- Tragen Sie Ihr E-Book mit Stolz!
Müssen wir Bücher, um sie zu retten, zum Fetisch erheben? Von heute zu sein, ist etwas, was unsere Zeit von uns verlangen darf
Liebe Unbekannte! Gestern saßen wir in der Berliner U-Bahn nebeneinander. Sie sind ein Fräulein von Geist, das habe ich sofort gesehen. An ihrem zart zerrupften Outfit und daran, dass Sie etwas auf dem Schoß trugen und darin lasen. Es war ein Kindle. Und diesen Kindle hatten Sie in eine Hülle gesteckt, die ihn aussehen ließ wie ein altes, abgeschabtes Buch aus der Bibliothek Ihrer Großmutter. Da dachte ich mir gleich: Wie uncool ist das denn?
Ich habe im Internet nachgesehen. Die Hüllen für den Kindle werden mit dem Slogan angepriesen: „Verstärkt den Buchcharakter!“ Aber warum wollen Sie, liebe Unbekannte, den Buchcharakter Ihres Kindle verstärken? Er ist ja gar kein Buch. Er enthält auch keine Bücher in elektronischer Form, sondern Texte. Und diese Texte brauchen die Buchform nicht. Sie brauchen kein vorgetäuschtes Umblättern mit Raschelsound. Sie brauchen nicht einmal das Hochformat in der Darstellung. Man hätte sich für das E-Book etwas völlig Neues ausdenken können, etwas nie Dagewesenes. Etwas Ball- oder Bohnenförmiges, etwas Leuchtendes, Singendes, Schwebendes, Tanzendes. Schade nur, dass unsere Gesellschaft nichts Neues will und nur das Alte für Kultur hält.
Als Übersetzer lebe ich von Büchern. Und ich liebe Bücher, auch alte. Ich liebe zum Beispiel die Umschläge der ersten paar Hundert Rororo-Taschenbücher, die Gisela Pferdmenges und Karl Gröning jr. gezeichnet und getuscht haben. Das waren die fünfziger Jahre! Die Bundesrepublik war jung und gönnte sich immer mal wieder einen kleinen exotischen Schwips. Die bunten Buchumschläge brachten diese Haltung in eine ideale Form. Jeder Band sah anders aus, jeder Buchstabe war handgemalt: Spieltrieb aus dem Kinderzimmer, Grazie und Könnerschaft in schöner Balance.
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Diese alten Rororo-Taschenbücher schenken mir ein seltsames Heimatgefühl. Ich sehe sie mir gern an, ich halte sie gern in der Hand, und ich rieche gern an ihnen. Da mufft es so lieblich! Aber gleichzeitig bin ich froh, dass ich nicht in den fünfziger Jahren leben muss. Nostalgie ist nämlich eine eher verlogene Angelegenheit. Und der Gedanke, der heute so modern ist, dass wir nämlich die Bücher in einer neuen Nostalgiewelle zum Fetisch erheben müssen, um sie zu „retten“, will mir einfach nicht in den Kopf. Egal – die Retro-Kulturtechnik des Bücherlesens wird mir heute so penetrant angepriesen wie früher als Kind der Spinat. Wobei man in den Stimmen der Gouvernanten vom Buchmarketing immer die Angst mitschwingen hört. Wenn heute nicht noch mindestens drei Bücher über die Ladentheke gehen, so rufen sie, wird Deutschland endgültig verdummen! Und schon rennen wir schuldbewusst in die Buchhandlung (wo uns die Buchhändler vor lauter Doofheit Kant ins Esoterikregal gestellt haben).
Der ganze Kulturkonservativismus wird mir langsam widerlich – diese ständige Behauptung, dass alles Wahre, Gute, Schöne von gestern zu sein hat, während heute das Internet droht und Twitter uns alle zu lallenden Idioten macht. Ach, wie die alten Kulturkämpfer da in ihren selbst gebuddelten Schützengräben hocken und auf die Horden der verblödeten Jugend von heute warten, das ist wirklich ein lächerlicher Anblick. Ich würde mich viel lieber an dem freuen, was die Zukunft bringt. Ich würde zum Beispiel zu gerne wissen, wie „Finnegans Wake“ aussehen würde, wenn Joyce das Glück gehabt hätte, das Werk als App für das iPad anzulegen. Wie viele Ebenen sich da noch hätten hinzufügen lassen, wie viele Brüche! Was für ein wilder Ritt das hätte werden können, was für ein Tanz!
In Deutschland wird natürlich nicht getanzt. Hier bleibt die Zukunft eine Angstpartie, und die Fräuleins von Geist tragen Rüschen und ziehen sich beim U-Bahn-Fahren ganz in ihre innere Droschke zurück. Ich aber sage: Tragen Sie Ihren Kindle mit Stolz, liebe Unbekannte! Es ist ja nicht Ihre Schuld, dass er nicht zeitgemäß aussieht. Schämen Sie sich seiner nicht! Und denken Sie immer daran: Von heute zu sein – das ist etwas, was unsere Zeit von uns verlangen darf.
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