- „Das Beste wäre, es gäbe Gott nicht“
Die Freude war groß, als der große Geschichtenerzähler Janosch uns ein Interview gewährte. Das Unterfangen entpuppte sich dann als Experiment mit einer Unbekannten – dem Interviewten selbst
Nur spärlich äußert sich Janosch in der Öffentlichkeit. Dann scheinen ihm Fragen zur Tigerente zuwider, Erkundigungen nach Bär, Tiger und Panama banal. Am liebsten beantworte er die Fragen schriftlich, schrieb der 81-Jährige per Mail von seinem Wohnsitz Teneriffa – denn das hohe Alter mache ihm zu schaffen und ein Telefonat unmöglich. So machten wir es denn auch.
Herr Janosch, die Geschichten der Brüder Grimm werden
dieser Tage 200 Jahre alt. Sie haben einige von ihnen variiert und
nacherzählt. Da zieht der glückliche Hansl in den Krieg und freut
sich, dass ihm nur das eine Bein weggeschossen wird und Rapunzels
Mutter in Spe erleidet eine Fehlgeburt – mit Rapunzeln. Waren Ihnen
die Märchen der Grimms zu weichgespült?
Die Märchen umzuschreiben war ein Husarenstreich, eine
Eulenspiegelei und der Grund des Lektors Gelberg war: die “alten”
Tanten mit ihrer Märchenliebschaft zu verärgern. Das ist uns total
gelungen. Ottfried Preussler heulte am lautesten. Was haben wir
gelacht. Meistens trank ich vor der Schreibmaschine ein wenig Gin
und dann schrieben sich die Geschichten von selbst.
[gallery:Janosch: Gelitten am Katholizismus]
Es heulten also viele?
Nein. Sehr wenige. Öffentlich nur fünf auf der Welt. Womit sie sich
als zu einer Gruppe von Leuten (also alle waren Lehrer) zugehörig
zu erkennen gaben, welche wir intelligenten Schüler schon
seinerzeit in der Schule nicht hoch schätzten. Aber es ist ja gut,
wenn man sie erkennt.
Zuhause lesen wir gerade die Geschichte von der Grille,
die den ganzen Sommer über Geige spielt und nun im Winter kein
warmes Zuhause hat. Der blinde Maulwurf erbarmt sich dann ihrer.
Meine dreijährige Tochter sieht die Grille im schönen rosa Kleid.
Ich sehe eine luftige Dame mit roten Lippen und hohen Hacken, die
der Männerwelt nachstellt. Wer Ihre Märchen liest, sollte wissen,
was Steuerhinterziehung und Bewährungsstrafe bedeuten. Schreiben
Sie Ihre Geschichten in Wahrheit für die armen gelangweilten
Eltern, die die Nase voll haben von den ewig vereinfachten
Kinderbücherplots?
Meist schreibe ich Geschichten, die ich erlebt habe. Das macht
weniger Arbeit, als welche zu erfinden und ich habe 9401
Geschichten erlebt. Fragen Sie mich jetzt bloß nicht, ob ich sie
zählte! Ja. Natürlich um dafür bezahlt zu werden. Wie ein
Straßengeiger. Leichter kann man doch das harte Geld nicht
verdienen.
Das besagte Erlebnis war: Die Grille war ein Mädchen, das nicht
arbeiten wollte, aber eine freundliche Sexuelle war, die sich gegen
Kost, zeitweilige Unterkunft und gütiger Zuwendung zur
beiderseitigen Freude anbot, im Winter bei geheizter Wohnung, im
Sommer auf dem Feld oder am Ufer eines Meeres. Wie eine Art
himmlische Musik. Welcher alte Maulwurf lässt sich auf den Handel
nicht ein! Also ich war der eine – und sie war die andere. Das war
vor 39 Jahren.
Es dauerte bis zum Ende der Saison.
Dann ging sie weiter.
Ich blieb.
Dieses gleiche Erlebnis beschrieb ich auch in dem Buch “Sandstrand”. Ohne Märchen. Alles exakt wahr. Das muss Ihre Tochter jetzt noch nicht verstehen, falls Sie nicht wollen, dass sie mit so einem Frohsinn ihr Leben gestaltet. Aber warum eigentlich nicht!
Was eine Bewährungsstrafe und Steuerhinterziehung bedeutet, sollen die Eltern erklären. Ich weiß nicht mehr, wo ich das hinschrieb. Damit sind sie mit Ihrer Tochter erst einmal 3 Wochen beschäftigt und sind so lange nicht mehr arm und gelangweilt.
Haben Sie einen Lieblingsmärchenhelden?
Immer der Maulwurf. Ich habe mein Leben an seinem Verhalten
ausgerichtet. Sich verkriechen. Blind sein. Und die Grillen
bewirten.
Nächste Seite: Die Frage nach der Moral
Wie wichtig ist der Moralfaktor im Märchen? Oder ist
Moral heute sowieso überholt? Können Märchen die letzte Rettung
sein für Kinder aus einer kaputten Gesellschaft?
Omeingooottt, das weiß ich nicht. Woher sollen Kinder ihre Moral
denn überhaupt holen? Am besten bei den Eltern. Durch Vorleben. Und
Moral worin? Was ist die wahre Moral? Ich selbst bin Partisane.
Ketzer. Meine Moral kommt aus dem Himmel. Die Dompfaffen haben nur
einen Partner im Leben. Die Affen haben 432 Partner. Der reguläre
Mensch zwischen 12 und 41. Also was ist Moral? Na gut: das meiste
ist ohne Moral. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, was Moral ist.
Vielleicht: kein Schwein sein, niemandem schaden, jedem helfen, der
Hilfe braucht und so weiter. Dem Verwundeten die Hand einschienen.
Ach, lesen Sie doch im Lexikon nach, da ist es erklärt.
[gallery:Janosch: Gelitten am Katholizismus]
Sie sagen also, die Gesellschaft ist kaputt und warum? Ich sage: weil Gott den Menschen nach „seinem Bild und Gleichnis schuf“. Das war ein Fehler. Von der Schöpfung her ist der Mensch eine Sau. Die meisten jedenfalls. Ich nicht so sehr. Also ist Gott schuld. Das Beste wäre, es gäbe Gott nicht. Dann würde jetzt nicht „sein Wille“ geschehen. Da beten doch die Leute: „Dein Wille geschähe…“ und als gütiger Gott und nach seinem Versprechen erhört er die Gebete der Frommen. Gute Erklärung – oder nicht?
Sie selbst leiden noch immer an Ihrer
schwer-katholischen Erziehung, an plastischen Bildern von Teufel
und Hölle. Sind die brutalen Märchen nicht gefährlich für die
Seelen der Kinder? Oder trauen wir ihnen zu wenig zu?
Bei den Märchen werden die Kinder nicht gezwungen, sie zu glauben.
Nur der Katholik wird gezwungen, die Bibel zu glauben. Nichtglauben
führt direkt in die Hölle. Das ist eine massive Drohung ohne Ende –
für ewig im Feuer der Hölle. Damit sind die Märchen ungefährlich.
Ab zwölf glaubt kein Kind mehr an Hänsel und Gretl. Aber der Bibel
muss er ewig glauben.
Der Papst sagte im Fernsehen beim Hinausgehen aus der Tür: „Die Kirche zwingt niemanden.“ Was für ein Blödsinn! „Wir zwingen niemanden, katholisch zu sein. Keine Sünden zu begehen. Kein Geld an die Kirche zu zahlen.“ Aber: Tut der Mensch das nicht ungezwungen freiwillig, landet er im ewigen Feuer der Hölle. Und nun geht dahin und tut was ihr wollt. Ohne Zwang.
Sie sagten einmal, Sie seien nie stolz auf Ihre Arbeit
gewesen. Das ist hoffentlich Quatsch, oder?
Ist kein Quatsch. Der Zustand „Stolz“ zu erleben, ist mir nicht
möglich. Ich wäre nicht einmal stolz, wenn ich 2000 Menschen
gerettet hätte. Ich habe probiert zu erfühlen, wie Stolzsein sich
anfühlt. Das geht bei mir nicht. Ich habe keinen Sinn für das
Gefühl. Nach einer großen Tat würde ich mit Sicherheit fliehen. Ein
Geburtsfehler. Wie seit der Geburt Blindsein, ich kam so auf die
Welt. Das will ich auch nicht ändern.
Einmal war ich stolz. Ich war neun Jahre alt und bekam in der Hitlerzeit eine Auszeichnung für Kunst und wurde rot vor Stolz. Das ist mir heute noch unerträglich. Im Übrigen gehört Stolz philosophisch zu den erbärmlichen Eigenschaften und sogar nach dem Katechismus zu den Todsünden. Also kommen Sie mir bloß nicht mit „Stolz sollte sein“. Für mich ist Stolz eine Art von Dummheit.
Herr Janosch, vielen Dank für Ihre Antworten.
Die Fragen stellte Marie Amrhein
Janosch erzählt Grimm’s Märchen, 1996, Beltz&Gelberg
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