- Die Erblast der Lamettaträger
Noch immer kein Schlussstrich: drei neue Bücher mit Hitler-Schaden über die pseudoreligiöse Ekstasebereitschaft Nazi-Deutschlands und seine kleine, gemeine, tödliche Wirklichkeit.
E.M.Cioran: „Über Deutschland. Aufsätze aus den Jahren 1931-1937“, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2011; 231 Seiten, 17,90 Euro – Der Schwulst, der Schwampf, der Krampf: Nun machen wir uns auf zu einer kleinen Reise ins braune Herz der deutschen Finsternis. Glanz und Gloria! Pauken und Trompeten! Ein Volk verklärt sich, ein Volk stürzt ab, einem Volk bricht das Herz! (Vorher hat es ein paar Millionen anderen viel prosaischer das Herz gebrochen, die sind nicht mehr.) Wir beginnen mit dem Schwampf in Reinkultur. E.M.Cioran ist der Abgott aller depressiven Intellektuellen; mehr Sänger als Philosoph. Im Jahr 1933 ist er 22 Jahre alt und schreibt in seinem Heimatland Rumänien das Buch „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“: „Es gibt keinerlei Argumente für das Leben (…) Auf der Verzweiflung Höhe wirft die Leidenschaft fürs Absurde als einzige noch dämonisches Licht auf das Chaos.“ Er reist nach Berlin. Er braucht Halt. Er findet ein Volk, das einen hat, der ihm Halt gibt: Hitler. Und er beneidet die Deutschen fanatisch um den „Kult des Irrationalen, die Verherrlichung der Lebenskraft als solcher, das mannhafte Ausgreifen der Kräfte, ohne kritischen Geist“. Aus Ciorans Verzweiflung über die Leere des Lebens wird die Anbetung des „Elans der verzweifelten Tat“, dieser verführerischen „Mischung aus Barbarei, Enthusiasmus, Verzweiflung und Überschwang“. Das ist eine Art geistiger Extrembergsteigerei. Die intellektuelle Verausgabung setzt Endorphine frei: „Um den Geist des heutigen Deutschland zu verstehen, ist es nötig, dass man alles Übertriebene unbedingt liebt, alles, was einer maßlosen und überschäumenden Leidenschaft entspringt, dass man sich für alles begeistert, was irrationaler Aufschwung und bestürzende Monumentalität ist.“
Cioran schickt seinen ganzen Überschwang in die Heimat, wo die Texte in Zeitschriften gedruckt werden. Er verachtet Rumänien, dieses Land „an der Mündung der Donau“, das „den Mut zum eigenen Dasein nicht hat“. Ekstase will er saufen, bis er es vergessen kann. Später hat Cioran erschöpft von seinen Ergüssen Abstand genommen. Der neue Suhrkamp-Band mit seinen Schriften „Über Deutschland“ ermöglicht einen Blick auf diesen beispielhaften nackten Wahn. Und auf das historische Angebot des Faschismus als Kirche des bedingungslosen Glaubens an die reine Tat, mit der man die Zivilgesellschaft rücksichtslos zerschmettert, um deren Widersprüche endlich nicht mehr aushalten zu müssen.
Thomas Harlan: „Veit“; Rowohlt-Verlag, Reinbek 2011; 165 Seiten, 17,95 Euro – Der Schwulst, der Schwampf, der Krampf, Teil zwei: Wer würde Thomas Harlan keinen schweren Hitler-Schaden zugestehen? Sein Vater Veit war Regisseur der berüchtigten Nazi-Propagandafilme „Jud Süß“ und „Kolberg“, seine Stiefmutter hieß Kristina Söderbaum. Bei Harlans gingen die Lamettaträger ein und aus. So eine Erblast wäre für jeden zu schwer zu tragen. Thomas Harlan bleibt nach dem Untergang des Tausendjährigen Reiches offenbar hin- und hergerissen zwischen wilder Rebellion und sehnsüchtigen Versöhnungsversuchen. Der Sohn schreibt ein Theaterstück über das Warschauer Ghetto; als der Regisseur ausfällt, zieht er den zugleich verhassten und geliebten Vater Veit hinzu und gibt ihm eine Chance, sich reinzuwaschen: Vergangenheitsbewältigung und unauflösliche Verstrickung als Familiendrama. Auch Gewalt gehört dazu. Als Thomas Harlan seine Freundschaft mit dem dämonischen Klaus Kinski beschreibt, nennt er sich selbst den wüsteren der beiden. Gemeinsam zünden die beiden ein Kino an.
Der schwer kranke Thomas Harlan hat sein Buch „Veit“ über den Tod des Vaters auf Capri und über manches, was dazugehört, nicht geschrieben, sondern diktiert. Wenige Wochen nach Abschluss der Arbeit starb er. Bei allem Respekt vor der Tragik dieser Geschichte kann man nicht verschweigen: Es bleibt ein Unterton von Schwulst und Schwampf und Krampf. Man hält eher einen Mystifikationsversuch als ein Werk der Selbstbefreiung in den Händen. Und wenn Harlan den Vater – ganz große Oper! – anfleht, ihn sein Kreuz tragen zu lassen („Vater, Du Geliebter, Verstockter, höre doch! Ich habe Deinen Film gemacht (…) Ich habe Jud Süß gemacht.“), sieht man den Autor ein Rührstück inszenieren, um von der schaurigen Größe des Vaters am Ende doch noch ein Stück abzubekommen. Diese pseudoreligiöse Ekstasebereitschaft, die sich vor der des jungen Cioran nicht verstecken muss, dieses Übermaß an Rührung durchzieht das ganze Buch.
Rührung trägt nie zur Aufklärung bei. Das tut anderes in diesem schmalen Band. Fast 50 der 160 Seiten nimmt ein Anhang ein, der einem kalt das Nazi-Erbe der jungen Bundesrepublik vorführt. Und auch im Haupttext kommt es zu gespenstischen Begegnungen mit „Herren der älteren Art, Herrenreitern, (…) nationalen Erbschleichern, die am Tropf der alten Herrschaft hingen und das Vaterland molken“. Kurt Georg Kiesinger gehört zu ihnen, deutscher Bundeskanzler von 1966–69, er „sei gefährlich gewesen, hatte mein Vater einmal gesagt, ein Nationalsozialist alter Schule, vor dem frei zu sprechen man sich hüten solle“. Und mehr noch solcher Gestalten in „vornehm geschneiderten Trachtenjacken“. Dieses Fass möchte man heute gerne noch einmal aufgemacht sehen.
Hans Fallada: „Jeder stirbt für sich allein“, ungekürzte Neuausgabe; Aufbau-Verlag, Berlin 2011; 704 Seiten, 19,95 Euro – Der Elan der verzweifelten Tat, das mannhafte Ausgreifen ohne kritischen Geist – das ist eine tolle ästhetische Pose. Das war das Deutschland des Wahns. Die Wirklichkeit, das war das kleine, gemeine und tödliche Großdeutschland aus Tausenden von verschreckten Denunzianten, Dieben, Mördern, Kriegs- und Judenvernichtungsgewinnlern. Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“, ein Roman aus dem Widerstand gegen Hitler, erzählt von der Grausamkeit einer Welt, die sich den eigenen Schwulst und Schwampf geglaubt hat. Nach 64 Jahren erscheint das Buch jetzt wieder auf Deutsch, zum ersten Mal in einer rohen, ungekürzten Fassung, weil es plötzlich im Ausland zu einem Überraschungserfolg geworden ist.
Fallada hat den dicken Roman in acht Wochen Ende 1946 geschrieben. Er hat Gestapo-Akten genommen und in das Gefäß des Spannungs- und Unterhaltungsromans gegossen. Ein großartiges Buch. Ort der Handlung: Mietskasernen und Fabriken zwischen Prenzlauer Berg und Alexanderplatz in Berlin. Ein älteres Ehepaar, im Roman heißt es Quangel, legt in Berliner Treppenhäusern Postkarten mit Parolen gegen Hitler aus. Nach Jahren wird es verhaftet, gefoltert, hingerichtet. Bei Fallada gibt es keine Helden, keine Größe, keine Rettung. Stattdessen ein Geflecht aus Niedrigkeit und Angst, das die Quangels und manch anderen erwürgt. Die Widerstandskämpfer haben einen privaten Anlass für ihre Taten, die sie kleinlich und penibel ausführen – Verbitterung über den Heldentod des Sohnes auf dem Schlachtfeld. Ihr Nachbar, der eine Jüdin verstecken will, tut es mit solcher Herzensenge, dass sie daran umkommt. Und die Herren dieser Welt kennen keinen anderen Weg, ihre Herrenrolle zu genießen, als in Suff und Gewalt. So stapeln sich im Folterkeller der Gestapo die nackten Leichen. Die großen Worte maskieren ein System der gegenseitigen Ausbeutung, in dem ein Nachbar den anderen belauert und anzeigt, wenn er dabei einen Koffer Wäsche abstauben kann.
Cioran 1933 über die Deutschen: „Die Mystik des Blutes führte sie zum mystischen Kult der Erde als des Gegenpols zum Geist. Der Anschluss an die Erde (…) ist für die substanzielle Einwurzelung in eine Nation notwendig.“ Als die Deutschen sich aber eingewurzelt hatten, steckten sie in der Scheiße und brachten die Scheiße über die Welt.
Robin Detje lebt als Autor und Übersetzer in Berlin und arbeitet als Teil der Gruppe "bösediva" an Theaterprojekten
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