- Gegen den Idealismus der Asketen
Champagner, Zigaretten, Sex? Nicht mehr zeitgemäß! Robert Pfaller analysiert, warum wir Genuss und Ritual durch Fitness und Sicherheit ersetzt haben
Wenn der
Literaturnobelpreisträger Dario Fo als Kind neben seiner Mutter
durch die Stadt spazierte, kam es vor, dass diese ihn anherrschte:
«Bohr nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!» Im Italien der
1930er Jahre mag ein derart autoritärer Ton, gepaart mit einem
nicht emanzipierten Frauenbild, ganz dem pädagogischen Konsens
entsprochen haben. Nach Achtundsechzig ruft dergleichen nur noch
verständnisloses Kopfschütteln hervor. Für Robert Pfaller indes
sind die Worte der Signora Fo, die er im ersten Kapitel seines
Buches «Wofür es sich zu leben lohnt» zitiert, von exemplarischer
Aktualität.
Der psychoanalytisch geschulte Wiener Kulturwissenschaftler liest
die mütterliche Benimm-Order als antinarzisstischen Befehl, der
Sohn möge seine autoerotische Verkapselung aufbrechen und sich
ich-fremden Quellen der Lust zuwenden. Und was damals für den
Jungen galt, empfiehlt Pfaller auch der westlichen Zivilisation von
heute. Auch unsere Zeit, so seine Diagnose, stehe im Zeichen eines
krankhaft aufgeblähten Ichs. Während allerdings der kleine Dario
jenen primären Narzissmus durchlitt, der mit den Psychoanalytikern
Sigmund Freud und Jacques Lacan als Kinderkrankheit schlechthin zu
veranschlagen ist, werden dem postmodern-neoliberalen Mainstream
die Symptome einer fatalen Regression attestiert. «Eine ganze, im
Narzissmus gefangene Gegenwartskultur» habe sich
Selbstverwirklichung und Individualität auf die Fahnen geschrieben,
das allgemeine Lebensgefühl sei durchtränkt von
Authentizitätsromantik, der Sorge um persönliche Gesundheit und
Sicherheit.
Im Gegenzug werde alles Unbekannte, Außerordentliche und Schädliche
abgewehrt: Wir vermeintlichen Hedonisten sitzen in Kneipen ohne
Rauch, essen Käse ohne Fett. Alkohol ist in der öffentlichen
Debatte ähnlich tragisch besetzt wie Sex. Man schmeichelt sich mit
dem Selbstbild des emanzipierten Individualisten, meidet aber
ängstlich jedes Zwielicht und Risiko. Statt mit frivoler Raffinesse
nähern sich die Geschlechter einander nach dem aseptischen
Zeremoniell der political correctness, dafür müssen die Gürtel nun
in unwürdigen Kontrollprozeduren an Flughäfen abgeschnallt
werden.
Ungute Genüsse
Polemisch und scharfsichtig knüpft Pfaller mit diesem Befund an jene bemerkenswerten Gedanken an, die er in seinem vor drei Jahren erschienenen Buch «Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft» vertreten hat. Er bezieht sich auch diesmal auf Kants Lehre vom Erhabenen und den vom Ethnologen Michel Leiris geprägten Begriff des «Alltagsheiligen». Seine zentrale These: Genuss, Leidenschaft und Lebensfreude sind in fundamentaler Weise an eben jene Aspekte geknüpft, die wir als ungut, widerständig und ich-fremd wahrnehmen.
Bei all den
kleineren oder größeren Unterbrechungen unseres Alltags – ob nun
der Zigarettenpause mit dem Arbeitskollegen oder dem Geburtstag,
der mit Champagner begossen wird – ist stets etwas Widersinniges,
Ungesundes oder Verschwenderisches ausschlaggebend, das erst durch
ein kulturelles Ritual in ein triumphales Lustgefühl verwandelt
werden muss. Nur lassen wir aus lauter narzisstischer Selbstsorge
heute das befreiende, nahezu magische Potential dieser negativen
Elemente brach liegen.
Einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel datiert Pfaller auf die
Mitte der neunziger Jahre. Damals habe die Entwicklung eingesetzt,
die unsere schönsten Genüsse zu den größten Ärgernissen werden
ließ. Während frühere Generationen der sublimen Eleganz lasziver
Hollywood-Diven oder der glamourösen Coolness eines Steve McQueen
huldigten, dulden wir neben unserem schnöden Ego nur noch
«asketische Ideale» wie Rauchfreiheit und Fitnesskult.
Täuschung ohne Getäuschte
Auf glänzende Weise macht der Autor seine Pointe von der
ich-libidinös motivierten Lustfeindlichkeit unserer Zeit plausibel
– und dies, obwohl seine Mischung aus psychoanalytischer
Gesellschaftsdiagnose und feurigem Appell bisweilen zur
Exaltiertheit neigt. Der unkonventionelle Charme dieser
Kulturkritik speist sich aus der dandyhaften Exaltiertheit, mit der
sie vorgetragen wird. Im Anschluss an den Soziologen Richard
Sennett beschreibt Pfaller, wie man in nicht-narzisstischer Vorzeit
sein Vergnügen nicht im beschränkten Kosmos des Selbst, sondern im
öffentlichen Kollektiv suchte. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge
inszenierte man sich anderen gegenüber und spielte eine Rolle,
obgleich sich alle der Illusion bewusst waren.
In dieser Täuschung ohne Getäuschte, dem zivilisatorischen «Als
ob», sieht Pfaller das «allgemeine Lustprinzip in der Kultur». Er
findet es in sämtlichen kulturell überformten Genüssen: im Kino,
Theater, der Malerei sowie in den Ritualen der Höflichkeit und des
eleganten Auftritts. Auch die Mutter Dario Fos wollte ihren kleinen
Sohn in dieses Gesellschaftsspiel einweihen, als sie ihn
aufforderte, die Damenwelt so zu beachten, als ob er bereits
erwachsen sei. Solange uns dieser Blick fehlt, bleiben wir
befangene Kinder.
Robert Pfaller
Wofür es sich zu leben lohnt.
Elemente materialistischer Philosophie
S. Fischer, Frankfurt a.M. 2011.
306 S., 20,95 € (Erscheint am 10. März)
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