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Bad Kleinen - Der verdrängte Medienskandal

Vor 20 Jahren endete die Festnahme von zwei RAF-Terroristen mit einem Polizei-Debakel. In Bad Kleinen versagten allerdings auch die Medien, die die These einer staatlichen Exekution verbreiteten. Bis heute haben weder der Spiegel noch Monitor das aufgearbeitet. Zum Jahrestag werfen Experten dem WDR „Geschichtsklitterei“ vor

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Vertuschung, Organisationsversagen und Pannen bei der Zusammenarbeit: Nicht erst beim NSU-Skandal mussten sich die deutschen Sicherheitsbehörden schweren Vorwürfen stellen. Vor zwei Jahrzehnten starben bei der Festnahme von zwei RAF-Mitgliedern in Bad Kleinen ein GSG-9-Beamter und der Terrorist Wolfgang Grams.

Doch das Debakel in der mecklenburgischen Kleinstadt wäre nur halb erzählt, wenn nicht auch die gravierenden Fehler, die von Journalisten verübt wurden, in den Blick genommen würden. Rudolf Seiters, damals Bundesinnenminister, spricht sogar von einer „Krise, die durch ein falsches Verhalten von Medien hervorgerufen worden ist“.

Das Zitat stammt aus dem Film „Zugriff im Tunnel – Das tödliche Drama von Bad Kleinen“, der heute um 23.30 Uhr im Ersten zu sehen ist. Die Dokumentation von Egmont Koch rekonstruiert das Schrecken vom 27. Juni 1993, als das Ende der RAF zwischen Gleis drei und vier besiegelt wurde.

Anlässlich des 20. Jahrestages von Bad Kleinen widmen die öffentlich-rechtlichen Anstalten dem Festnahme-Drama gleich zwei Dokumentationen. Nicht nur Kochs Film, der im Auftrag von SWR und NDR entstand, ist zu sehen, sondern auch noch ein zweiter. Der Film „Endstation Bad Kleinen – Vom Versagen deutscher Sicherheitsorgane“ von Anne Kauth (WDR/NDR) wurde bereits in der vergangenen Woche mehrfach ausgestrahlt, zuerst bei arte.

Beide Filme rekonstruieren die Ereignisse um den Anti-Terror-Einsatz. Die Aufarbeitung des journalistischen Versagens bleiben sie jedoch schuldig. Stattdessen schreiben sie die fragwürdige Mediengeschichte um Bad Kleinen bis heute fort.

[[{"fid":"54610","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":142,"width":220,"style":"width: 220px; height: 142px; margin: 10px 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Sonntag 27. Juni 1993. Die Spezialeinheit GSG 9 stürmt den Kleinstadtbahnhof, die RAF-Terroristin Birgit Hogefeld wird festgenommen. Es schließt sich ein wilder Schusswechsel mit Wolfgang Grams an. 39 Kugeln in wenigen Sekunden. Der Top-Terrorist erwischt den Jungpolizisten Michael Newrzella tödlich; der 25-Jährige bleibt auf dem Bahnsteig liegen.

Auch Grams, der auf das Gleis fällt, kommt bei dem Einsatz ums Leben. Sein Körper wird von vier Kugeln durchsiebt. Der tödliche Schuss geht in den Kopf, viereinhalb Zentimeter oberhalb der Schläfe.

Es ist diese Szene, die die Republik in den nachfolgenden Wochen erschüttert: Haben die Polizisten den RAF-Kommandanten kaltblütig ermordet? Oder hat dieser die Pistole gegen sich selbst gerichtet? Linke Kreise bezweifeln das bis heute. Sie sehen in Grams einen Helden, der von der Staatsmacht exekutiert wurde. Die Schweriner Staatsanwaltschaft kommt später zu dem zweifelsfreien Urteil, Wolfgang Grams habe Suizid begangen.

Kurz bevor der NDR die bereits erschienene Produktion von Anne Kauth am Sonntagabend wiederholte, bat der Sender den damals mit der Akte Grams befassten Staatsanwalt, Gerrit Schwarz, um ein Interview. Schwarz war auch in dem WDR/NDR-Film zu Wort gekommen, jetzt sollte er ein bisschen Werbung machen. Doch der pensionierte Jurist war empört: „Der Film ist im Ergebnis geschichtsverfälschend, so dass ich mich nicht in der Lage sehe, ihn positiv im Rahmen des Interviews anzukündigen“, schrieb er in einer E-Mail an die Verantwortlichen.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Betroffene sich über journalistische Beiträge beschweren. Aber Schwarz‘ Vorwürfe wiegen schwer: Der Film biete „interessierten Kreisen“, die an der Version einer brutalen Erschießung von Wolfgang Grams festhielten, neue Nahrung. Der Ex-Staatsanwalt spricht von „objektiven Mängeln“.

Anne Kauth präsentiert Belege sowohl für die Mord- als auch die Selbstmordthese. Ihr Fazit – „Unklarheit als das schlimmste denkbare Ergebnis im Fall Bad Kleinen“ – versieht sie mit einem Fragezeichen.

Schwarz nennt das „Legendenbildung“.

Tatsächlich beginnt diese Legendenbildung im Fall Wolfgang Grams schon viel früher: Die Geburt des Märtyrer-Mythos ist eng mit dem Handeln der Medien verknüpft. Und jeder Bericht, der seitdem erschien, schien dem einseitigen Bild des Staatsmordes ein weiteres Puzzleteil hinzuzufügen.

Dafür muss man zurückgehen ins Jahr 1993.

Wie sich Monitor einen Augenzeugenbericht „zusammenreimt“

Den Aufschlag machte das WDR-Magazin „Monitor“ vier Tage nach dem blutigen Polizeieinsatz. Klaus Bednarz, damals Magazinchef, verkündete „einen neuen fürchterlichen Verdacht: dass Wolfgang Grams nämlich am Tatort regelrecht hingerichtet wurde.“ Dies sei „ein ungeheuerlicher Vorgang, der in der Geschichte der Bundesrepublik – zumindest so weit bekannt – nicht seinesgleichen hat.“

Grundlage dieser These war die angebliche Aussage einer damals Unbeteiligten: Joanna Baron will von ihrer Würstchenbude auf dem Bahnsteig aus gesehen haben, wie einer der GSG-9-Männer auf den bereits am Boden liegenden Grams losging. „Der Beamte zielte auf den Kopf und schoss, aus nächster Nähe, wenige Zentimeter vom Kopf des Grams entfernt“, sagte sie dem damals noch jungen Monitor-Reporter Philip Siegel. Auch ein zweiter Polizist soll mehrmals abgedrückt haben.

„Sie müssen sich vorstellen, wie überrascht ich an jenem Tag war“, sagt Siegel heute, „bis zu diesem Zeitpunkt war von einem Kopfschuss noch gar nichts bekannt. Als kurz darauf in einer Pressemitteilung auch noch mitgeteilt wurde, dass in Grams Schädel ein Einschussloch gefunden wurde, gingen bei mir alle Alarmglocken an.“ Der Reporter lieh sich beim Nachbarn eine Schreibmaschine aus und tippte noch an Ort und Stelle eine eidesstattliche Erklärung. Die Zeugin Baron habe außerdem eine Aufwandsentschädigung erhalten.

Der RAF-Experte Butz Peters, der für sein Buch „Wer erschoss Wolfgang Grams – Das Desaster von Bad Kleinen“ tausende Seiten Akten studiert hat, ist sich dagegen sicher: Grams habe in auswegloser Situation Selbstmord begangen. Die Mordthese sei nichts als ein „Medienphantom“. Insbesondere den damaligen Monitor-Beitrag hält er für kritikwürdig.

So sei die angebliche „eidesstattliche Erklärung“ Barons nie eine gewesen: Sie sei nie einem Gericht vorgelegt worden und „damit so wertvoll wie eine Erklärung auf einer Serviette ihrer Würstchenbude“, sagt Peters. Und die Aufwandsentschädigung – Peters spricht von 250 Mark – seien mehr gewesen „als die Kioskverkäuferin auf dem Kleinstadtbahnhof in der Woche netto  verdiente“.                                                                                                  

Später bedauerte die Zeugin das: „Ich habe zu schnell unterschrieben.“ Außerdem bestritt sie ihre Darstellungen – sie habe vielmehr „den Oberkörper“ gemeint. Die WDR-Macher sahen darin dennoch keinen Widerspruch: Der Kopf gehöre ja zum Oberkörper, hieß es. Die Schweriner Staatsanwaltschaft stufte die Zeugin Baron dennoch als unglaubwürdig ein: Reporter Siegel habe sich die eidesstattliche Erklärung der Zeugin „zusammengereimt“. Doch Monitor-Chef Bednarz blieb bei seiner Version eines Staatsmordes.

Butz Peters moniert in seinem Buch auch handwerkliche Mängel des damaligen Monitor-Berichts. Die PDS-Politikerin Ursula Jelpke tauchte da plötzlich als SPD-Politikerin auf und erklärte, dass es gar nicht nachgewiesen sei, ob Hogefeld und Grams zur RAF-Kommandoebene gehörten. „Eine überraschende Position für eine SPD-Bundestagsabgeordnete“, sagt Peters. Er nennt das „Etikettenschwindel“.

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Ein Informant spricht im Spiegel von einer „Exekution“ – und widerruft

Der Mordthese verhilft aber ein anderes Medium endgültig zum Durchbruch: der Spiegel, mit seiner Titelgeschichte „Der Todesschuss“.

Eine Woche nach dem Einsatzkommando bekommt Bundesinnenminister Seiters den Vorabdruck des jüngsten Heftes in die Hand. „Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution“, berichtet da ein zweiter Augenzeuge. Der anonyme Anti-Terror-Experte führt weiter aus: „Ein Kollege von der GSG 9 hat aus einer Entfernung von maximal fünf Zentimetern gefeuert.“

Seiters ist schockiert – und übernimmt umgehend die politische Verantwortung. Am 4. Juli 1993 tritt er zurück. Die Affäre bringt auch den Generalbundesanwalt Alexander von Stahl zu Fall.

Und das alles aufgrund eines Berichtes, der schnell selbst in die Kritik gerät: Die Staatsanwaltschaft hat „durchgreifende Zweifel“ an der Glaubwürdigkeit des anonymen Informanten. Dieser verstrickt sich laut Ermittlungsakte in Falschaussagen und Lügen, seine Schilderungen weichen in wesentlichen Punkten „unüberbrückbar“ von denen anderer Einsatzbeteiligter ab. Das ernüchternde Fazit: Die Angaben des Beamten seien „nicht von höherem Beweiswert als ein anonym weitergetragenes Gerücht“, weshalb „Verdachtsmomente auf diesen Informanten nicht gegründet werden“ könnten.

Der zuständige Redakteur – Hans Leyendecker, heute Investigativjournalist bei der Süddeutschen Zeitung – distanzierte sich später selbst von seinem Zeugen. Bad Kleinen sei sein persönliches „Versagen“ gewesen, räumt er gegenüber Cicero Online ein. Die Schlussfolgerung einer Exekution würde er heute so nicht mehr zulassen.

Während Leyendecker sich seit zwanzig Jahren für diese Sache entschuldigt hat, steht die Aufarbeitung beim Spiegel noch aus. Ein früheres Redaktionsmitglied sagt heute, die Exekutions-These habe sich gut in den Zeitgeist eingefügt: „Es schien alles ganz logisch – eine weitere ruhmreiche Enthüllung. Was dann geschah, war sowas von peinlich, dass es uns die Sprache verschlagen hat. Und das vor dem Hintergrund, dass der Spiegel immer mit dieser erhobenen Bessere-Menschen-Attitüde daherkommt.“

In der langen Erfolgsgeschichte des Spiegel sei die Affäre Grams möglicherweise „der größte Flop“ gewesen, ergänzte das Redaktionsmitglied. „Wir haben das gern ein bisschen totgetreten.“

Im ntv-Interview äußerte sich Stefan Aust, der Ende 1994 vom Spiegel-TV- zum Spiegel-Chefredakteur wechselte, zu den Vorfällen von Bad Kleinen: „Es ist verheerend, wie sehr die Glaubwürdigkeit von Medien durch eine so windige Recherche erschüttert werden kann.“ Langfristig habe das nicht einmal Leyendecker geschadet: „Er gilt nach wie vor als die Verkörperung des investigativen Journalismus.“

Ein ARD-Film verschweigt wichtige Beweise

Massive Selbstzweifel also: Und nichts davon taucht in den jüngsten öffentlich-rechtlichen Dokus auf. Zwar lassen beide Filme Behördenvertreter zu Wort kommen, die den Spiegel-Bericht kritisieren. Aber es ist eben doch ein Unterschied, ob Offizielle, die sowieso an einen Suizid glauben, den Spiegel-Redakteur angreifen, oder ob dieser sogar selbst nach vielen Jahren widerruft. Filmemacherin Kauth hat keinen Kontakt zu Hans Leyendecker gesucht, das bestätigen sowohl er selbst als auch der WDR.

Schlimmer noch: Kauth verschweigt nach Ansicht des früheren Staatsanwalts Schwarz wichtige Fakten.

So präsentiert die Filmemacherin zwar die Indizien für die Mordthese, etwa zu den Ungereimtheiten bei der Spurensicherung: Die Hand der Leiche Grams wurde vorschnell gereinigt, anstatt sie auf Schmauchspuren der Waffe hin zu untersuchen. Außerdem nährte eine Wunde an der Hand die Vermutung, dass Grams die Pistole gewaltsam entwunden wurde.

Zwei gegenteilige Gutachten seien dagegen unerwähnt geblieben, moniert Schwarz: Die Rechtsmedizin der Universität Münster habe das Blutspritzerbild eindeutig auf einen Suizid zurückgeführt. Und ein Waffensachverständiger habe ausgeschlossen, dass die festgestellten Hautrötungen an der Hand durch das Entwenden der Pistole entstanden sind.

Weil beides nicht erwähnt wurde, muss der Eindruck entstehen, hier wurde Thesenjournalismus betrieben: Der WDR steht noch immer voll hinter seiner Mord-Version von 1993 – und lässt heute in der erneuten Aufarbeitung wichtige Indizien für einen Selbstmord außen vor. Besteht hier gar ein Interessenskonflikt?

Die Filmemacherin hat nach Senderangaben übrigens auch keinen Kontakt zu den früheren Monitor-Kollegen aufgenommen, die ja im gleichen Haus sitzen. RAF-Experte Butz Peters kritisiert, dass in dem WDR-Film nichts von den Zweifeln an der Darstellung der Kioskverkäuferin Baron erwähnt worden sei. Das eigentlich wertlose Papier werde zu einer „Aussage einer Zeugin“. Peters ist „überrascht, wie der WDR seine tragende Rolle, die er in dem Medienskandal vor zwanzig Jahren spielte, nun verschweigt“.

Die jetzige Darstellung des WDR über dieses Stück Zeitgeschichte sei daher „alles andere als öffentlich-rechtlich“: Für den RAF-Experten betreibt der Film „Geschichtsklitterei“.

 

Update am 27.06.2013 (Zitat Stefan Aust). Weitere Lektüre: Holger Lösch: „Bad Kleinen – Ein Medienskandal und seine Folgen“, Ullstein, 1994.

 

 

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