- Die Welt retten oder sich in die Welt hineinfinden?
Neue Jugend-Romane von Jeanette Winterson und Joyce Carol Oates
Jeder weiß, was ein «Kinderteller» bedeutet: von allem etwas weniger, vor allem weniger Raffinesse und Vielfalt, im Zweifelsfall kaum mehr als Pommes-frites-mit-Irgendwas. Manche Kinder- und Jugendbücher erwecken den Eindruck, genauso geschrieben worden zu sein – und die Britin Jeanette Winterson hat dafür nun leider auch ein Beispiel geliefert. Seit sie 1985 durch die Geschichte ihrer Ablösung vom streng religiösen, proletarischen Milieu ihrer Kindheit – «Orangen sind nicht die einzige Frucht» – weithin bekannt geworden ist, hat sie in ihren weiteren Büchern zwischen lesbischer Liebe, moderner Naturwissenschaft und Cyber-Kosmos kaum ein zeitgenössisches Thema ausgelassen. «Tanglewreck. Das Haus am Ende der Zeit» erinnert an vieles davon, ist aber nur zu einer ziemlich kruden Mischung aus Fantasy und Weltrettungs-Pathos geraten – bewährte Zutaten ergeben allein noch lange keine gute Mahlzeit.
Die Zeit ist aus den Fugen
Worum geht es in diesem Buch? Die Zeit ist außer Kontrolle geraten, weil sie durch den Fortschritt immer mehr beschleunigt und dadurch destabilisiert worden ist. Nun toben Zeit-Tornados über London, die Menschen und Gegenstände aus der Gegenwart herausreißen, und drei dubiose Figuren treten auf, um alles wieder ins Lot zu bringen und damit die Macht auf der Erde zu erringen. Sie stehen prototypisch für jene treibenden Kräfte, welche die Menschheit seit Urzeiten vorangebracht haben: für Wissenschaft und Rationalität, für die Magie und für den Glauben. Aber keiner von den dreien meint es gut mit der Welt, und keiner von ihnen ist in der Lage, sein Ziel allein zu erreichen. Sie alle brauchen die Hilfe eines kleinen Mädchens, das als Waise auf dem Landsitz Tanglewreck bei einer schrulligen Tante lebt.
Das Mädchen heißt Silver, und es ist ihr vorherbestimmt, den «Zeitwächter» zu finden, eine alte Uhr. Wenn diese wieder in Gang gebracht werden kann, wird die Zeit wieder unter Kontrolle kommen. Die Handlung des Romans ist also absehbar. Das Mädchen steht zwischen allen Fronten, wird belogen, gerät in Gefahr, findet Freunde, hat am Ende Erfolg und erlöst die Welt, nachdem alle Protagonisten ein bisschen in der Zeit hin- und hergesprungen sind.
Info-Häppchen statt Weltwissen
Dabei wird vieles herbeizitiert oder anverwandelt, was für die Wissenschaften wichtig oder in der erzählenden Literatur vorbildhaft geworden ist: die Relativitätstheorie und berühmte Uhrmacher, die Kalenderreformen im 16. Jahrhundert und alte Zauberriten, Motive aus H. G. Wells «Zeitmaschine» und aus J. M. Barries «Peter Pan». Es regiert eine Art von Traumlogik beim schnellen Wechsel der Zeitebenen und Schauplätze – wahlweise deutbar als Nachbeben der Postmoderne oder als Referenz zu YouTube und MySpace – nur: Es wird daraus kein überzeugender Schmöker.
Dem Reichtum der Motive steht nämlich die kursorische Lieblosigkeit im Umgang mit dieser Vielfalt gegenüber; zudem ist unglücklicherweise auch die Charakterzeichnung der Hauptfigur nur mangelhaft geraten. Silver agiert, als ob alles, was ihr zustößt, spurlos an ihr vorüberginge, als würden alle ihre Fragen nur einem Kreuzworträtsel gelten und nicht einem Leben, das sie überhaupt erst noch führen muss. Wissen von der Welt – für Silver und in diesem Roman ist das nicht mehr als ein paar äußerliche Info-Häppchen.
Damit aber verfehlt Jeanette Winterson einen zentralen Aspekt von Kindheit und Jugend, nämlich das Missverhältnis zwischen dem vielen, was man schon weiß, dem, was man schon spürt, und dem wenigen, was man an wirklichen Erfahrungen gemacht hat. Gute Kinder- und Jugendliteratur fängt genau dies ein – wie es ist, wenn fast alles neu, unerwartet und verunsichernd auf einen jungen Menschen zukommt: der erste Schultag, die ersten Bewährungsproben, die erste schwere moralische Verfehlung, von der man sich nicht freisprechen kann.
Ressentiment und Moral
Jeanette Winterson ist an solchen Fragen vermutlich gar nicht interessiert – Joyce Carol Oates dagegen baut ihre Jugendbücher genau darauf auf. Und auch wenn die Plots nicht vergleichbar sind, lohnt doch gerade deshalb die parallele Lektüre, denn in Oates’ viertem Jugendbuch ist alles anders. «Sexy» erzählt die Geschichte Darrens, eines sechzehn Jahre alten Jungen, der so gut aussieht, dass ihm ständig Avancen gemacht werden, ohne dass er damit schon etwas anfangen könnte oder möchte. Vor diesem Zugriff der Welt auf eine Person, als die er sich selbst noch gar nicht fühlt, zieht er sich meist automatisch zurück, tobt sich im Schwimmbad aus oder versinkt in Grübeleien.
Zu seinem Pech lebt Darren aber in kleinen Verhältnissen, wo Vater und Bruder ihn in einem Klima des Ressentiments gegenüber reicheren Familien wie gegenüber Homosexuellen zu ersticken drohen. Das ist fast schon ein Hinterwäldler-Milieu – und weil Darren in seiner kleinen Stadt als guter Kumpel gelten will und muss, wird er in eine üble Intrige gegen einen homosexuellen Lehrer verstrickt, dem auch er selbst lieber aus dem Weg geht. Einige seiner Freunde treten eine Hetzkampagne los, der ganze Ort und der Schulleiter machen mit. Darren aber, der es besser weiß, schweigt und quält sich, weil er nicht als «Freund» dieses Lehrers angesehen werden will. Und natürlich fragt er sich auch: Wie soll ich hier weiterleben, wenn ich jetzt petze?
Weltverschwörung? Nicht nötig
«Sexy» ist eine Milieu- und Charakterstudie und darin vielen jener großen Romane vergleichbar, die Joyce Carol Oates über Jahrzehnte für Erwachsene geschrieben hat. Vor allem aber ist das Buch ein Portrait, das den individuellen Horizont des Helden beim Erzählen nie überschreitet. Der Leser erlebt alles aus Darrens Sicht: die Sprachlosigkeit genauso wie die Zweifel, die Ängste wie die ersten Versuche, gegen die Zwänge zu rebellieren. Wie bei einem Probeleben kann der Leser sich hier selbst befragen, wie er wohl an Darrens Stelle reagieren würde – kein Zeigefinger lenkt ihn dabei in eine bestimmte Richtung.
Es gibt auch nichts Effekthascherisches in diesem Buch, denn Joyce Carol Oates braucht keine Weltverschwörungen und muss den Helden noch nicht einmal mit der Allein-Verantwortung für den Tod des Lehrers belasten, um spannend zu erzählen. Ihr genügt die genaue psychologische Durchdringung, um spürbar zu machen, wie mühsam es ist, sich in die Welt hineinzufinden.
Jeanette
Winterson
Tanglewreck. Das Haus am Ende der Zeit
Aus dem Englischen von Monika Schmalz.
Bloomsbury, Berlin 2006. 334 S., 16,90 €
Joyce Carol
Oates
Sexy
Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann.
Hanser, München 2006. 203 S., 14,90 €
Steine, Kacheln, ein durchlöcherter Strohhut, ein Schildkrötenpanzer – und natürlich Leinwand und Pinsel: alles konnte Juan Miró für seine Bilder und Skulpturen gebrauchen (manchmal auch die Zahnbürsten seiner Familie). Wer ist eigentlich dieser Miró?, fragt Britta Benke in ihrem Buch voller großer Bildtafeln, das auch Fotos des Malers und seiner Materialien zeigt. Man erfährt nicht nur, wer Miró war, wie, wo und wovon er lebte, wie er arbeitete. Auf sehr einfache Weise lernt man seine Themen und Techniken kennen, und am Ende gibt es Anregungen, es auch selbst einmal wie Miró zu versuchen. Oder ins Museum zu gehen: Die Miró-Adressen stehen hinten im Buch (Kindermann, Berlin 2006. 41 S., 14,50 €).
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