- Der Osten brilliert – und rührt
Jafar Panahi schmuggelte das Material für seinen Film „Taxi“ aus Iran – und wurde Sieger der diesjährigen Berlinale. Das 65. Filmfestival war ein durchschnittlicher Jahrgang, und doch weit mehr als nichts. Eine Bilanz
Was wird haften bleiben von dieser Berlinale, der fünfundsechzigsten?
Wenig, es war ein durchschnittlicher Jahrgang, und doch weit mehr als nichts. Wenn im Film die Zeit zum Bild gerinnt, dann kann die Zeit das Bild wieder verflüssigen. So geschah es bei den Vorführungen eines für westliche Augen und Ohren hemmungslos hermetischen Bilderrauschs aus China, einer hektischen Burleske von Jiang Wen mit Namen „Gone with the bullets“. Die Geschichte spielte in den 1920er Jahren, hatte einen Wettbewerb um die schönste Prostituierte und die Flucht des veranstaltenden Nachtclub-Besitzers vor der Polizei und finsteren Gesellen irgendwie zum Inhalt, schwelgte aber vor allem in europäischer und amerikanischer Schmachtfetzenmusik nebst Tanzeinlagen. Shanghai war hier ein quietschbunter Vorort von Hollywood, Paris, London. Aus unerfindlichen Gründen hieß es im Mittelteil mehrfach „Nachrichten aus der Ukraine“, „Frieden für die Ukraine“. Ein Zettel wurde staunenden Auges verlesen. Das war er, der magische Moment an unvermuteter Stelle: aus der Mitte des Films entsprang ein Fluss, der die Zeiten verband und den Pfeil umkehrte. Plötzlich war mit konkreter Gegenwärtigkeit das doppelt Vergangene aufgeladen.
Ukrainisch-russische Produktion „Under electric clouds“ mit bester Kamera
Dem herbei fabulierten Frieden im Kriegsgebiet entsprach die tatsächlich friedliche Zusammenarbeit von Russen und Ukrainern und Polen in der elegischen Bilderfantasie „Under electric clouds“. Dass Evgeniy Privin und Sergey Mikhalchuk den Silbernen Bären für die beste Kamera erhielten, leuchtet augenblicklich ein, gar zu meisterhaft malten sie mit Perspektiven- und Farb- und Stimmungswechseln zwischen menschenleerer Schneewüste und herrschaftlichen Innenräumen, Brücken und Hochhäusern, Feldern und Dächern ein Panorama bröckelnder Zivilisation. Die eher athletisch zu würdigende Kameraarbeit Sturla Brandth Grøvlens in der 140-minütigen Plansequenz „Victoria“ von Sebastian Schipper, einer Berliner Großmaulballade ohne Stringenz und Sinn, wurde gleichfalls mit dem Silbernen Bären bedacht.
Der Fernere Osten, der sich schon mit „Gone with the bullets“ von seiner rätselhaftesten Seite gezeigt hatte, blieb auch mit der japanischen Erleuchtungsgroteske „Chasuke’s Journey“ ein Kontinent voller Mysterien, sogar im buchstäblichen Sinn. Ein Engel kommt auf Erden, um das im Himmel geschriebene Drehbuch für eine junge Frau durch sein persönliches Eingreifen zu einem guten und eben nicht, wie vorgesehen, vorzeitig tödlichen Ende zu bringen. Göttliche Kräfte setzt er ein, um Kinder von schlimmen Krankheiten zu heilen, allein durch Blick und Berührung. Er wird, halb im Scherz, Erlöser genannt. Einmal leuchtet ein riesiges goldenes Kreuz vom Dach des Samariter-Hospitals herab, und eine junge Hochbegabte singt Gounods „Ave Maria“. Slapstick und Gewalt, Melodrama und Mediensatire reden in einem Kauderwelsch, weniger in Zungen auf das Publikum ein. Die Moral aber ist ernst gemeint: Beten hilft, und der Mensch ist kein Gefangener seines Schicksals. Japan erinnerte so den Westen an die eigene, die christliche Geschichte – welch erstaunliche Wendung am Ende der Berlinale: Ex oriente spes.
Goldener Bär an Jafar Panahis iranischen Film „Taxi“
Dass auch die beiden laut Jury besten Regieleistungen aus Rumänien und Polen stammen, einmal in der Walachei des Jahres 1835 spielen und einen schwarz-weiß gefilmten Roadmovie zu Pferde zeigen („Aferim!“ von Radu Jude), derbe und poetische Szenen einer Sklavenhaltergesellschaft zwischen russischen und türkischen Besatzern, einmal eine anorektische Passionsgeschichte („Body“ von Małgorzata Szumowska), zeugt ebenfalls von großer Inspirationsdichte jenseits des Westens.
Der Entscheidung der Jury, den Goldenen Bären in den Iran zu vergeben, ist grundsympathisch und in jeder Hinsicht korrekt: Jafar Panahis halbdokumentarischer Film „Taxi“ zeigt das Bild nicht eines Schreckensreiches mit atomaren Ambitionen, sondern eines ewigen Persiens mit allermenschlichsten Menschen. Der Regisseur und Regimekritiker schmuggelte das Material auf geheimen Pfaden außer Landes. Da Regisseur Jafar Panahi seit 2010 mit einem Berufsverbot belegt, durfte er Iran nicht verlassen. Stattdessen trat auf der Berlinale seine 10-jährige Nichte Hana Saeidi vors Mikrofon. „Ich bin nicht in der Lage etwas zu sagen, ich bin zu ergriffen“, sagte sie weinend. Film als Kassiber und Menetekel – so kam die Berlinale ganz zu sich und ihrer Geschichte. Gleiches gilt vom überragenden Schauspielerpaar Charlotte Rampling und Tom Courtenay im teils beschwingten, teils abgründigen Ehedrama „45 Years“.
Victoria Schulz fragt: Welches Handicap hast du?
Der Silberne Bär für die beste schauspielerische Leistung steht zu Recht einmal mehr im Vereinigten Königreich. Außerhalb des Wettbewerbsprogramms hätte er aber niemand anderem als Victoria Schulz gebührt. Die atemberaubende Intensität und Präzision, mit der die junge Berlinerin eine geistig Behinderte im Entdeckungsrausch ihrer Körperlichkeit spielt, machte „Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ (Regie: Stina Werenfels) zu einem streckenweise kaum erträglichen, in jeder Sekunde aber relevanten Film, der uns alle zur Haltung herausfordert: Welches Handicap hast du? Ein Hoch auf Victoria Schulz. Ihre hochpräsente, körperlich maximal leidenschaftliche Leistung war das Gegenteil der sonst vorherrschenden Affektroutine.
Doch wird die nächste Berlinale die vielen blinden Flecke der diesjährigen glücklich schließen? Wird es mehr Filme geben, die Gewalt zu dosieren wissen und der Versuchung zum billigen Schock widerstehen? Wird es mehr Regisseure geben, die mit ihren Mitteln haushalten und nicht von Bild zu Bild auf Überwältigung, auf Überrumpelung des Betrachters aus sind und geradewegs in der Übersättigung landen? Wird es mehr Drehbuchautoren geben, die ihren Charakteren die Atempause zwischen zwei Erregungen gönnen, die Nachdenklichkeit statt der bloßen Erschöpfung, die Besinnung und nicht nur die Besinnungslosigkeit?
Und wird die Ahnung hie und da und bitte öfters als im Jahr 2015 Raum greifen, dass zum ganzen schrecklichen Leben, zur ganzen schlimmen Zeit, die ins Bild dringen soll, neben der Groteske auch der Humor gehört, neben dem Schrillen auch das Bedächtige, neben dem Untergehen das Neuanfangen und neben dem Zerfasern und Ausufern in abertausend Einstellungen das Bündige, die Antwort auch neben der Frage? Wir werden sehen. Nach der Berlinale ist vor der Berlinale.
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