Das Journal - Der Müll der Moderne

Zygmunt Bauman untersucht die Rhetorik vom «menschlichen Abfall» und entkommt dabei seinen Metaphern nicht

Verwesende Leichen dümpeln auf dem Flutwasser, Menschen harren auf Hausdächern aus, Kinder verdursten in den Notunterkünften; zugleich halten sich die Gerüchte von der weißen Oberschicht, die sich in klimatisierten Bussen nach Texas absetzen konnte: Der Untergang von New Orleans war keine alle gleichermaßen betreffende Natur-, sondern eine soziale Katastrophe, durch die eine ghettoisierte schwarze Unterschicht erfahren musste, wie wenig ihre Regierung bereit ist, Zeit und Geld für den schie­ren Erhalt ihres Lebens einzusetzen.

Die Bilder aus New Orleans stellen sich bei der Lektüre des jüngsten Buchs von  Zygmunt Bauman unwillkürlich ein. Die These des polnisch-britischen Soziologen, dass die nachmoderne Konsumgesellschaft all diejenigen, die am Konsumprozess unbeteiligt sind, als nutzlos und überflüssig betrachtet, lässt die unterlassene Hilfeleistung in New Orleans und Biloxi als nahezu zwin­gen­de Konsequenz eines gewandelten Poli­tikverständnisses erscheinen. Bauman beschreibt, wie die fortschrittsorientierte Ideo­logie der traditionellen Industriestaaten, die doch ein Versprechen an alle sein wollte, zunehmend einem Gesellschaftsmodell weicht, das auf den Ausschluss nicht unmittelbar nützlicher Elemente setzt.

«Verworfenes Leben» nennt Bauman sein Buch in loser Anknüpfung an Giorgio Agambens viel beachtete These, dass die Politik des Abendlandes wesentlich darin bestehe, «nacktes Leben» zu produzieren. Über weite Strecken ist es eine Analyse von rheto­rischen Strategien, die den Planeten Erde als «überfüllt» bezeichnen und daraus einen Entsorgungsbedarf ableiten. Der mittels dieser Rhetorik generierte «menschliche Abfall» wird – zumal seit den Terroranschlägen vom 11. September – kriminalisiert und auf den «Müllhalden» der modernen Gesell­schaft angesiedelt, den «Hyperghettos», wie Baumans Stichwortgeber, der französische Soziologe Loïc Wacquant, sie nennt.


Logik des Wegwerfens

Weder die Stigmatisierung als Abfall noch die These der Überbevölkerung beschreiben dabei existierende Realitäten. Dem ethnologischen Blick auf die eigene Kultur, den Bauman sich zu eigen macht, offenbart sich vielmehr, dass es die immer wieder neuen Grenzziehungen zwischen «uns» und «ihnen» sind, die Abfall erst erzeugen. Und auch die «‹Überbevölkerung› ist eine Fiktion von Aktuaren: ein Codewort für das Auftauchen einer bestimmten Zahl von Leuten, die nicht das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft befördern, sondern das Erreichen – vom Anwachsen ganz zu schweigen – von Indizes, mit denen funktionierende Abläufe ermittelt und bewertet werden, allzusehr erschweren».

Hinter diesem holprig übertragenen soziologischen Jargon verbirgt sich allerdings nicht nur Neues. Das Ende des sozial­staatlichen Sicherheitsmodells und die Produktion von «Vagabunden» beschäftigen Bauman, seitdem er in den neunziger Jahren das «Unbehagen in der Postmoderne» diagnostiziert hat. Das psychoanalytische Bild vom Unbehagen ersetzt er nun durch die nur vermeintlich konkretere Metapher vom Abfall, ohne jedoch deren Implikationen zu reflektieren. Ein Blick in die Wissenschaft vom Müll – von Michael Thompsons «Theorie des Abfalls» (1979) über William Rathjes und Cullen Murphys «Archäologische Reise durch die Welt des Abfalls» (1994) bis zum Mythos Müll in Don DeLillos «Un­terwelt» (1997) – zeigt: Eine Übertragung der Logik des Wegwerfens auf den Menschen muss, bei allem polemischen Effekt, entscheidende Aspekte der Ökonomie des Abfalls verfehlen – allem voran die Möglichkeit, das Verworfene durch neuerliche Wertzuschreibungen zu recyclen. Der Skandal, den Bauman zu Recht im Auge hat, besteht ja darin, dass es aus den Hyperghettos der Konsumgesellschaft gerade keine Rückfahrkarte mehr gibt.

Vor allem aber muss sich Bauman fragen lassen, ob seine eigene Rhetorik ihren Gegenstand überhaupt zu greifen bekommt, wenn er die neoliberale Exklusionsrhetorik analysiert. Gegen Ende des Buchs verfängt sich die Darstellung immer mehr in Gemein­plätzen der Kulturkritik. Anthropologische Klischees und Sündenbock-Topoi wechseln sich mit mehr oder weniger willkürlichen Beispielen für den Verfall der westlichen Welt ab. Wenn eine Theorie des Abfalls darin aufgeht, uns, anhand von Scheidungsstatistiken oder Instantkaffee, vorzuhalten, wir hätten keine bleibenden Werte mehr – für Bauman wären das die «echten Netzwerke der Verwandtschaft, Freunde und Schicksals­gefährten» –, ist ihr eigenes Verfallsdatum bereits abgelaufen.

Baumans Buch, das als Anklage gegen die ungeheuerlichen Schattenseiten der Konsumgesellschaft einsetzt, schließt mit vermeintlich selbstevidenten Belegen für einen generellen Werteverfall, die im Gewand herkömmlicher Kulturkritik die politische Dimension des Problems verfehlen. Die entscheidende Herausforderung, vor welche die Produktion menschlichen Abfalls eine Theo­rie der nachmodernen Gesellschaft stellt, ist das Wiederentstehen des Proletariats: Doch dieses Mal wird es – allen Versuchen Oskar Lafontaines zum Trotz, den Marxis­mus mithilfe der Verworfenen von «Hartz IV» zu re­animieren –  ganz ohne revolutionäre Uto­pie auskommen müssen. In diesem Licht ist New Orleans die Mülldeponie nicht nur des amerikanischen Traums.

 

Zygmunt Bauman
Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne
Aus dem Englischen von Werner Roller.
Ham­bur­ger Edition, Hamburg 2005. 180 S., 20 €

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