- Händler im Tempel des Herrn
Ein Sammelband beleuchtet Walter Benjamins Textfragment über den kapitalistischen Geist des Christentums
Sammelbände sind meist eine mühsame Lektüre. Hier aber liegt ein fabelhaftes und spannendes Exemplar dieser Spezies vor. Es will die Frage beantworten, wie das Christentum sich ohne Rückstände in den Kapitalismus pervertiert habe. Man liest mit ungetrübtem Vergnügen, und selbst Autoren, von denen man eher einen prätentiös-manierierten Stil gewöhnt ist, erfreuen nun durch Schnörkellosigkeit und Ernsthaftigkeit.
Dirk Baecker, Soziologe aus der Luhmann-Schule von der Universität Witten/Herdecke, hat das Kunststück fertig gebracht, alle Autoren darauf zu verpflichten, über ein Fragment von Walter Benjamin mit dem Titel «Kapitalismus als Religion» aus dem Jahr 1921 nachzudenken. Ein kleiner Haken dabei ist, dass dieses Fragment nie veröffentlicht wurde – man darf annehmen, dass Benjamin seine Gründe dafür hatte.
Kühl könnte man sagen, dass Benjamins These – der Kapitalismus entwickelte sich nicht zufällig im Christentum, sondern das Christentum ist Kapitalismus – nur dadurch eine starke wird, dass sie eine überspitzte und insofern falsche These ist. Sie unterschlägt die Widerspruchselemente der Mysterienreligion und der noch älteren prophetischen Religion, die dem Christentum immer innegewohnt haben. Wären wir alle Christen durch und durch, hätte Benjamin Recht, aber wir sind ja alle auch noch immer Heiden und Schamanen.
Warum ist der Kapitalismus so schwer umzubringen? Ganz simpel zunächst, weil jeder glaubt, reich sei besser als arm. Einen Großteil seiner Attraktion bezieht der Kapitalismus daraus, dass er sich als die Erfüllung der Naturreligionen, als ökonomische Fruchtbarkeits- und Vermehrungsreligion geriert und verkündet: Ich bin das absolute Wachstum. Benjamin irrt, wenn er behauptet, der Kapitalismus sei nur Kult, habe keine Dogmatik. Gerade das unbedingte Gesetz des Wachstums ist ein Dogma (und ein Wahn), und zwar das zentrale. Und die Rede von der freien Marktwirtschaft ist natürlich genauso eines, besser gesagt ein dogmatischer Popanz, denn die absolute Freiheit des Tauschs hat es nie gegeben.
Für Benjamin ist der Kapitalismus universaler Schuldzusammenhang, die Erlösung selbst ist zum Zahlungsmittel geworden bzw. zum zu Bezahlenden. Eine Religion ohne Erlösung ist jedoch kaum vorstellbar, und damit ist klar, dass Benjamin provozierend ein Zerrbild von Religion gezeichnet hat. Wir dürfen vermuten, dass er dies wusste; er zeichnete dieses Bild, weil er nicht «gerecht» sein wollte, weil er wütend war über die Zerstörung der jüdischen Seelen durch die Christen, die ihnen eine Laufbahn als Händler und Wucherer vorschrieben.
So feuerte Benjamin mit religiösem Furor diese Breitseite gegen die christliche Theologie und behauptete in Umkehrung der alten antisemitischen Tradition, die Judentum mit Geld und Kapitalismus gleichsetzte: Nein, das Christentum ist Kapitalismus und damit, vom jüdischen Messianismus her gesehen, ganz und gar unreligiös, Götzendienst.
Rudern in Subsystemen
Das Fragment nimmt insofern eine Schlüsselposition ein, als es
in die Zeit fällt, in der Benjamin einerseits seine jüdische
Identität sucht, andererseits zum «Linken» wird. Das legitimiert
Werner Hamachers Verfahren, in einer glänzenden Schuldgeschichte
diese messianischen Linien in spätere Schriften Benjamins
weiterzuführen. Inhaltlich sehr Benjamin-nah sind die Überlegungen
von Birger Priddat zu den Allegorien bürgerlicher Zivilreligion auf
Banknoten des 19. und 20. Jahrhunderts.
Anselm Haverkamp empfiehlt den weiten Blick des Thomismus, der
viele dieser Vorwürfe gegen das Christentum schon seinerzeit gelöst
hätte, wäre Thomas von Aquin nur stärker rezipiert worden.
Christoph Deutschmann wendet sich so nüchtern wie überzeugend einem
«wahren» Marxismus zu, der seine Stunde nach dem Abschied von der
Religion des Kapitalismus noch haben könnte. Ein Traum würde dann
wahr: «dass Geld nichts anderes sei als ein Tauschmittel zum Zweck
der Befriedigung der Bedürfnisse endlicher Menschen».
In der Einleitung skizziert Baecker das heutige Lebensgefühl: die Unberechenbarkeit der gegenwärtigen Situation, das Rudern in lauter Subsystemen ohne jede theoretische Distanz. Darin, so Baecker, überträfen wir sogar die Postmoderne, die das immerhin noch beklagte. Die Unkalkulierbarkeit der Schulden, die Irrationalität der Gesamtschuld tritt immer deutlicher zutage. Es gibt kein kapitalistisches Ethos mehr, die Einheit von Geist und Geld, die Max Weber noch vorschwebte, ist dahin.
Dies freilich wäre geradezu eine Bedingung für Benjamins Traum, dass sich der Gott Kapitalismus von sich selbst verabschiedet. Baeckers eigene Überlegungen sind da durchaus «anschlussfähig». Er hält eine «weltgesellschaftliche Religion» für möglich, die nicht wie die Fundamentalisten mit Inklusion und Exklusion arbeitet. Dass der Kapitalismus die Zertrümmerung des Seins leisten werde, daran glaubt keiner der Autoren so recht. Aber dass die Protestmacht von Religion niemals nur ein innerreligiöses Ereignis ist, darin sind sie sich einig.
Dirk Baecker
(Hg.)
Kapitalismus als Religion
Kadmos, Berlin 2003. 315 S., 22,50 €
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