Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(Foto: Monopol/Nils Klinger) Der Kulturbahnhof auf der Documenta

Documenta-Rundgang (3) - Kassel wie nach einem Tsunami

Am Samstag eröffnet in Kassel die Documenta (13). Rundgang durch den Kulturbahnhof, hinein in großartige gesellschaftliche Panoramen - und das ganz ohne Erdbeeren

Wir hatten Erdbeeren dabei. Wir wollten, Carolyn Christov-Bakargievs Worte im Ohr, diese Documenta sei auch für nicht-humanoide Lebewesen gemacht, und sei nicht auch der Tomatenstrauch zur Wahrnehmung befähigt, und müsse nicht auch die Erdbeere wählen können dürfen - wir wollten also einer Erdbeere die Documenta zeigen und sie anschließend befragen, wie es ihr gefallen hat.

 

Lesen Sie alles zur Documenta Kassel in der Juni-Ausgabe des Monopol-Magazins. Jetzt am Kiosk, im Online-Shop oder direkt aufs iPad

 

 

Aber dann dauerte die Pressekonferenz ziemlich lange, und die Erdbeerschachtel wurde leerer. Wir nahmen die restlichen Früchte dann mit zu unserer ersten Station, dem Kulturbahnhof, und bald fanden wir, dass diese Idee mit der Führung für einen leckerschmeckenden roten Zellhaufen eigentlich ziemlicher Blödsinn gewesen sei. Denn was diese Documenta am Kulturbahnhof zeigt, ist dann doch ganz eindrucksvoll und trotz des belebten, benutzten Ortes, einer ungewöhnlichen Platzierung für Kunst, so zwischen Gleisen und Lautsprecherdurchsagen, fast schon museal zu nennen.

Die Erdbeeren waren in unserer Tasche dann auch schon ziemlich matschig geworden. Wir warfen sie weg.

Wenn eines auffällt an dieser Documenta, dann das Bestreben, vom Zentrum des Geschehens - dem Museum Fridericianum - zu den Rändern zu streben, ins pralle Leben hinaus, an mindestens 20 verschiedene Orte. Die Kuratorin - wir nennen sie hier mal CCB - holt die Natur und den Krieg und die Quantenphysik in die Ausstellung hinein - und diese wandert dafür in die Welt hinaus. Besonders gut gelingt das am Kulturbahnhof. In Kneipen, im Bahnhofskino oder in Lagergebäuden an den Flanken des Gleisbetts entfalten sich ortsspezifische Kunstwerke - und fügen sich so sinnfällig ein wie Susan Hillers hübsche Jukebox "Die Gedanken sind frei" mit Arbeiterliedern von den Dubliners bis Bob Dylan im Restaurant "Gleis 1", wo "Kasselener" (so sagen die Indigenen das hier) sitzen und trinken.

Janet Cardiff und Georges Bures Miller geben einem einen iPod mit Kopfhörer mit und inszenieren so eine audiovisuelle Reise durch den Bahnhof und seine unheilvolle Geschichte vorm und im Krieg, einem Traum gleich, der sich beim Laufen entspinnt, parallel zum wuseligen Geschehen, das um einen herum passiert. Großartig, klug, poetisch, politisch, die halbe Stunde lohnt sich.

Geht man auf die Gleise hinaus, ertönt aus Lautsprechern Susan Philipsz' Klanginstallation, die eine Komposition von Pavel Haas zur Grundlage hat, der 1944 in Auschwitz umkam - vom Hauptbahnhof aus wurde deportiert, in unmittelbarer Nähe wurden Waffen produziert. Die Melodie trägt die heute auf Züge-Wartenden auf ganz andere Weise davon.

[gallery:Collapse and Recovery - dOCUMENTA (13)]

Beeindruckende Filme stammen von der Otholith Group (über Japans Obsession mit der Atomkraft) sowie von Clemens von Wedemeyer (über das Kloster Breitenau bei Kassel, Ulrike Meinhofs "Bambule" und die US-Invasion) - aber diese Filme erschöpfen sich nie in ihrer politischen Botschaft, sondern verbreitern sich durch ihre raffinierten Collage- und Montagetechniken zu gesellschaftlichen Panoramen.

Und schließlich ist da Documenta-Altmeister William Kentridge, der sich eine wahre Kathedrale bauen durfte, in der er, mit einer "atmenden" Apparatur aus Holz sowie in fünf Filmprojektionen, gegen das Verstreichen der Zeit anwütet. Was direkt überleitet zu Lara Favarettos apokalyptischer Schrottlandschaft, die wie ein Memento mori ganz am Ende des Bahnhof wartet. Eine gigantische, aber auch ein bisschen brave Fleißarbeit, ein Stück Kassel wie nach einem Tsunami aussehen zu lassen. Erdbeeren wachsen hier jedenfalls nicht mehr.

Documenta, Kassel, 9. Juni bis 16. September.

Dieser Text ist ein Beitrag vom Monopol Magazin Online. Monopol 6/2012 beschäftigt sich ausführlich mit der Documenta. Weitere Informationen, Neuigkeiten und Hintergründe finden Sie online im zugehörigen Monopl-Dossier

Rundgang (1): Kann Scheitern produktiv sein?
Rundgang (2): Gegenwart durchdringen

Rundgang (4): Von Androiden bis zu den Gebrüdern Grimm
Rundgang (5): "Fuck off" oder was immer uns einfällt

 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.