- Die Brille auf der Zunge
Geschichten aus der Neurowissenschaft: Oliver Sacks zeigt erneut, wie anpassungsfähig das Gehirn ist.
Oliver Sacks’ Bücher mögen von den Freakshows vergangener Jahrhunderte zehren, aber man kann den ungeheuren Erfolg seiner Krankheitsgeschichten auch anders deuten. Der in den USA praktizierende Neurologe begeistert ein riesiges Laienpublikum, weil in seinen Fallstudien der mitfühlende Arzt und nicht der kaltherzige Wissenschaftler spricht.
«Geradlinige Menschlichkeit» sei das Markenzeichen des Psychiaters, schwärmte ein Kritiker. Das Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» war 1985 ein Megaseller – als hätte man weltweit darauf gewartet, mehr über Autismus, Neurosyphilis und das Tourette-Syndrom zu erfahren. Sacks regt die Empathie und die Neugier seiner Leser an und verwandelt den Grusel in die Erkenntnis, dass das vermeintlich Abnorme nur eine Frage der Perspektive ist: Das neuronale Sein bestimmt das Bewusstsein. Mit seinen neuen Geschichten rund ums Sehen ist ihm das allerdings weniger gut gelungen – vielleicht auch, weil «Das innere Auge» nicht ganz so spektakuläre Krankheiten beschreibt wie der Mann-Frau-Hut-Klassiker.
Die sieben neuen Fallstudien folgen dem Prinzip der letzten Jahrzehnte, in denen Sacks etliche Bände über stumme, blinde oder gehörlose Lebenswelten veröffentlicht hatte. «Das innere Auge» konzentriert sich ganz auf bewusstseinsverändernde Sehstörungen. Das Gehirn ist flexibler und kompensationsfähiger als die Neurowissenschaften lange angenommen hatten, wiederholt Sacks immer wieder. Erkrankungen am Okzipitallappen oder dem visuellen Cortex, also jenen Hirnregionen, die für das Sehen zuständig sind, lassen oft andere Areale einspringen oder erstarken. Die Pianistin Lilian verliert die Fähigkeit, Noten zu lesen; man stellt eine eingeschränkte Stoffwechselaktivität im hinteren Teil ihres Gehirns fest, während ihr musikalisches Gedächtnis zu wachsen scheint. Der Schriftsteller Howard leidet nach einem Schlaganfall an Alexie, einer Erkrankung, bei der man keine Buchstaben mehr erkennen, aber trotzdem noch schreiben kann. Wird er beim Schreiben unsicher, malt er das Wort mit dem Finger in die Luft: «Der motorische Akt tritt an die Stelle des sensorischen.»
Gütiger Doktor-Sound
Leider bestehen Sacks’ Fälle diesmal vor allem aus langatmigen Beschreibungen, die oft auch noch einen peinlichen Therapeutenton anschlagen. Die Geschichte einer Frau etwa, die erst mit fünfzig Jahren das räumliche Sehen lernte, wird in ermüdender Akribie aufgerollt; und die Feier ihrer «mutigen und positiven Haltung, ihrer unbeugsamen Entschlossenheit» klingt ziemlich seicht, manchmal sogar nach Stuhlkreis-Prosa. Übrig bleiben wenige spannende Episoden: Blinde etwa können tatsächlich mit der Zunge sehen – über eine Mikrokamera, die Bewegungen auf die extrem sensitive Zunge überträgt. Und es gibt ein «visuelles Wortformareal» im Gehirn, das für die Erkennung von Buchstaben zuständig ist – obwohl die Kulturtechnik des Lesens erst seit fünftausend Jahren existiert. Hier läuft Sacks zu alter Stärke auf, ohne es mit dem gütigen Doktor-Sound zu übertreiben.
Oliver Sacks
Das innere Auge.
Neue Fallgeschichten
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Rowohlt, Reinbek 2011. 320 S., 19,95 €
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