- Eine Nation verblödet
Kein Wunder, dass die Kanzlerin per SMS kommuniziert. Ihr Online-Regieren ist ein Reflex auf eine Online-Öffentlichkeit. Ob durch Fernsehen oder Internet: Unsere Gesellschaft lebt im Rhythmus von Livetickern und Talkshowdramen. Doch der permanente mediale Ausnahmezustand könnte fatale Konsequenzen haben
Andy Warhol sagte einst in einer Art postdadaistischen Anfalls: „Ich glaube, dass jeder eine Maschine sein sollte.“ Trotz aller Fortschritte: So weit sind wir noch nicht. Aber die jüngsten Entwicklungen der globalen Mediengesellschaft zeigen, dass dieser utopische Endpunkt nicht jenseits aller Vorstellungskraft liegt.
Eine Art künstliches Weltgehirn namens Google gibt es ja schon. Die Idee, dass ein im Gehirn eingepflanzter Minichip automatisch jede Frage beantworten könnte, die sich irgendwo in den grauen Zellen regt, haben führende Google-Manager auf der Agenda. Noch aber laufen Millionen Menschen mit altertümlichen Stöpseln im Ohr und Kabeln am Oberkörper herum, während sie ihr iPhone bedienen, das ihnen den Weg zum nächsten Pizzarestaurant weist. Und jeder kennt die alltäglichen Szenen, in denen mehrere Menschen gemeinsam am Tisch sitzen und alle wie gebannt auf ihre Smartphones starren. Der Mensch als Anhängsel der Maschine, an der Leine – online.
„Wir sind nicht die Kunden von Google“, schreibt der amerikanische Medienwissenschaftler Siva Vaidhyanathan in seinem aktuellen Buch „The Googlization of Everything“, „wir sind sein Produkt.“ Doch so weit muss man nicht einmal gehen, um sich die Frage zu stellen, was eigentlich mit uns geschieht, während wir bei jeder Gelegenheit googeln, twittern, simsen, tickern, downloaden, forwarden, bloggen, glotzen oder talken.
Verblöden wir allmählich? Was macht die immer rasanter werdende virtuelle Echtzeitkommunikation mit unserem echten Leben? Wie verändert unser pausenloser Medienkonsum unsere Gesellschaft? Im Jargon der Therapieszene: Was macht das alles mit uns?
Die älteren Zeitgenossen werden sich noch an das Kursbuch erinnern, jene legendäre Zeitschrift, die über viele Jahre den Zeitgeist der Neuen Linken destillierte. Geradezu idealtypisch verkörperte sie den windungsreichen Gang der 68er-Revolte. Gäbe es das alte Kursbuch heute noch, so säßen seine Leser allerdings nicht mehr schmökernd im Café, sondern irgendwo vor ihrem Laptop, iPhone oder iPad. Denn klar, auch das Kursbuch hätte sich dem digitalen Trend der Zeit nicht verschließen können. Man stelle sich vor, es hätte schon 1968 statt selbst gedruckten Flugblättern einen Liveticker gegeben, etwa beim Vietnamkongress in Berlin.
Kursbuch online hätte Videos von Napalmbombenangriffen auf Vietnam ins Netz gestellt, einen Blog von Dieter Kunzelmann namens „Orgasmusschwierigkeiten machen uns nicht kaputt!“ und eine tägliche Zusammenfassung der TV-Show „Kommune 1 intim“ mit Rainer Langhans und Fritz Teufel, unter dem Titel „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient …“
1968 online wäre ein großer Medienhype gewesen – aber gewiss
nicht jener Mythos, der die deutsche Nachkriegsgeschichte geprägt
hat. Denn vor lauter Up-to-date-Sein hätte einfach kein Mensch Zeit
gehabt, von einer Revolution zu träumen. Heute ist das egal.
Revolution machen sowieso die anderen. In Tunesien, Ägypten,
Libyen, Syrien – und wir sind live dabei.
Der revolutionäre „Liveticker“ ist die Innovation des Jahres 2011,
das Minutenprotokoll einer virtuellen Zeitgenossenschaft, bei der
man auch mit gut gefülltem Rotweinglas und einem ausreichenden
Vorrat an Käsestangen immer mittendrin ist im Horror und Wahnsinn
des Geschehens. Der Liveticker, für den sämtliche
Informationsquellen, ob Nachrichtenagenturen oder anonyme
Twitter-Meldungen, nach verwertbaren Neuigkeiten durchforstet
werden, ist zugleich die vorerst letzte Errungenschaft einer
Entwicklung, die bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist und
uns noch enger an die große Kommunikationsmaschine bindet: die
unerhörte Beschleunigung aller weltweit verfügbaren Informationen.
Nicht nur die Medien selbst und ihren Gebrauch hat die neue
Informationsgeschwindigkeit massiv verändert, sondern auch die
Struktur der demokratischen Öffentlichkeit. Was auf der einen Seite
als Möglichkeit erscheint, einen freien, beinah grenzenlosen
Austausch in der globalen res publica herzustellen, birgt
andererseits Risiken und durchaus gefährliche Tendenzen für
Gesellschaften wie der unsrigen. Die politischen Prozesse der
Meinungsbildung und der Entscheidungsfindung haben sich
tiefgreifend verändert. Die Halbwertzeit von Überzeugungen,
Stimmungen und politischen Konstellationen reduziert sich
stündlich. Selbst so populäre Minister wie zu Guttenberg werden,
gestürzt von Internetaktivisten, heute so schnell und umstandslos
ausgewechselt wie Viva-Moderatorinnen oder Trainer in der
Fußballbundesliga.
Dabei fällt zunächst ein Paradox ins Auge. Jürgen Habermas hatte noch zu Beginn der sechziger Jahre den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ als eine Entpolitisierung der Gesellschaft beschrieben, in der der Wähler zum Verbraucher wurde. Heute hingegen ließe sich geradezu von einer Überpolitisierung sprechen, die zuweilen überhitzte, ja hysterische Züge trägt. Täglich, ja beinahe stündlich findet der sprichwörtlich gewordene „Wutbürger“ neuen Stoff für seine schwankende, hoch mobile Empörungsbereitschaft. Eine Waffenruhe gibt es in der Mediengesellschaft nicht mehr, keine Feuerpause zwischen Montags- und Dienstagszeitung, zwischen Frühstücksfernsehen und Mittagsmagazin. Dass die Welt schlecht, böse, gefährlich und weitestgehend wahnsinnig ist, erfahren wir inzwischen im Minutentakt. Unentwegt spucken die digitalen Stalinorgeln ihre „Breaking News“ aus.
Die unheilige Trias aus Dramatisierung, Skandalisierung und Emotionalisierung setzt dabei auf die Produktion einer möglichst großen Menge an Affekten. Egal ob Angst oder Hoffnung, Wut oder Sehnsucht, Hass oder Liebe – Hauptsache, die Amplitude auf der nach oben offenen Erregungsskala stimuliert den Finger an der Klickmaus. Dabei ist es prinzipiell gleichgültig, ob es um den Scheidungskrieg eines Schlagerstars geht, den Hunger in Somalia oder den Hype um die „Schoßgebete“ eines Fernsehsternchens, das selbstoffenbarend durch die Talkshows tingelt.
Aber halt: Eigentlich guckt ja niemand mehr Fernsehen. Wen man auch fragt, stets kommt die Antwort: Ich schaue nur noch brandneue amerikanische Serien auf DVD, im Originalton versteht sich. Wenn ich krank im Bett liege, vielleicht auch mal den „Tatort“. Ab und an auch Arte. Aber sonst?
Die einen haben ihr Fernsehgerät schlicht abgeschafft, die anderen verstecken es hinter einem schicken Paravent. Vielbeschäftigte Leute behaupten, sie hätten einfach keine Zeit, Fernsehen zu schauen, und die jungen Leute strömen sowieso lieber zu Facebook-Partys. Bleiben die Alten, ob zu Hause oder im Seniorenheim, vor allem am Samstagabend, wenn Volksmusik und Brachialhumor den Bildschirm fluten.
Fernsehen ist, so scheint es, out, uncool, vorgestrig. Doch seltsam: Im Jahr 2010 stieg der empirisch ermittelte Fernsehkonsum der Deutschen auf einen noch nie da gewesenen Rekordwert: 223 Minuten täglich, also beinah vier Stunden, saß jeder Bundesbürger im statistischen Durchschnitt vor dem Bildschirm, wobei die sogenannte „Unterschicht“ am längsten dranbleibt, die „Oberschicht“ dagegen am kürzesten. Das zäheste Sitzfleisch bewiesen die Landsleute in Sachsen-Anhalt (276 Minuten), am wenigsten hielt es Hessen und Bayern (199 Minuten) vor dem Gerät.
Irgendetwas stimmt hier also nicht. Es ist ein bisschen so wie mit McDonalds oder Pornofilmen: Die Branche boomt, aber keiner will’s gewesen sein. Selbst jene politischen Talkshows, die überwiegend Hohn und Spott ernten, weisen stolze Einschaltquoten auf, und wer genau jene 15 Millionen Menschen sind, die am Samstagabend „Wetten dass …?“ oder den „Musikantenstadl“ einschalten, bleibt ein soziologisches Rätsel.
Ist dieser Widerspruch nur Ausdruck einer ganz normalen Schizophrenie der bigotten deutschen Jammerkultur? Oder hat Hans Magnus Enzensberger recht, der schon vor mehr als zwei Jahrzehnten das Fernsehen als „Nullmedium“ beschrieb, als „buddhistische Maschine“, deren unbestreitbar therapeutischer Wirkung sich die Zuschauer intuitiv und bauernschlau bedienten? Gerade in der austauschbaren Inhaltslosigkeit, in der Befreiung von jedem konkreten Sinn liege die Faszination des Nullmediums, so Enzensberger. Die „extremste Zerstreuung“ schlage hier in „hypnotische Versenkung“ um, in eine gleichsam „transzendentale Meditation“, eine „Annäherung an das Nirwana“. Wären also deshalb schon „alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos“, wie Enzensberger meinte?
Nicht wirklich, auch wenn die gängigen Manipulations- und Verblödungstheorien über das Massenmedium Fernsehen, denen zufolge der verblendete Zuschauer beinah beliebig beeinflussbar sei, viel zu grobschlächtig sind, um die Wirklichkeit zu treffen. Denn längst switchen, zappen und surfen die Zuschauer nicht nur zwischen Dutzenden Sendern hin und her, sondern auch zwischen unterschiedlichen Medien, ob Fernsehen, Internet, social media, Radio oder Print. Sie basteln ihre Vorstellung von Wirklichkeit aus passenden und unpassenden Fragmenten zusammen. In diesem eklektischen Reich einer überwältigenden Informationsflut wird am Ende fast gar nichts mehr geglaubt. Der Medienkonsument ist ideologisch nicht formbar, die Idee eines propagandistischen Volksempfängers bleibt nur eine ferne, böse Erinnerung.
Gleichwohl ist sie unbestreitbar, die mal offenkundige, mal unterschwellige Tendenz zur Verblödung, zur systematischen Unterforderung der menschlichen Sinne. Gerade die Zuschauer, die sich nicht den üblichen kulturpessimistischen Ressentiments vom Untergang des Abendlands hingeben und bekennen, dass sie manchmal gerne fernsehen, packt immer wieder das pure Grausen. Permanent, so scheint es, laufen süßlich-seichte Fernsehfilme im Ersten, in denen meist Christine Neubauer („Die Schokoladenkönigin“, „Ein Sommer auf Sylt“, „Moppel-Ich“) mit aufgerissenen Augen über ferne Strände oder durch nahe Wälder läuft, auf der Suche nach dem Mann oder der Diät fürs Leben. Wer die Krimikonfektionsware nicht mag und „Aktenzeichen XY“ partout nicht erträgt, der zappt sich durch die dritten Programme, Arte, 3Sat und das Privatfernsehen wie ein Verdurstender.
Natürlich gibt es sie, jene unverhofften Glücksmomente des
Fernsehens. Zu ihnen zählen das segensreiche Wirken von Harald
Schmidt, der jetzt auf Sat.1 einen Neustart versucht, intelligente
Comedy-Serien wie „Stromberg“, Dokumentationsreihen wie „Unsere
fünfziger Jahre“, historische Porträts, herausragende Reportagen,
Tier- und Naturfilme, aber auch staunenswerte Fernsehfilme wie
„Silberhochzeit“ von Matti Geschonneck. Diese seltenen Augenblicke
vermitteln eine Ahnung davon, wie gutes Fernsehen aussehen
könnte.
Ansonsten bleibt es dabei: Der Trend zur besinnungslosen
Verramschung der letzten Bildungsreste hält an. Offiziell wird er
als „attraktives Programmangebot“ verkauft. So steht der Boom der
populären Quiz- und „Wissens“-Sendungen in direkter Korrelation mit
der Simplifizierung der Programminhalte. Schon Sendetitel wie
„Rette die Million“, Jörg Pilawas Flaggschiff im ZDF, atmen eine
semantische Verkommenheit, die mit keinem noch so guten Zweck zu
heiligen ist.
Eine „Sklerotisierung des Programms“ nannte dies schon vor Jahren der Kölner Medienexperte Dietrich Leder. „Standardisierung“ und „Formatisierung“ hätten Ideenreichtum und Risikofreude ersetzt, sagt er. „Prominenz und Megathema“ seien neben der alles beherrschenden Quote zu Leitbegriffen der Programmmacher geworden.
as gilt auch für die Flut von Talkshows, die im Ersten nun gar kein Ende mehr nehmen will. Von Sonntagabend („Günther Jauch“) bis Donnerstagabend („Beckmann“) wird gnadenlos durchgeredet. Längst geht es dabei kaum noch um konkrete Probleme und deren Lösungen. Vielmehr handelt es sich bei diesen Sendungen um eine Mischung aus psychosozialer Betreuung und seelischer Zerstreuung. Die Talkshows sind Messstationen des sozialen Grundrauschens, emotionale Seismografen eines diffusen nationalen Gesprächs, das sich selbst genügt. Sie inszenieren ein Wechselbad der Gefühle, peitschen die Erregungskurve hoch, aber bieten nach all ihrem Alarmismus immer auch ein bisschen Entspannung und Ayurveda. Gerade noch standen Deutschland, der Euro und der Rest der Welt am Abgrund, doch schon anderthalb Stunden später ist wenigstens der Sonntagabend gerettet.
Immer deutlicher wird, dass in diesem dicht geknüpften Programmteppich reine Informationssendungen wie Fremdkörper wirken. Wie bei einer Übersprungshandlung kultivieren „Tagesschau“ und „heute“ einen drögen Verlautbarungsduktus, der auch durch dekorative Studiomätzchen, allfällige Moderatoren-Jovialität Kleberscher Provenienz und Pseudo-Expertentum à la Elmar Theveßen nicht lebendiger wird. Zumeist dominieren gestanzte Politikerinterviews vor Reichstagskulisse den Bildschirm. Man muss gar nicht an die Prinzipien der öffentlich-rechtlichen „Grundversorgung“ und jene ehernen Programmgrundsätze erinnern, in denen von Frieden und Freiheit, von der Pflicht zur umfassenden Widerspiegelung des „gesellschaftlichen Meinungsspektrums“ und der Bindung an eine wahrheitsgetreue, sachlich-objektive und unparteiische Berichterstattung die Rede ist, um einen legitimen Qualitätsanspruch der Zuschauer zu formulieren.
Vor einigen Jahren schon hat der Historiker Christoph Stölzl jenseits aller ironisch-postmodernen Gleichgültigkeitsattitude von der „Idee der demokratischen Nation als Lerngemeinschaft“ gesprochen, in der „alle alles Bedeutende gleichermaßen betrifft“, wenigstens im Prinzip. Gerade deshalb sei es der große Vorteil jener alten „Mischprogramme“ gewesen, dass die „Nachbarschaft von Politik, Unterhaltung, Sport und Kultur eine sozial integrierende, die unterschiedlichen Bildungsmilieus versöhnende Wirkung hatte“.
Es spricht für die durchschlagende Wirkung des schönen neuen Fernsehens, dass solche Bemerkungen heute bei vielen Programmverantwortlichen eher peinliche Betretenheit hervorrufen: demokratische Nation, Bildung, Lerngemeinschaft? In welcher Welt lebt der Mann denn?! Frag doch mal die Maus!
Gilt also immer noch der Satz von Marcel Reich-Ranicki – „Fernsehen macht die Dummen dümmer und die Klugen klüger“? Auch das ist kein wirklicher Trost. Aber eigentlich guckt ja sowieso niemand mehr fern. Und macht heute nicht am Ende auch das Internet die Dummen dümmer und die Klugen klüger? Wahr ist: Jeder Websurfer ertappt sich immer wieder dabei, wie er inmitten des bollernden Weltwahnsinns selbst lächerlichste Boulevardmeldungen anklickt, die normalerweise weit unter seinem intellektuellen Niveau dämmern – irgendwo zwischen Lothar Matthäus und Lady Gaga.
Die einst großen Unterschiede zwischen der seriösen Tagespresse und Straßenzeitungen wie Bild sind nur noch gradueller Natur – jedenfalls in den Internetausgaben. Um fast jeden Preis müssen die werbeträchtigen Klickquoten hochgejubelt werden, die entscheidende Währung im Online-Zeitalter.
Schon eine Kleinigkeit des journalistischen Handwerks mag dies illustrieren: Dient der Vorspann zwischen Überschrift und Text eines Zeitungsartikels in eherner Tradition der knappen, aber präzisen Zusammenfassung seines Inhalts, so hat er online nur noch einen Zweck: die Verführung zum Anklicken. Da ist es nur konsequent, dass im lockenden Teaser das Wichtigste, die Nachricht oder die Pointe eines Themas, gerade nicht genannt wird. Hier ordnet sich alles der Stimulierung jener vagabundierenden Neugier unter, die im World Wide Web immer aufs Neue befriedigt wird.
Es ist offensichtlich, dass es hier nicht mehr zuallererst darum geht, interessierten Zeitgenossen die wichtigsten Neuigkeiten des Tages mitzuteilen. Vielmehr handelt es sich um eine flirrende, durchaus süchtig machende Mischung aus Erregung, Information und Unterhaltung, die das Rohmaterial des Weltgeschehens in die jeweils verkaufsträchtigste Form gießt. Der alte Begriff des „Infotainment“ trifft die Sache schon nicht mehr richtig, denn inzwischen ist sie komplizierter.
Eher repräsentiert die neue Nachrichtenkultur eine rasante Achterbahnfahrt der Gefühle: Selten in der jüngsten Geschichte hat sich die Abfolge der medial gestützten Megahypes derart rasant entwickelt wie in diesem Jahr. Als hätte ein wirrer Deus ex machina Regie geführt, jagen sich die aufregenden Ereignisse im Wochentakt. Selbst aufmerksamen Zeitgenossen fällt es da schwer, den Überblick zu behalten, Wichtiges von Unwichtigem, Historisches von Anekdotischem, Substanzielles von Kokolores zu unterscheiden. Die atemraubende mediale Schwarmbildung sorgt zuverlässig dafür, dass tagelang jeweils nur ein Großthema auf der Agenda steht und so lange durch den Fleischwolf der Event- und Skandalgesellschaft gedreht wird, bis nur noch unverdauliche Einzelteile auf dem Komposthaufen des gerade Vergangenen zurückbleiben. Wenige Wochen später weiß kein Mensch mehr, worum genau es eigentlich gegangen ist.
Am Anfang war das Ei. Das „Dioxin-Ei“. Zu Beginn des Jahres 2011 war es urplötzlich aufgetaucht. Im Handumdrehen wurde daraus der „Dioxin-Skandal“, in dessen Mittelpunkt unversehens Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner stand. Motto: Hilfe, wir werden vergiftet! Rette sich, wer kann. Selbst Bio-Eier waren kurzzeitig unverkäuflich, und wieder einmal fragten besorgte Bürger, was man noch essen könne in diesem total verseuchten Land.
Ilse Aigners Stellung wankte schon bedenklich, als ihr die
famose Gesine Lötzsch zu Hilfe kam, die alles erklären kann, sogar
den Bau der Berliner Mauer und die historischen Verdienste von
Fidel Castro. Noch während das Gift im Futtermittel gärte, hatte
sie ein ideologisch faules Ei ins Nest ihrer Partei gelegt: Es gebe
viele Wege zum Kommunismus, schrieb die Linksparteichefin, man
müsse sie nur mal richtig ausprobieren. So brach, ganz im Ernst,
eine „Kommunismusdebatte“ aus, 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des
Sowjetreichs.
Während der Landweg zum Kommunismus also schon wieder abgeschnitten
war, kam über den Seeweg Kunde vom nächsten Skandal: „Tödliche
Schikane auf der Gorch Fock!“ Tag für Tag wurden gerüchteweise neue
Ungeheuerlichkeiten – von sexuellen Übergriffen bis zu
systematischer Schleiferei – verbreitet, und so dauerte es nur
wenige Tage, bis die Lieblingsschlagzeile aller Online-Profis einen
ersten Schlussakkord setzte: „Guttenberg gerät immer mehr unter
Druck“.Wer „immer mehr unter Druck“ gerät, der ist publizistisch
beinah tot. Die richtigen Guttenberg-Festspiele sollten jedoch erst
noch kommen.
Wie aus dem Nichts erhob sich dann nach dem Riesenrummel um Karen Duves Bestseller „Anständig essen“ eine geradezu flagellantenhafte Bekenntniswut. Alles musste „auf den Prüfstand“, Butter, Käse, Milch und Eier inklusive. Plötzlich tönte es überall: „Ja, auch ich habe gesündigt! Nie wieder Currywurst!“ Die Talkshows wimmelten nun vor passionierten Salat- und Gemüseessern, und wer sich jetzt noch ein Wiener Schnitzel mit Erdäpfelsalat bestellen wollte, dem war nicht mehr zu helfen. Die Zeitgeistsurfer vom ARD-Kulturmagazin ttt verstiegen sich gar zu der These: „Anständig leben heißt anständig essen.“
Doch dann schnellte eine ganz andere moralische Frage urplötzlich wie das Monster von Loch Ness aus den aufgewühlten Wassern: Kann man anständig leben, gar Minister, Ersatzkönig und geliebter Volksheld sein, wenn man seine Doktorarbeit abgeschrieben hat? Nach zwei Wochen eines kaum je erlebten medialen Ausnahmezustands, der an den Rand eines geistigen Bürgerkriegs zu führen schien, setzte sich am Ende die Mehrheitsmeinung durch: Nein, kann man nicht!
So ging der Kanzler der Herzen erst ins innerfränkische, dann ins amerikanische Exil, während in Arabien das Volk den Aufstand gegen seine verhassten Herrscher probte. Ein Realitätsschock für die Talkshow-Republik – und ein Mega-Input für den öffentlich zelebrierten Nervenkitzel.
Die Revolutionen in den Maghreb-Staaten markierten einen so
unwahrscheinlichen und tatsächlich sensationellen Einbruch der
Wirklichkeit ins Reich der virtuellen Erregungsgesellschaft, dass
nicht nur die Politik, sondern auch die Medien Tage oder Wochen
brauchten, um sich zu sortieren. Das hatte es lange nicht gegeben:
Wahrhaft historische Ereignisse, während hierzulande gerade über
die angebliche „Feigheit der Frauen“ und Margot Käßmanns Comeback
als ubiquitäre Moral-Else diskutiert wurde.
Die Katastrophe in Japan war der endgültige Beweis, dass der
Schrecken in der Welt ist – auch ohne Dramatisierung. Doch nicht
die Zehntausenden Toten und das schier unvorstellbare Ausmaß der
Verwüstung standen im Mittelpunkt der hiesigen Berichterstattung,
sondern der befürchtete Supergau in Fukushima.
Gewiss, das Risiko großräumiger Verstrahlung war und ist real,
aber die deutschen Reaktionen folgten einer anderen Logik als der
einer konkreten Gefahrenabwehr. Vorherrschend waren Reflexe, die
mehr mit der Angstlust am Untergang und der Konstruktion eines
prospektiven Opferstatus zu tun hatten als mit politischer
Reflexion. In diesem Sinne war es auch nur konsequent, dass die
schwarzgelbe Bundesregierung dieser gefühlten Bedrohungslage
nachgab und ihre Haltung zur Atomenergie binnen Stunden um 180 Grad
wendete.
Unzweifelhaft verschärft die dauererregte Mediengesellschaft den
Trend zu einer Stimmungsdemokratie, die im Abstand von zwei
Mausklicks auf Veränderungen der Lage reagiert, vielleicht
reagieren muss – einer Lage, die durch all die simulierten Dramen
überhaupt erst entstanden ist. Eine „geisterhafte
Wirklichkeitsverdünnung“ nannte dies Dietrich Schwanitz einmal, und
tatsächlich scheint die greifbare Realität in dem Maße zu
entschwinden, wie sie zur „Hyperrealität“ mutiert, um einen Begriff
des französischen Simulationstheoretikers Jean Baudrillard zu
verwenden.
Die durchgehende Emotionalisierung der Öffentlichkeit reduziert
den Abstand zwischen dem vermeintlichen Ereignis und seiner
Verarbeitung – sowohl räumlich als auch zeitlich. Daher schwingen
große Teile der Gesellschaft längst im Livetickerrhythmus, im
Alarmmodus einer Echtzeitkommunikation, in der das
Reizreaktionsschema wichtiger ist als vernünftige
Entscheidungsprozesse. Kein Wunder, dass die Bundeskanzlerin
vorwiegend per SMS kommuniziert: Das Online-Regieren ist der Reflex
auf die Online-Öffentlichkeit.
Klassisches „Nach“-Denken wird naturgemäß immer seltener, wenn sich
die Ereignisse und ihre kaskadenhafte Überbietungslogik derart
überschlagen, dass gar keine Zeit mehr ist, sich der Situation in
Ruhe und von allen Seiten her zu stellen. Ein abwägender Diskurs,
in dem Argumente unabhängig von Augenblicksstimmungen bewertet
werden, kann so erst gar nicht entstehen. Paradoxerweise wird aber
gerade dann von „Denkpause“ und „Moratorium“ gesprochen, wenn
vorher jede Tätigkeit des Geistes eingestellt worden ist.
Was unmittelbar aus diesem Zusammenspiel von Mediengesellschaft und Stimmungsdemokratie folgt, ist ein fortschreitender Verlust der allgemeinen Urteilsfähigkeit. Hin und her gerissen von Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten, vom Dauersturm des publizistischen Online-Alarmismus, fällt es auch nachdenklichen Zeitgenossen immer schwerer, den sprichwörtlichen „kühlen Kopf“ zu bewahren. So läuft die Republik Gefahr, sich selbst dümmer zu machen als sie ist.
Und der Mensch, der moderne Google-Sklave, der ohne Suchmaschine gar nicht mehr weiß, wer er ist? Er kann, nein, er sollte von seinem Verstand Gebrauch machen. Solange der Google-Chip noch nicht in den Weichteilen steckt, ist alles möglich.
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