Wie sieht die ideale Bibliothek aus? Sollte sie Hochsicherheitstrakt, Freizeitpark oder Studierstube sein? Der passionierte Bibliotheksbesucher Umberto Eco entwirft die Utopie seiner persönlichen Lieblingsbibliothek
Als ich mir überlegte, was man über Bibliotheken sagen kann, versuchte ich, zunächst die gewissen oder ungewissen Funktionen einer Bibliothek zu bestimmen. Zu diesem Zweck inspizierte ich kurz die Bibliotheken, zu denen ich Zugang hatte, da sie auch nachts geöffnet sind – nämlich die des Assurbanipal in Ninive, die des Polykrates auf Samos, die des Peisistratos in Athen, die von Alexandria (die schon im dritten Jahrhundert vor Christus 400000 Bände enthielt und dann im ersten, mit der des Serapeions, 700000 Bände umfasste), schließlich die Bibliothek von Pergamon und die des Augustus (zur Zeit Kaiser Konstantins gab es 28 Bibliotheken in Rom). Ferner habe ich eine gewisse Vertrautheit mit einigen benediktinischen Klosterbibliotheken, und so begann ich mich zu fragen, worin eigentlich die Aufgabe einer Bibliothek besteht.
Anfangs, in den Zeiten des Assurbanipal oder des Polykrates, war es wohl nur das einfache Unterbringen der Schriftrollen oder Bände, damit sie nicht in der Gegend herumlagen. Später, denke ich, kam dann das Sammeln und Hüten hinzu, denn schließlich waren die Rollen teuer. Noch später, zu Zeiten der Benediktiner, war es auch das Kopieren – die Bibliothek sozusagen als Durchgangszone: Das Buch trifft ein, wird abgeschrieben, das Original oder die Kopie verlässt sie wieder.
Zu manchen Zeiten, vielleicht schon zwischen Augustus und Konstantin, war die Aufgabe einer Bibliothek sicher auch das Bereitstellen ihrer Bücher zum Lesen, also mehr oder weniger das, was die schöne Resolution der Unesco besagt, in der es heißt, es sei einer der Zwecke von Bibliotheken, dem Publikum das Lesen zu ermöglichen.
Später sind dann aber Bibliotheken entstanden, die eher den Zweck verfolgten, das Lesen nicht zu ermöglichen, die Bücher unter Verschluss zu halten, sie zu verbergen. Allerdings waren diese Bibliotheken auch so beschaffen, dass man Funde in ihnen machen konnte. Wir staunen immer wieder über die Fähigkeit der Humanisten des 15. Jahrhunderts, verschollene Handschriften wiederzufinden. Wo fanden sie sie? In Bibliotheken. In Bibliotheken, die teilweise zum Verbergen dienten, aber auch zum Bewahren und damit zum Fundemachen.
Angesichts dieser Aufgabenvielfalt einer Bibliothek erlaube ich mir nun, ein Negativmodell aufzustellen, das Modell einer schlechten Bibliothek in 19 Punkten. Natürlich ist es ein fiktives Modell. Doch wie in allen Fiktionen, die ähnlich den Karikaturen aus der Kombination von Pferdeköpfen auf Menschenleibern mit Sirenenschwänzen und Schlangenschuppen entstehen, kann, glaube ich, jeder von uns in diesem Negativmodell Elemente finden, die ihn an eigene Abenteuer in den entlegensten Bibliotheken unseres Landes und anderer Länder erinnern. Eine gute Bibliothek im Sinne einer schlechten Bibliothek (also ein gutes Beispiel für das Negativmodell, das ich hier aufzustellen versuche) muss zunächst und vor allem ein ungeheurer Alptraum sein, ein totales Horrorgebilde.
1.Die Kataloge müssen so weit wie möglich aufgeteilt werden:
Man verwende größte Sorgfalt darauf, den Katalog der Bücher von dem der Zeitschriften zu trennen und den der Zeitschriften vom Schlagwort- oder Sachkatalog, desgleichen den Katalog der neuerworbenen Bücher von dem der älteren Bestände. Nach Möglichkeit sollte die Orthographie in den beiden Bücherkatalogen (Neuerwerbungen und alter Bestand) verschieden sein: beispielsweise Begriffe wie „Code“ in dem einen mit C, in dem anderen mit K, oder Eigennamen wie Tschaikowsky bei den Neuerwerbungen mit einem i, bei den anderen mal mit Ch, mal mit Tch.
2.Die Schlagworte müssen vom Bibliothekar bestimmt werden. Die Bücher dürfen, entgegen der üblen Unsitte, die sich neuerdings bei amerikanischen Büchern breitmacht, im Impressum keinen Hinweis auf die Schlagworte tragen, unter denen sie aufgeführt werden sollen.
3.Die Signaturen müssen so beschaffen sein, dass man sie nicht korrekt abschreiben kann, nach Möglichkeit so viele Ziffern und Buchstaben, dass man beim Ausfüllen des Bestellzettels nie genug Platz für die letzte Chiffre hat und sie für unwichtig hält; so dass dann der Schalterbeamte den Zettel als unvollständig ausgefüllt zurückgeben kann.
4.Die Zeit zwischen Bestellung und Aushändigung eines Buches muss sehr lang sein.
5.Es darf immer nur ein Buch auf einmal ausgehändigt werden.
6.Die ausgehändigten Bücher dürfen, da mit Leihschein bestellt, nicht in den Lesesaal mitgenommen werden, so dass man sein Leben in zwei Teile aufspalten muss, einen für die Lektüre zu Hause und einen für die Konsultation im Lesesaal. Die Bibliothek muss das kreuzweise Lesen mehrerer Bücher erschweren, da es zum Schielen führt.
7.Es sollte möglichst überhaupt keine Fotokopierer geben; falls doch einer da ist, muss der Zugang weit und beschwerlich sein, der Preis für eine Kopie muss höher sein als im nächsten Papiergeschäft und die Zahl der Kopien begrenzt auf höchstens zwei bis drei Seiten.
8.Der Bibliothekar muss den Leser als einen Feind betrachten, als Nichtstuer (andernfalls wäre er bei der Arbeit) und als potentiellen Dieb.
9.Fast das ganze Personal muss an irgendwelchen körperlichen Gebrechen leiden. Hier berühre ich einen heiklen Punkt, den ich keineswegs ironisch behandeln möchte. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, allen Bürgern Arbeitsmöglichkeiten und Erleichterungen zu verschaffen, auch denen, die nicht mehr in der Blüte ihres Lebens oder im Vollbesitz ihrer Kräfte sind. Gleichwohl akzeptiert die Gesellschaft, dass zum Beispiel bei der Feuerwehr eine besondere Auswahl getroffen werden muss. In Amerika gibt es Universitätsbibliotheken, die alles tun, um den Behinderten die Benutzung zu erleichtern, durch schiefe Ebenen für Rollstuhlfahrer, Spezialtoiletten et cetera, wobei sie in ihrem Bemühen so weit gehen, dass die anderen gefährdet werden, die auf den schiefen Ebenen ausrutschen.
Gewisse Tätigkeiten in einer Bibliothek erfordern jedoch einige Kraft und Geschicklichkeit: das Klettern auf Leitern, das Tragen schwerer Lasten et cetera, während es andere Verrichtungen gibt, die man jedem Bürger anbieten kann, der trotz mancher Behinderungen durch sein Alter oder durch andere Umstände noch eine sinnvolle Arbeit tun möchte. Ich werfe hier das Problem des Bibliothekspersonals auf, da es meines Erachtens dem der Feuerwehrtruppe viel näher steht als dem des Personals einer Bank, und dies ist sehr wichtig, wie wir noch sehen werden.
Zunächst aber weitere Punkte.
10.Die Auskunft muss unerreichbar sein.
11.Das Ausleihverfahren muss abschreckend sein.
12.Die Fernleihe sollte unmöglich sein oder jedenfalls Monate dauern; am besten, man sorgt dafür, dass der Benutzer gar nicht erst erfahren kann, was es in anderen Bibliotheken gibt.
13.Infolge all dessen muss Diebstahl möglichst leicht gemacht werden.
14.Die Öffnungszeiten müssen genau mit den Arbeitszeiten zusammenfallen, also vorsorglich mit den Gewerkschaften abgestimmt werden: totale Schließung an allen Samstagen, Sonntagen, abends und während der Mittagspausen. Der größte Feind jeder Bibliothek ist der Werkstudent, ihr bester Freund einer wie Don Ferrante, der seine eigene Bibliothek besitzt, also keine öffentliche aufsuchen muss und dieser die seine bei seinem Ableben hinterlässt.
15.Es muss unmöglich sein, sich innerhalb der Bibliothek irgendwie leiblich zu stärken, und es muss auch unmöglich sein, sich außerhalb der Bibliothek zu stärken, ohne zuvor alle ausgeliehenen Bücher zurückgegeben zu haben, um sie dann nach der Kaffeepause erneut zu bestellen.
16.Es muss unmöglich sein, das einmal ausgeliehene Buch am nächsten Tag wiederzufinden.
17.Es muss unmöglich sein zu erfahren, wer das fehlende Buch ausgeliehen hat.
18.Es darf möglichst keine Toiletten geben.
19.Ideal wäre schließlich, wenn der Benutzer die Bibliothek gar nicht erst betreten könnte; betritt er sie aber doch, stur und pedantisch auf einem Recht beharrend, das ihm aufgrund der Prinzipien von 1789 konzediert worden ist, aber noch nicht Eingang ins kollektive Bewusstsein gefunden hat, so darf er auf keinen Fall, nie und nimmer, außer bei seinen raschen Konsultationen im Lesesaal, Zugang zu den Bücherregalen selbst haben.
Eines der Missverständnisse, die den allgemeinen Begriff der Bibliothek beherrschen, ist die Vorstellung, dass man in eine Bibliothek geht, um sich ein bestimmtes Buch zu besorgen, dessen Titel man kennt. Natürlich kommt es oft vor, dass man in eine Bibliothek geht, weil man ein bestimmtes Buch haben will, aber die Hauptfunktion einer Bibliothek – jedenfalls meiner privaten Bibliothek und jeder, die wir im Hause von Freunden durchstöbern können – ist die Möglichkeit zur Entdeckung von Büchern, deren Existenz wir gar nicht vermutet hatten, aber die sich als überaus wichtig für uns erweisen. Gewiss kann man diese Entdeckung auch machen, wenn man den Katalog durchblättert, aber nichts ist aufschlussreicher und spannender, als eigenhändig die Regale zu durchstöbern, die womöglich alle Bücher zu einem bestimmten Thema enthalten (was man im Autorenkatalog nie hätte entdecken können), und neben dem Buch, dessentwegen man gekommen ist, ein anderes Buch zu finden, das man gar nicht gesucht hatte, aber das sich als fundamental herausstellt. Mit anderen Worten, die Idealfunktion einer Bibliothek ähnelt ein bisschen derjenigen der Bouquinisten am Seineufer, bei denen man Trouvaillen machen kann, und diese Funktion erhält sie nur durch den freien Zugang zu den Regalen.
Für mich ist eine solche Bibliothek wie geschaffen, ich kann ganze Tage voller Seligkeit darin verbringen: Ich lese die Zeitung, nehme mir Bücher mit in die Cafeteria, gehe mir anschließend neue holen, mache Entdeckungen. Eigentlich war ich gekommen, um mich, nehmen wir an, mit englischem Empirismus zu befassen, statt dessen fange ich an, den Aristoteles-Kommentaren nachzugehen, irre mich im Stockwerk, gelange in eine Abteilung, die ich von mir aus nie betreten hätte, lauter medizinische Bücher, aber dann stoße ich unversehens auf Werke über Galenus, also mit philosophischen Querverweisen … So erlebt, wird die Bibliothek zu einem Abenteuer.
Was sind aber nun die Nachteile dieser Art von Bibliotheken? Zweifellos Diebstähle und Zerstörungen: Trotz aller elektronischen Kontrollen ist das Bücherklauen in einer solchen Bibliothek viel leichter als in einer der unseren. Diebstahl ist überall möglich, aber ich glaube, das Prinzip einer offenen Bibliothek mit freier Zirkulation ist, dass sie den Diebstahl durch Ankauf neuer Exem-plare wettmacht, auch wenn es sich um antiquarische Bücher handelt. Ein Millionärsprinzip, gewiss, aber ein Prinzip. Die Grundfrage ist, ob man will, dass die Bücher gelesen werden können, oder nicht; will man es und wird dann ein Buch gestohlen oder zerstört, so kauft man eben ein neues. Kostbare Handschriften werden selbstverständlich in besonderen Abteilungen aufbewahrt und besser geschützt.
Der andere Nachteil dieser Art von Bibliotheken ist: Sie ermöglichen, fördern und beschleunigen die Xerozivilisation. Die Xerozivilisation, also die Zivilisation der Fotokopie, bringt zusammen mit allen Annehmlichkeiten, die das Fotokopieren bietet, eine Reihe von ernsten Problemen für die Verlage mit sich, besonders in rechtlicher Hinsicht. Vor allem betreibt sie den Zusammenbruch des Urheberrechtsbegriffs. Dazu kommt auf der persönlichen Ebene eine Fotokopierneurose. Die Fotokopie ist etwas sehr Nützliches, aber oft stellt sie auch nur ein geistiges Alibi dar: Wer die Bibliothek mit einem Stapel Fotokopien verlässt, hat in der Regel die Gewissheit, dass er sie nie alle wird lesen können, ja er wird sie nicht einmal alle wiederfinden, da sie leicht durcheinandergeraten, aber er hat das Gefühl, sich den Inhalt der Bücher angeeignet zu haben. Vor dem Aufkommen der Xerozivilisation hatte er sich lange handschriftliche Exzerpte in riesigen Lesesälen gemacht, und davon war stets etwas in seinem Kopf hängen geblieben. Mit der Fotokopierneurose wächst die Gefahr, dass man ganze Tage in Bibliotheken vergeudet, um Bücher zu fotokopieren, die man nie lesen wird.
Ich beschreibe die negativen Auswirkungen jener dem Menschen gemäßen Bibliothek, in der ich trotzdem froh bin zu leben, wann immer ich kann, doch das Schlimmste wird kommen, wenn eine Zivilisation der Lesegeräte und Mikrofiches die Zivilisation des Buches total verdrängt haben wird. Vielleicht werden wir eines Tages noch jenen Bibliotheken nachtrauern, die von Zerberussen bewacht werden, die den Benutzer als Feind betrachten und ihn am liebsten von den Büchern fernhalten würden, aber in denen man wenigstens einmal am Tag einen gebundenen Gegenstand in die Hand nehmen konnte. Wir müssen uns also auch dieses apokalyptische Szenario vor Augen führen, um das Pro und Contra einer dem Menschen gemäßen Bibliothek abzuwägen.
Ich glaube, dass die Bibliothek der Zukunft mehr und mehr nach dem Maß des Menschen gestaltet sein wird, aber um nach dem Maß des Menschen gestaltet zu sein, muss sie auch nach dem Maß der Maschine gestaltet sein, vom Fotokopierautomaten bis zum Lesegerät, und dann wird es Aufgabe der Schule, der Kommunen et cetera sein, die Jugend und die Erwachsenen im Gebrauch der Bibliothek zu unterweisen. Die rechte Benutzung der Bibliothek ist eine subtile Kunst, es genügt nicht, dass der Lehrer den Schülern sagt: „Wenn ihr die und die Arbeit macht, geht in die Bibliothek und holt euch das und das Buch.“ Er muss den Schülern auch beibringen, wie man die Bibliothek benutzt, wie man ein Mikrofiche-Lesegerät benutzt, wie man einen Katalog benutzt, wie man sich mit den Verantwortlichen der Bibliothek auseinandersetzt, wenn sie ihre Pflichten versäumen, und wie man mit den Verantwortlichen der Bibliothek zu deren und aller Wohl kooperiert.
Im äußersten Falle, wenn die Bibliothek nicht potentiell allen offen stehen soll, müsste man Kurse einrichten wie zum Erwerb des Führerscheins, Kurse, die den Respekt vor dem Buch vermitteln und die Fähigkeit, es zu konsultieren. Eine sehr subtile Kunst, die zu lehren Aufgabe der Schule und der Erwachsenenbildung werden muss, denn die Bibliothek ist, wie wir wissen, eine Sache der Schule, der Gemeinde, des Staates. Sie ist eine Frage der Zivilisation, und wir haben keine Ahnung, wie unbekannt das Instrument Bibliothek den meisten noch immer ist.
Bleibt schließlich die Grundfrage: Will man die Bücher schützen oder will man, dass sie gelesen werden? Ich sage gar nicht, dass man sich entscheiden muss, sie schutzlos zur Lektüre freizugeben, aber man muss sie auch nicht so schützen, dass niemand sie lesen kann. Und ich sage auch nicht, dass man einen Mittelweg finden muss. Man muss sich entscheiden, welchem der beiden Ideale man Priorität geben will, danach wird man den Realitäten Rechnung tragen und überlegen, wie man das sekundäre Ideal verteidigt. Soll das primäre Ideal die Möglichkeit zur Lektüre der Bücher sein, so muss man versuchen, sie so gut es geht zu schützen, aber im Wissen um die damit verbundenen Risiken. Will man primär das Buch schützen, so muss man nach Wegen suchen, die seine Lektüre erlauben, aber im Wissen um die damit verbundenen Risiken.
In dieser Hinsicht hat eine Bibliothek die gleichen Probleme wie eine Buchhandlung. Es gibt heutzutage zwei Arten von Buchhandlungen. Zum einen die seriösen, noch mit echten Holzregalen, in denen man, kaum eingetreten, von einem Herrn angesprochen und gefragt wird: „Ja bitte, was wünschen Sie?“, woraufhin man eingeschüchtert sofort wieder geht. In solchen Buchhandlungen wird vergleichsweise wenig geklaut. Aber dort wird auch wenig gekauft. Zum anderen gibt es die Supermarkt-Buchhandlungen, mit Plastikregalen, in denen man – besonders die Jugend – ungestört umhergeht, sich die Bücher ansieht, sich über Neuerscheinungen informiert, und dort wird viel geklaut, trotz aller elektronischen Kontrollen. Die Manager solcher Buchhandelsketten wissen jedoch sehr wohl, dass ab einer bestimmten Größe eine Buchhandlung mit hoher Diebstahlquote auch eine Buchhandlung mit hohem Umsatz ist. In Kaufhäusern wird sehr viel mehr gestohlen als in Drogerien, aber Kaufhäuser sind Bestandteil großkapitalistischer Handelsketten, während Drogerien zum relativ einkommensschwachen Kleinhandel gehören.
Übertragen wir nun diese Fragen des wirtschaftlichen Profits auf solche des kulturellen Gewinns, der sozialen Kosten und Nutzen, so stellt sich dasselbe Problem für die Bibliotheken: größere Risiken in der Frage des Schutzes der Bücher einzugehen, um dafür alle sozialen Vorteile einer größeren Verbreitung der Bücher zu haben.
Wenn also die Bibliothek, wie es Jorge Luis Borges will, ein Modell des Universums ist, so sollten wir versuchen, sie in ein dem Menschen gemäßes Universum zu verwandeln, und dem Menschen gemäß, ich wiederhole es, heißt, auch fröhlich, auch mit der Möglichkeit, einen Kaffee zu trinken, auch mit der Möglichkeit, dass Studentenpärchen einen Nachmittag lang auf dem Sofa sitzen können, nicht um sich dort abzuknutschen, sondern um einen Teil ihres Flirts zwischen Büchern auszuleben, Büchern von wissenschaftlichem Interesse, die sie sich aus den Regalen holen und wieder zurückstellen. Mit einem Wort: eine lustvolle Bibliothek, in die man gerne geht und die sich allmählich in eine große Freizeitmaschine verwandelt, wie das Museum of Modern Art in New York, wo man ins Kino gehen, durch den Garten schlendern, die Statuen betrachten und eine komplette Mahlzeit einnehmen kann.
Ich weiß mich einig mit der Unesco: „Die Bibliothek… muss leicht zugänglich sein, ihre Pforten müssen allen Mitgliedern der Gesellschaft offen stehen, so dass jeder sie frei benutzen kann, ohne Ansehen von Rasse, Hautfarbe, Nationalität, Alter, Geschlecht, Religion, Sprache, Personen- und Bildungsstand.“ Eine revolutionäre Idee. Und der Hinweis auf den Bildungsstand postuliert auch eine gewisse Erziehung, Beratung und Vorbereitung. Und noch etwas: „Das Gebäude, in dem die öffentliche Bibliothek untergebracht ist, sollte zentral gelegen sein, auch für die Behinderten leicht zugänglich und zu vernünftigen Zeiten geöffnet. Das Gebäude und seine Einrichtung müssen ansprechend, bequem und freundlich sein; und es ist vor allem wichtig, dass die Leser direkten Zugang zu den Regalen haben.“
Wird es uns je gelingen, diese Utopie zu verwirklichen?
Übersetzung: Burkhart Kroeber
Der Bildband „Bibliotheken“ mit Fotos von Candida Höfer und einem Essay von Umberto Eco ist 2005 im Verlag Schirmer/Mosel erschienen
Umberto Eco, 1932 in Alessandria im Piemont geboren, ist Schriftsteller und Professor für Semiotik an der Universität Bologna. Sein bekanntestes Buch: „Der Name der Rose“
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