAF-Terrorist Wolfgang Grams sei „regelrecht hingerichtet“ worden. Die Staatsanwaltschaft hatte später jedoch „durchgreifende Zweifel“ an der Glaubwürdigkeit Ihres Informanten, verglich dessen Aussage gar mit einem „Gerücht“.
Auch ich habe heute grundlegende Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit. Man muss sich aber die damalige Situation noch einmal vor Augen führen: In unserer Titelgeschichte „Der Todesschuss“ kam der Zeuge mit seiner Exekutions-Version vor, zu stark kam er vor. In der Woche vor Erscheinen des Artikels hatte eine zweite Zeugin im WDR-Magazin „Monitor“ Ähnliches geschildert: Joanna Baron, eine Kiosk-Besitzerin am Bahnhof, wollte ebenfalls gesehen haben, dass ein Beamter Grams erschossen haben soll. Es wurde an einem Gutachten gearbeitet, aus dem hervorging, dass Grams nicht mit seiner eigenen, sondern mit einer fremden Waffe getötet worden war. Dieses Gutachten hat sich später jedoch als falsch herausgestellt. Das gleiche gilt für die Kiosk-Besitzerin. In der Theorie gab es also drei Quellen für eine vermutlich falsche Version. Außerdem entsprachen weder die ersten Erklärungen der Bundesanwaltschaft noch die Aussagen im Innen- und Rechtsausschuss der ganzen Wahrheit. Das war die Ausgangslage, die vielleicht erklärt, wie so etwas entstehen konnte.
Sie schrieben damals, der Informant wolle sich Ihnen gegenüber aus „höchster Seelennot“ offenbart haben. Wäre er wirklich an einer Strafverfolgung interessiert gewesen, hätte er sich doch an die Staatsanwaltschaft wenden können.
Ich denke, er hatte mit einem anderen Ablauf der Diskussion über den Polizeieinsatz gerechnet oder, darauf deutet mehr hin, er hat einen Ablauf geschildert, den es so nicht gegeben hatte. Weil der Informant aber am Einsatz beteiligt gewesen war, wurde er später ohnehin befragt. Da gab er eine andere Darstellung ab als bei mir.
Der Informant behauptete etwa, die Terroristin Birgit Hogefeld – damals die Geliebte von Grams – habe bei ihrer Festnahme um sich geschossen. Das stimmte nachweislich nicht.
Wenn Sie die Titelgeschichte sehr genau lesen, sehen Sie, dass das da drin steht. In jener Woche war tatsächlich bekannt geworden, dass Hogefeld keine Waffe gezogen hatte. Für mich sprach das nicht gegen, sondern für die Glaubwürdigkeit des Informanten. Wenn er hört, wie es wirklich gewesen ist und dennoch sagt: „Ich habe es aber so empfunden“, dann war er doch mit seinen Fehlern ehrlich. So habe ich wohl gedacht – und das war ebenso kompliziert gedacht wie schrecklich falsch.
Beim Vergleich aller Zeugenaussagen hat die Staatsanwaltschaft eindeutig ausgeschlossen, dass Ihr Informant einer der anwesenden GSG-9-Beamten war…
Der Quellenschutz gilt weiter. Alle am Einsatz beteiligten Beamten vom BKA und von der GSG 9 sind vernommen worden. Darunter auch der Informant. Aber seine Aussage gegenüber der Staatsanwaltschaft ist nicht mit der Schilderung der angeblichen Abläufe vor Erscheinen der ersten Geschichte in Einklang zu bringen.
Wie erklären Sie sich das?
Es gab einen Entwicklungsprozess: Nach Erscheinen der Spiegel-Geschichte trat der Bundesinnenminister zurück, der Generalbundesanwalt wurde aus dem Amt entfernt und die GSG 9 sollte aufgelöst werden. Es wurde sogar über die Justizministerin – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – nachgedacht. Für den Zeugen war die Situation verheerend. Deshalb konnte er seine Aussage nur sehr schwer wiederholen. Insbesondere dann, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – falsch war.
Sie behaupten, dass er unter dem Eindruck der politischen Ereignisse umgekippt ist…?
Nein... Ich glaube, dass der Informant etwas falsch gesehen hatte.
Da er Teil der Sicherheitsbehörden war, muss er doch gewusst haben, dass seine Angaben vor Gericht nur eingeschränkten Beweiswert hatten.
Ja, das wusste er. Die Staatsanwaltschaft hatte mir sogar empfohlen, einen Priester zu suchen, der nochmals mit ihm redet. Bad Kleinen war viel komplizierter als es sich im Nachhinein liest. Weil ich die Aussage eines Informanten überbewertet hatte, habe ich mich 1993 erstmals entschuldigt und mache das bis heute vor und nach jedem Jahrestag.
Würden Sie die Geschichte heute genauso schreiben?
Nein. Ich würde sie mit einem Fragezeichen versetzen. Ich würde die Aussage des Zeugen sehr viel kärger darstellen und die Schlussfolgerung einer Exekution so nicht mehr zulassen. Wahr ist aber auch, dass sich weder der Spiegel noch ich die Exekutions-These zu eigen gemacht haben. Wer die Titelgeschichte nachliest – und auch die dann folgenden Geschichten – wird das sehen können. Eine knappe erste Geschichte hätte es auch leichter gemacht, die vielen Merkwürdigkeiten dieses Falles – wie die verschwundenen Tatortspuren, das Organisationsversagen beim Einsatz – sauber aufzuarbeiten. Ich hatte keinen Spielraum mehr. Durch meine erste Geschichte hatte ich mir den selbst kaputt gemacht.
Vertreten Sie heute nach wie vor die Killerthese?
Ich habe sie mir, wie ich schon sagte, nie zu eigen gemacht. Anfangs habe ich sie vielleicht für möglich gehalten, dann aber für mich ausgeschlossen. Ich hatte sogar kein Recht mehr, nur darüber zu spekulieren, wie Bad Kleinen wirklich war.
Diese Spiegel-Story war der Nährstoff einer Legendenbildung.
Ja, in vielerlei Hinsicht. Es geht – auch das muss man feststellen – um die Überbewertung einer Aussage eines Informanten und um nichts anderes. Wie oft irren Informanten oder sagen die Unwahrheit? Journalisten waren nicht für den katastrophalen Einsatz in Bad Kleinen verantwortlich, sie haben keine Tatortspuren verwischt oder verschwinden lassen und ich zumindest habe auch all die Rücktritte, die erfolgt sind, nie gefordert. Und dennoch habe ich mich durch diese Geschichte schuldig gemacht. Es wäre nur gut, wenn Journalisten häufiger erklärten, was sie falsch gemacht haben.
Das müssen Sie erklären.
Schauen Sie sich doch die relativ frische Wulff-Berichterstattung an. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass viele Geschichten anders waren als von Journalisten behauptet worden ist. Wie reagieren denn die Medien? Sagen sie, diese oder jene Geschichte war falsch? Nein, viele behaupten weiter, es habe sich um journalistische Glanzleistungen gehandelt.
Vor einem Jahr ging der Henri-Nannen-Preis sowohl an die Bild-Zeitung für ihre Wulff-Recherchen als auch an die Süddeutsche für das Aufdecken der Formel-1-Affäre. Sie haben die Auszeichnung abgelehnt, weil Sie die Verdachtsberichterstattung….
…das hatte nur mit der Bild allgemein zu tun, wie das Blatt Leute fertigmacht. Ich will nur sagen: Im Fall Wulff gab es einen berechtigten Anfangsverdacht und dann war die Meute unterwegs. Wulff sollte noch fertiggemacht werden, als er längst fertig war und die Falsch-Berichterstattung war der Kollateralschaden.
Eine Lektion in Sachen Medienwirkung.
Die Lektion setzt voraus, dass Sie sich selbstkritisch sehen. Das stört mich so bei Wulff: Da behaupten Journalisten, im Zusammenhang mit dem Aufenthalt Wulffs in einem Sylter Hotel habe es im Zuge der Berichterstattung einen Vertuschungsversuch gegeben. Diese Behauptung war nicht unwesentlich für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens und sie war falsch. Wer entschuldigt sich dafür? Wer nicht selbstkritisch und ergebnisoffen ist, sollte keine Verdachtsberichterstattung machen.
Haben die beiden Filmautoren der ARD Sie eigentlich auch zu Bad Kleinen kontaktiert?
Ja, einer von beiden, Egmont Koch. Zu Bad Kleinen habe ich fast 40 Medienanfragen bekommen. Wissen Sie, seit 20 Jahren entschuldige ich mich für diese Sache. Und ich sage jungen Leuten: „Du kannst dir ziemlich sicher sein, dass deine Entschuldigung immer neue Entschuldigungen nach sich ziehen wird.“ Aber das ist okay. Entschuldigt Euch, wenn es sein muss. Ich glaube, dass wir uns für das, was wir tun, rechtfertigen müssen. Es wird uns nur nicht in der Weise honoriert, dass die Leute bravo rufen. Du bleibst weiter derjenige, der sich zu entschuldigen hat. Das war nach Bad Kleinen für mich so eine Grunderfahrung.
Hat der Spiegel das eigentlich je so aufgearbeitet wie Sie?
Nein. Ich weiß nicht, ob das auch möglich gewesen wäre. Ich habe es immer als mein Versagen gesehen. Ich hatte mit dem Informanten gesprochen und ich habe ihn falsch eingeschätzt. Aus Gründen des Quellenschutzes habe ich über die Recherche vor der ersten Geschichte nie gesprochen. Ich bekam beispielsweise das Gerücht mit, dass ich den Informanten angeblich nie getroffen hätte. Das Gerücht stimmte nicht, aber nicht dagegen zu halten, war der Preis für den Quellenschutz. Der unbedingte Schutz einer Quelle ist wichtiger als die journalistische Ehre. Mein Problem war auch, dass der Focus 1993 neu auf den Markt gekommen war. Es gab die Auffassung, das sei nur passiert, weil der Spiegel solche Panik vor der neuen Konkurrenz hatte. Schwachsinn.
War es das erste Mal, dass Sie publizistischen Druck spürten?
Nein, in der Flick-Affäre in den frühen achtziger Jahren gab es den auch schon. In einer Titelgeschichte nahmen wir vorweg, dass Otto Graf Lambsdorff angeklagt würde. Wenn er nicht angeklagt worden wäre, hätten der Spiegel-Chefredakteur und wohl auch ich als Leichtmatrose gehen müssen. Wenn ich mir heute so die normale Berichterstattung ansehe, die Affären und die Rechthaberei…
…letztere gibt es wohl immer noch. Solange es Menschen gibt.
Sie nimmt zu. Der Druck ist auch größer geworden, aber man muss dennoch seine Fehler nennen.
Herr Leyendecker, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führte Petra Sorge.
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