- Kamelle für Kind und Kobold
Kolumne Stadt, Land, Flucht. Der Küchentisch ist Schauplatz eines verunsicherten Balanceaktes. Zwischen Gummibärchen und Gemüse versuchen Eltern, ihren Kindern maßvolles Essverhalten beizubringen. Da kann schonmal Pumuckl zur Projektionsfläche werden
Sehr selbstbewusst hievt sie den riesigen Schulranzen auf die schmächtigen Schultern. Dann stapft sie los. Es ist ein Moment von vielen, an denen ich sie anschaue und denke: Jetzt wird sie echt groß. Ich merke es auch daran, dass sie beginnt, ihren Körper anders wahrzunehmen. Vorbei die Zeiten, in denen sie den Rücken durchdrückte, den Po nach hinten schob und mit großer Zufriedenheit ihren „dicken Bauch“ pries. Plötzlich tauchen neue Parameter auf: Schön ist, wer dünn ist. Im Spiel wollen die Freundinnen jetzt jene verkörpern, die schlank sind. Dick ist irgendwie doof.
Millionen Eltern in unserem wohlstandsverwöhnten Land endloser Konsumoptionen versuchen sich täglich an diesem Spagat: Wir wollen selbstbewusste und selbstbestimmte Kinder heranziehen und laufen zur gleichen Zeit Gefahr, sie mit Regeln und Sorgen zu überfrachten. Sichtbar wird dieser Tanz auf Messers Schneide am Küchentisch, wo wir zwischen Pommes und Gummibärchen auf der einen und einem maßvollen Essverhalten mit Gemüse auf der anderen Seite hin und her rudern. Wo wir Eltern am Abend eine Tafel Schokolade verzehren, während wir noch am Nachmittag zwei abgezählte Stückchen in patschige Kinderpfoten legten.
Pumuckels Kugelbauch soll weg
Dann und wann kocht diese schizophrene Gemütslage hoch. Letztes Beispiel: Ein dicker Kobold, von allen geliebt, der plötzlich verschlankt wurde. Dem Münchner Pumuckl verpasste man zum 95. Geburtstag seiner Erfinderin Ellis Kaut nach Jahrzehnten des Kugelbauchs eine sportliche Figur. Dieser fehlende Bauch führte uns einmal mehr vor Augen, was beunruhigte Eltern sowieso durch aktuelle Nachrichten umtreibt: In der Region Berlin-Brandenburg etwa waren im vergangenen Jahr „50 Prozent mehr Teenager zwischen 13 und 18 Jahren wegen Magersucht, Bulimie oder Esssucht in Behandlung als fünf Jahre zuvor“. Das meldet die Krankenversicherung Barmer GEK. Nancy Zucker vom Duke University Medical Center in North Carolina untersuchte das Essverhalten von über 900 Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren und konstatiert: 18 Prozent der Kinder seien „mäßig“, drei Prozent „schwerwiegend“ wählerisch. Das kann zu körperlichen, vor allem aber seelischen Problemen bis hin zu Depressionen und Angststörungen führen.
Währenddessen kritisierte in der vergangenen Woche die Verbraucherorganisation Foodwatch, dass der sogenannte EU Pledge von 2007 bis heute keine Wirkung zeige.
#bringbackbäuchlein
Weltweit führende Lebensmittelunternehmen hatten sich selbst dazu verpflichtet, Kinderwerbung für ungesunden Kram deutlich zu drosseln. Aber noch immer wirbt Nestlé mit Smartieseis und Kakaoflakes, Ferrero mit Überraschungseiern und Coca Cola mit Limonade, während kein einziges gesundes Produkt dieser Firmen seinen Weg in die Reklame – und damit in die Köpfe und Bäuche der Kinder – findet. Derweil steigen weltweit die Fallzahlen von Übergewicht, Adipositas und chronischen Krankheiten wie Diabetes Typ 2 an. Eltern sind wachsam, besorgt und verunsichert.
Und so richten sich Angst, Wut und Unwillen mit Blick auf Pumuckls verschwundene Plauze in den Attacken gegen den Kosmos-Verlag. Wütende Mails und ein digitaler Aufschrei unter dem Hashtag #bringbackbäuchlein verursachten ein PR-Desaster. Dann ruderte der Verlag zurück und gab Pumuckl seinen dicken schönen Kinderbauch zurück.
Und auf den Shitstorm folgte ein Candystorm. Da kennen wir kein Maß.
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