- Es gibt sie eben doch, diese Gesellschaft
Die Ichlinge verdammen den Staat, weil er ihrem Egoismus eine Grenze setzt. Eine Gegenrede zur Freiheits-These von Alexander Kissler – und ein Plädoyer
Arme, geschundene Freiheit, wofür sie alles herhalten muss. Neulich, als der SPD-Chef Sigmar Gabriel Tempo 120 auf deutschen Autobahnen forderte, da wurde sie wieder ausgiebig missbraucht, die unschuldige Freiheit. Ein Angriff auf – jawohl! – die Freiheit sei das gewesen, auf die Freiheit des Autofahrers, die in Deutschland offenbar eine besonders hoch anzusiedelnde Freiheit ist, den einen oder anderen Verkehrstoten wert und höhere Emissionen sowieso. Zahlt ja der Raser im Namen der Freiheit, einerseits als Tankfüllung, manchmal mit dem eigenen Leben. Aber es ist schließlich sein Leben, oder?
Wo das Ich angeblich bevormundet wird, da strebt es meistens in Wahrheit danach, sich – Vorsicht, jetzt kommt ein ganz schreckliches Wort für alle Kämpfer für die totale Freiheit – dem Solidarsystem zu entziehen; es geht um die Freiheit der Ichlinge. Die Flucht aus dem Solidarsystem haben übrigens prompt alle jungen, gesunden Ichlinge vollzogen, als die privaten Krankenkassen eingerichtet wurden: War billiger und versprach eine bessere Versorgung. Inzwischen sind die einst jungen, gesunden Ichlinge alt und siech geworden und mit ihnen das unsolidarische Privatversicherungswesen. Jetzt stöhnen viele Gesundheits-Ichlinge und wollen zurück ins System. Ich habe da wenig Mitgefühl. Das ist die Folge der Freiheit der Ichlinge. Franz Müntefering hat das Freiheitsversprechen des Neoliberalismus so persifliert: Jeder denkt an sich, dann ist an alle gedacht.
Genau so geht es eben nicht in einer intakten Gesellschaft. Da irrte schon Adam Smith mit seiner wunderlichen unsichtbaren Hand: Wenn jeder tut, was für sein Geschäft gut ist, entsteht daraus eben kein Gemeinwohl. Es gibt sie nicht, diese unsichtbare Hand, die aus Versehen Gutes tut. Es gibt nur eine sichtbare. Und die heißt Gesellschaft, die heißt Staat.
Ichlinge haben ein seltsames Staatsverständnis. Der Staat ist aus ihrer Sicht ein fettes, gemästetes, gefräßiges Etwas, das den Menschen das Mark aus den Knochen saugt. Kein Über-Ich, sondern ein Über-Wir, ein Moloch, der nichts mit den Bewohnern des definierten Raumes zu tun hat. Das ist ein Zerrbild vom Staat. Natürlich gibt es Auswüchse. Natürlich krankt etwa Frankreich an seiner Staatsquote von fast 60 Prozent. Aber der Staat an sich ist kein zu bekämpfendes Ungeheuer. Der Staat sind wir, der Staat bin ich: In einer Demokratie darf der Citoyen zu Recht sagen, was einst der König für sich reklamierte.
Wenn der Mensch perfekt wäre, dann könnte man gerne über die Herrschaft der Freiheit nachdenken. Wenn jeder Mensch die Kant’sche Einsicht in sich trüge und auch beherzigte, dass man stets so handle, dass die Maxime des eigenen Handelns zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden könnte, dann ließe ich mit mir über die Herrschaft der totalen individuellen Freiheit reden. Dem ist aber nicht so. Da können wir unseren Kindern noch so oft und noch so richtigerweise die Kindervariante von Kant vorbeten: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.
Wir werden uns nicht daran halten, zumindest nicht durchgängig. Deshalb braucht es einen Staat, deshalb braucht es eine Definition des Wir, auf das sich die große Mehrheit eines Gemeinwesens verständigt. Dafür hat der liebe Gott übrigens den Juden und Christen die Zehn Gebote gegeben. Du sollst dies nicht, du sollst das nicht, sagt darin der liebe Gott. Es muss sich bei diesem Gott auch um einen schlimmen Freiheitsfeind und Etatisten handeln.
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