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(picture alliance) "Die Demokratie muss zurück zu vermeintlich „alten“ Werten"

Friedbert Pflüger - Dem Kapitalismus fehlt das Korrektiv

Die Systemfrage ist wieder da. Die Exzesse des Kapitalismus gefährden die Demokratie. Hat die Linke mit ihrer fundamentalen Systemkritik also doch Recht? Nein, sagt Friedbert Pflüger. Die Marktwirtschaft müsse einen alten Wert neu entdecken – die Gerechtigkeit.

Hat die Linke doch Recht? Mit dieser Frage hat der konservative britische Publizist Charles Moore eine wichtige Debatte angestoßen, die in Deutschland etwa von Frank Schirrmacher, Michael Naumann und Josef Joffe aufgegriffen wurde. Schirrmacher konstatierte in der FAZ, dass die politische Praxis in den Zeiten „enthemmter Finanzmarktökonomie“ nicht nur belege, „dass die gegenwärtige ‚bürgerliche’ Politik falsch ist, sondern (...) dass die Annahmen ihrer größten Gegner richtig sind“. In der Tat stellt sich zwei Jahrzehnte nach dem durchschlagenden Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft über die kommunistische Planwirtschaft heute das erste Mal wieder die grundsätzliche Systemfrage. Die Marktwirtschaft und zunehmend auch die parlamentarische Demokratie befinden sich in einer Legitimationskrise.

Das gilt nicht zuletzt für Deutschland. Bei einer vom Deutschen Bankenverband in Auftrag gegebenen Umfrage vom November 2010 waren nur 48 Prozent der Deutschen der Auffassung, die deutsche Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft habe sich bewährt – der schlechteste je in dieser Umfrage ermittelte Wert. 71 Prozent der Befragten glauben, es gehe in unserer Gesellschaft sozial „eher ungerecht“ zu. Die globale Finanzkrise, die dramatische Verschuldung der öffentlichen Hand und nicht zuletzt die demographische Schieflage erschüttern das Vertrauen in zentrale soziale Errungenschaften. Die Rente ist eben nicht mehr sicher, das Gesundheitssystem ist längst an seine Grenzen gestoßen und in der Bildung entscheidet der Geldbeutel der Eltern mehr als Talent und Fleiß über den zukünftigen Status der Kinder. Zwar gibt es wieder mehr Arbeit, aber die ist oft so schlecht bezahlt, dass die Familie davon nicht ernährt werden kann. Der Satz, wonach es dem Einzelnen gut geht, wenn es den Unternehmen gut geht –  er trifft nicht mehr zu.

Schichtenübergreifende Unzufriedenheit

Klage aber führen keineswegs nur die sozial Schwachen. Kritik und Abwendung sind fast noch stärker in den Mittelschichten verbreitet. Hier herrscht der Eindruck, dass Leistung sich nicht mehr lohnt, dass man als ehrlicher Arbeiter oder sozial verantwortlicher Unternehmer zwar den Mehrwert in Wirtschaft und Gesellschaft produziert, aber eine überbordende Bürokratie, Finanzspekulanten und Sozialschmarotzer davon profitieren. Nicht in erster Linie die Plünderungen in London, brennende Autos in Berlin, Protest der Studenten in Chile oder der Aufstand gegen Sparmaßnahmen in Spanien oder Griechenland beunruhigen – sondern vor allem der (noch) stille Protest aus der Mitte der Gesellschaft bietet Anlass zur Sorge.

Aber sind an all dem „die Wirtschaft“, „der Markt“ oder „die Finanzmärkte“ schuld? Oder liegt das Versagen nicht in erster Linie an der Unfähigkeit der Politik, für die globalisierte Wirtschaft einen gerechten Ordnungsrahmen zu schaffen?

So droht der Vertrauensschwund in die Gerechtigkeit der Wirtschaftsordnung zunehmend auch die Demokratie zu beschädigen. In der oben erwähnten Umfrage glauben 81 Prozent der Befragten, die politischen Führungskräfte würden ihren Aufgaben „nicht gerecht“. Immerhin knapp die Hälfte, nämlich 44 Prozent der Befragten, zeigten sich mit der Demokratie in Deutschland als solcher „eher unzufrieden“! Für politische Parteien sehen die Zahlen noch schlechter aus. Zu ihnen haben einer anderen Umfrage zufolge 74 Prozent der Befragten „wenig“ oder „kein“ Vertrauen. Der in der Bonner Republik gelebten kritischen Sympathie, die mündige Bürger dem Gemeinwesen entgegenbrachten, folgte zunächst eine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber Gesellschaft und Staat. Heute greift darüber hinaus spürbar Verachtung gegenüber Regierung und Parlament um sich.

Was sind die Gründe für diese Entwicklungen?

Der Wettbewerb mit dem Sozialismus machte den Kapitalismus sozial

Solange hinter dem „Eisernen Vorhang“ der real existierende Sozialismus wohnte, mussten sich Demokratie und Kapitalismus anstrengen. Im Systemwettbewerb des Kalten Krieges waren sie gefordert, immer wieder den Nachweis zu erbringen, für die breite Mehrheit der Menschen mehr persönliche Freiheit, Gerechtigkeit und Aufstiegschancen zu ermöglichen.

Über Jahrzehnte hinweg hat der real existierende „Sozialismus next door“ durch seine schiere Existenz besonders in Deutschland dazu beigetragen, den Kapitalismus sozial zu machen und zu humanisieren. Die Marktwirtschaft musste sich ständig weiterentwickeln, um in der Systemkonfrontation zu bestehen. Das ursprüngliche Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards war nichts anderes als die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen dem Freiheitsgedanken des Kapitalismus und der Gleichheit, die sich der real existierende Sozialismus auf die roten Fahnen schrieb. Durch verantwortete Freiheit mit einem klaren Ordnungsrahmen sollte „Wohlstand für alle“ garantiert werden. In den Worten Erhards: „Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums, auch nicht das ‚freie Spiel der Kräfte’ oder dergleiche Phrasen, sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die den Wert der Persönlichkeit oben anstellt und der Leistung dann aber auch den verdienten Ertrag zukommen lässt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung“ (28. August 1948).

Aber leider: Nach dem eindrucksvollen Sieg von Demokratie und Markt über die kommunistische Diktatur wurden die Sieger selbstgerecht. Statt sich kontinuierlich weiterzuentwickeln, begannen die Gewinner unbeschwert, sich selbst zu „frönen“. Im Laufe der Zeit wurde vergessen, dass es das es vor allem auch die Gerechtigkeit ist, welche die freiheitliche Ordnung rechtfertigt. Die Marktwirtschaft legte zuwenig Wert auf ihre soziale Dimension und versklavte sich stattdessen der schnellstmöglichen Gewinnmaximierung. Plötzlich prägten Neid und Gier – beides gehört zusammen – große Teile des wirtschaftlichen Lebens. Dabei entstanden Blasen und Spekulationen, die nicht nur mit der Realwirtschaft immer weniger zu tun hatten, sondern von denen auch kaum jemand wusste, was sie eigentlich bedeuten. „Credit Default Swaps“, „Bad Banks“ und „Asset Backed Securities“ traten so an die Stelle verlässlicher und auch liebgewonnener Größen wie Umsatz, Gewinn und Handelsbilanzen. Wie viele der heute angebotenen „synthetischen“ oder „hybriden“ „Finanzmarktprodukte“ haben noch einen Bezug zur Realwirtschaft? Ist die Börse noch Börse, oder nicht inzwischen eine Art Wirtschaftstoto, ein Wettbüro für Zocker und Abenteurer? Viele Bürger, nicht nur überzeugte Marxisten, fragen heute, wer denn im 21. Jahrhundert regiert: die vom Volk gewählte Regierung oder die großen Fonds in Fleet- und Wallstreet? 

Im Herrschaftssystem der Demoskopen

Ein ähnlicher Vertrauensverlust lässt sich gegenüber der demokratischen Praxis feststellen. Es sind nicht mehr die großen Linien, die das Handeln vieler Politiker bestimmen, sondern die möglichst schnelle Maximierung der Wählerstimmen – egal welche ideologischen Sprünge es auch immer kosten möge. Wahlkampf gibt es nicht mehr alle vier Jahre, sondern immer. Statt großer Führungsleistungen, nicht selten gegen die öffentliche Stimmung – wie bei der Westbindung Deutschlands, dem NATO-Doppelbeschluss oder der Einführung des Euros – läuft die Politik heute vor allem den Trends hinterher. Grundsatzdebatten wie früher bei der Ostpolitik werden tunlichst vermieden - stattdessen wurde die letzte Bundestagswahl mit der höchst eindrucksvollen Strategie gewonnen, jeden Konflikt zu vermeiden, um nur den Gegner nicht zu mobilisieren. Wir leben in einer Stimmungsdemokratie, im Herrschaftssystem der Demoskopen.

Einzig: Der Wähler hält nichts von Anbiederung. Ein Zickzack-Kurs zwischen Verantwortung und Populismus in der Europapolitik, zwei totale Kehrtwendungen bei der Kernenergie in nur 10 Monaten, ein Votum im UN-Sicherheitsrat ohne Rücksicht auf Verbündete und eigene außenpolitische Traditionen - da fragen nicht nur Gegner, wo denn der Kompass geblieben ist.  

Stattdessen sehnen sich die Menschen nach Orientierung und inhaltlicher Klarheit. Ein Beispiel dafür ist nicht zuletzt der Höhenflug der Grünen. Dieser ist fast ausschließlich mit einem Thema verbunden, bei dem sie jahrzehntelang gegen Wind und Wetter Kurs gehalten haben – dem Ausstieg aus der Atomenergie. In Zeiten gefühlter inhaltlicher Beliebigkeit ragt eine solche Überzeugung turmhoch aus dem Wirrwarr der alltäglichen Widersprüche, Kehrtwendungen und Relativierungen.

Natürlich hat die Linke mit ihrer fundamentalen Systemkritik Unrecht. Es bleibt bei Karl Poppers großer Weisheit: „Jeder Versuch, den Himmel auf Erden zu schaffen, produziert stets die Hölle“. Dennoch bleibt das Thema ernst. Die Legitimation von Demokratie und Marktwirtschaft muss wiederhergestellt werden. Wir müssen die Herzen der Menschen für unsere Ordnung zurückgewinnen.

Zurück zu alten Werten

Um dies zu erreichen, muss die Marktwirtschaft einen alten Wert neu entdecken – die Gerechtigkeit. Dem marxistisch-linken Gerechtigkeitsverständnis „Alles für Alle“ stellt die soziale Marktwirtschaft ihre überzeugende Vorstellung der Leistungsgerechtigkeit gegenüber. Diesen Anspruch müssen wir wieder mit Leben erfüllen – denn mit ihm steht und fällt die gesellschaftliche Legitimität unseres Wirtschaftsmodells. Ein Kapitalismus, in dem Menschen trotz ehrlicher Arbeit kaum ihre Familien ernähren können, in dem der Geldbeutel der Eltern über das gesellschaftliche Vorwärtskommen der Kinder entscheidet und in dem jahrzehntelange Aufbauarbeit an einem Unternehmen durch Wildwest-Spekulationen beendet wird, ist weder sozial noch gerecht.

Finanzmarktregulierung und Wettbewerb sind keine Gegensätze. Es ist unerträglich, dass die Finanzmärkte auf die Ausfallhaftung des Staates wetten und dieser dann fast wehrlos dar steht. Benötigt wird deshalb ein Regelwerk, das der Macht der Finanzmärkte Grenzen setzt – sonst geht ein Staat nach dem anderen in die Knie. Dies ist nicht nur eine Anforderung an die Wirtschaft oder die Finanzmärkte, sondern in erster Linie eine Anfrage an die Politik, endlich den Erhard’schen Ordnungsrahmen auch für die internationale Wirtschaft unserer Tage zu setzen. Wenn es der Politik nicht gelingt, diesen (wieder) herzustellen, werden sich diejenigen bestätigt fühlen, die in den Politikern schon immer die „Tanzbären der herrschenden Klasse“ gesehen haben.

Unternehmer und Arbeitnehmer müssen zum Gelingen einer sozial gerechten Wirtschaftsordnung an einem Strang ziehen. Gerade in Deutschland gibt es eine großartige Tradition mit Tarifautonomie, Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft, mit der gelebten Verantwortung des (patriarchalischen) Familienunternehmers für seine Mitarbeiter und der Orientierung der Unternehmensziele an langfristigem Erfolg, nicht an kurzfristigem Shareholder Value. Aber wieder gilt: Nicht „der Wirtschaft“, „den Konzernen“ oder „den Banken“ sollten in erster Linie Vorwürfe gemacht werden, sondern vor allem ist die Politik – und nicht zuletzt die europäische Politik – gefordert, mit kluger Rahmensetzung eine an der Realwirtschaft orientierte faire Wettbewerbsordnung zu ermöglichen.

Die Demokratie muss zurück zu vermeintlich „alten“ Werten. Damit ist nicht jeder Staub der Bonner Republik gemeint, wohl aber Mut zu Entscheidungen, Konturen, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit. Wer als Politiker die Menschen gewinnen will, muss glaubhaft „für etwas stehen“. Man erwartet von ihm, als „Überzeugungstäter“ auch an etwas festzuhalten, wenn ihm der Wind ins Gesicht bläst – und, dass er notfalls geht, wenn er spürt, dass er mit seinen Überzeugungen nicht durchdringt. Man sehnt sich nach authentischen, lebenserfahrenen „Typen“. Verachtung findet dagegen der smarte, stets geschmeidige, vor allem auf die eigene Karriere bedachte, und sich deshalb immer in alle Richtungen absichernde Nullrisiko-Politprofi – auch wenn dieser vielleicht der bessere Redner ist. Dazu passt die Mahnung von Papst Benedikt XVI. bei seiner Rede im Deutschen Bundestag, der eigentliche Grund für die Arbeit eines Politikers dürfe „nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn“, sondern müsse die Gerechtigkeit sein.

Bei alldem bleibt klar: Die Ursache der Legitimationskrise der Demokratie liegt immer bei der „kratie“, also der Herrschaft, nicht beim „demos“, also dem Volk. Man kann das Volk nicht absetzen und ein neues wählen. Deshalb bleibt der Politik nur eines - demütig jeden Tag beim Bürger Überzeugungsarbeit zu leisten. Ohne Zweifel versuchen dies viele Politiker und sicher oft nicht ohne Erfolg – es ist eine gewisse Tragik, dass das ehrliche Bemühen vieler Volksvertreter im allgemeinen Verdruss nur selten Anerkennung findet.

Die dringende Aufgabe, die Herzen der Menschen zurückzugewinnen, richtet sich parteiübergreifend an alle, die an eine offene und freiheitliche Gesellschaft glauben. Die Aussicht auf ein Nicht-Gelingen macht Angst. In der Krise der Mitte werden die Ränder stärker. Es ist dabei nicht ausgemacht, dass es der linke Rand ist, der profitieren würde. Im Gegenteil könnten es genauso gut nationalistische, national-sozialistische Brandstifter sein, die die Unzufriedenen „aufsammeln“ und mit ihrer menschenverachtenden Ideologie in die entstandenen Lücken eindringen.

In der Weimarer Republik galt das Parlament als „Schwatzbude“, die Regierungen waren der Aufgabe nicht gewachsen, die enormen wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu bewältigen. So wurde den radikalen Rattenfängern der Boden bereitet. Soweit sind wir zum Glück noch nicht. Die bestehende Ordnung heute profitiert davon, dass es (bisher) keine überzeugende Alternative zu ihr gibt. Noch ist die kollektive Erinnerung an die zwei deutschen Diktaturen zu frisch. Noch gibt es kein ideologisches Band, dass die schichtenübergreifende Unzufriedenheit bündeln könnte. Das bietet eine Chance zur Reform der bestehenden Ordnung, um die Menschen für Demokratie und (soziale) Marktwirtschaft zurückzugewinnen. Sie muss aber schnell und entschieden ergriffen werden.

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