- Gute Politik braucht Zeit – wie ein Gulasch
Wer die heutige Küche des Kurzgebratenen kennt, erwartet auch von der Politik Tempo. Dabei brauchen demokratische Entscheidungsprozesse Zeit, ebenso wie ein guter Schmorbraten oder ein Gulasch
Dass hohe Politik von feiner Küche begleitet wird, klingt wie eine Binsenweisheit. Die Grabbeigaben der Pharaonen, die Festmähler der Römer und die Bankette rund um den Wiener Kongress sprechen eine deutliche Sprache: Wo die Mächtigen zu ihren „Arbeitsessen“ aufeinandertreffen, wird serviert, was gut und teuer ist. Es liegt nahe, den Werken der Gipfelköche eine Macht zuzusprechen, die über die Zufriedenheit gefüllter Bäuche hinausgeht. Die Analyse der Menüs und ihrer Veränderungen kann wertvolle Hinweise auf die Gestaltung der Zukunft erbringen. Doch nicht nur die Haute Cuisine macht ihren Einfluss geltend. Gern wird übersehen, dass auch und gerade die Alltagsküche eine politische Dimension hat.[gallery:Schicksalstage einer Kanzlerin.]
Die Zubereitung des Essens ist der erste und darum vielleicht auch eindrücklichste Kontakt mit der Fertigung von Produkten, den bereits Kinder aufnehmen, noch bevor ihnen die ersten Zähne wachsen. Bloß zu beobachten, wie sich am heißen Herd ein Brei aus Mehl und Eiern in einen dampfenden Pfannkuchen verwandelt, erscheint zunächst wie praktische Magie, weckt aber auch Erwartungen an die Welt, die das ganze Leben prägen können – auch das politische Leben, versteht sich. Das gilt heute mehr noch als früher, da die Automatisierung die Menschen vom Produktionsprozess entfremdet hat. Allein in der Küche haben die meisten von ihnen noch Berührung mit dem Handwerk und seinen Utensilien.
Gerade in den vergangenen Jahren hat der Herd eine enorme Aufwertung erfahren – nicht nur als Brennpunkt der Wohnung, sondern auch als Statussymbol. Nirgends werden so teure Küchen gebaut und gekauft wie in Deutschland. Induktionsherde, polierte stählerne Oberflächen und blitzende Messer aus Solingen werden heutzutage nicht mehr im Dienstbotentrakt am Rande der Gemächer, sondern in großen Wohnküchen platziert und präsentiert. Trotzdem wird die leistungsfähige Dunstabzugshaube über der Kücheninsel nie lange in Betrieb genommen, und das hat nicht nur mit den allgegenwärtigen Fertiggerichten zu tun.
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Die Ära von Hausfrauen und Domestiken, deren Tage mit der Vorbereitung von Mahlzeiten ausgefüllt waren, gehört der Vergangenheit an, genauso wie Großfamilien und Haushalte mit zweistelliger Kopfzahl. Wer heute zu Hause kocht, bereitet nach der Arbeit nicht selten höchstens ein Dinner für zwei zu, wenn nicht unterwegs schon etwas eingenommen wurde. Es muss schnell gehen in der Küche von heute. Die Gerichte vergangener Generationen sind passé: Schmorbraten, Gulasch oder eine Lammkeule erfordern eine Geduld, die aus der Mode gekommen ist. Stattdessen werden Fleisch und Fisch kurzerhand in die Pfanne geworfen und à la minute gebraten, während die Beilagen in der Mikrowelle rotieren. Rezepte leiten sich naturgemäß nicht aus der Familientradition her, sondern speisen sich aus anderen Quellen.[gallery:Schicksalstage einer Kanzlerin.]
Bistro- und Restaurantküchen mit ihren Tellergerichten liefern die Vorbilder, die das Kochen „wie bei Muttern“ verdrängt haben. Nicht zuletzt deshalb sind Spitzenköche inzwischen zu Fernsehstars geworden. Ihre Meisterschaft beweisen sie in einer Geschwindigkeit, die den Gesetzen der Fernsehunterhaltung Rechnung trägt. Es werden sogar Wettbewerbe abgehalten, bei denen gegen die Uhr gekocht wird. Unter solchen Bedingungen hat etwas Langwieriges wie ein Krustenbraten keine Chance.
Auf diesem Weg verliert die Gesellschaft die Erfahrung mit Prozessen, die sich gemächlich vollziehen. Demokratische Entscheidungen brauchen Zeit wie Schmorgerichte: So wie sich der Geschmack etwa bei einem Gulasch in stundenlangem Köcheln über die ganze Breite seiner Soße ausdehnt, vollzieht sich auch die parlamentarische Gesetzgebung. Wer allerdings nur noch die Ad-hoc-Küche mit ihren hohen Temperaturen kennt, erwartet auch von der Politik Tempo. Dass auf diese Weise jeden Tag etwas Neues auf den Teller kommt, das nie restlos befriedigt, enttäuscht allerdings. Denn am Ende des Jahres will doch jeder seine Weihnachtsgans serviert bekommen, oder wenigstens einen falschen Hasen …
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