Bücher des Monats - Aug' in Aug' mit der Kröte

Andreas Webers Ambition ist nicht gering: Er will die Biologie neu erfinden. Der Zeitpunkt dafür scheint günstig; nur leider stolpert der Autor über seinen Hang zur Herzenspoesie. Richard David Precht rät zu mehr Nüchternheit.

Eines Tages während seines geisteswissenschaftlichen Studiums sitzt der junge Andreas Weber im Berliner Botanischen Garten unter einer Traubenkirsche. Was für einen Anblick die Blüten bieten! Schlagartig wird ihm klar, dass er sich mit dem Falschen beschäftigt. Er ändert sein Leben und studiert Biologie. Doch die Enttäuschung folgt auf dem Fuß. Wo bleibt die Schönheit der Traubenkirsche in den biologischen Lehrbüchern? Wo im Hörsaal findet er das Leuchten im Auge der Kröte? Wo ist der Sinn für die faszinierende Formenvielfalt der Natur? Weber sucht überall das Unbedingte, aber er findet nur Dinge.

Seit jenem Tag in Berlin-Dahlem lag der unglückliche Biologiestudent unter vielen Kirschbäumen: In Ostafrika folgt er den mystischen Spuren des äthiopischen Wolfes, in Estland spürt er den Geist der Wälder. Und er liest Bücher, die der Lehrplan nicht vorsieht: die neurobiologischen Selbstbezüglichkeitstheorien von Humberto Maturana und Francisco Varela, die Biosemiotik der Dänen Claus Emmeche und Jesper Hoffmeyer, die anglo-amerikanischen Naturmystiker des «New Nature Writing». Weber sammelt und durchdenkt und bahnt sich seinen eigenen Pfad auf der Suche nach dem verlorenen Naturzauber: Warum lieben Kinder Tiere? Warum singen Nachtigallen mit solchem Aufwand? Wie funktioniert das Schwarmverhalten der Vögel?


Mindestens eine Revolution

Jetzt, in seinem neuen, groß beworbenen Buch «Alles fühlt», schreibt er: «Die Biologie tritt auf der Stelle.» Der Darwinismus sei ein unzureichendes Paradigma, um die Fülle und die Selbstorganisation des Lebens zu erklären. «Der biologische Darwinismus», heißt es in einer von Webers schönsten Formulierungen, «versucht, die Musiken der Tiere als Werbejingles in einem Konzert der Effizienz zu verstehen.» Wie schon manche Zeitgenossen Darwins, zum Beispiel Karl Marx, sieht Weber in der darwinistischen Selektionstheorie zwar die gesellschaftlichen Vorstellungen des viktorianischen England gespiegelt, nicht aber die Gesetze der Natur.

Die Lage für ein solches Buch scheint günstig. Die Biologie steckt, trotz aller Fortschritte in den letzten Jahrzehnten, in einer Sinnkrise. Der Darwinismus ist so gut wie tot, aber ein neues Paradigma nicht in Sicht. Andreas Weber sucht nun ein Lebensprinzip jenseits der darwinistischen Formel vom Survival of the Fittest. Interessanterweise braucht er dafür kein Labor; Lesen und Nachdenken genügen. Auf diese Weise will er der Biologie die Leviten lesen und ihr ein neues Paradigma schmackhaft machen; er will die Hirnforschung lehren, ihre Fragen besser zu stellen; er will ungeklärte Rätsel der Verhaltensökologie aufklären; er will die Darwin’sche Evolutionstheorie zurechtrücken; er will die Philosophie vom Kopf auf die Füße stellen und eine neue Umweltethik begründen. Er will mindestens, wie es im Untertitel heißt, eine «Revolution».


Überall lauert die Seele

Das ist viel – zu viel für ein Buch von gut 300 Seiten. Und natürlich ist Weber all das, was einen wahren Revolutionär ausmacht: ehrgeizig, sendungsbewusst, großspurig, leichtsinnig, unbedarft und kitschig. Bei alledem hat er ein feines Gespür für gute Fragen und spannende Themen. Doch die maßlose Übertreibung in diesem Entdeckerstolz verwundert schon sehr bei einem immerhin 40-jährigen Autor. «Die Biologie hat anderthalb Jahrhunderte auf die Frage geschwiegen, was Leben ist», lautet der erste Satz. Da sollten die Biologen unter den Lesern bereits die Stirn runzeln. Denn selbstverständlich wurde über das, was Weber anprangert, in der Biologie nicht «nie» nachgedacht, sondern immer wieder, wenn auch vielleicht nicht ergiebig genug.

Doch Weber putzt erst einmal die ganze Platte blank. Wie einst dem deutschen Darwinisten Ernst Haeckel, geht es ihm um nichts Geringeres als um die Lösung der großen biologischen Welträtsel. Und wie Haeckel 1899 glaubt auch Weber die Antworten zu kennen. Das ganze Arsenal der Biologie wird durchstöbert und auf ein Kriterium hin überprüft: seine Beseelbarkeit. Weber haucht allem einen Sinn ein; seine so genannte «schöpferische Ökologie» schöpft unausgesetzt Bedeutungen, Analogien, Werte und Metaphern. Alles gerät zum Beweis für seine monistische Empfindungslehre. Die Spiegelneuronen im prämotorischen Cortex – einem Bereich der Großhirnrinde, 1992 von Leonardo Fogassi entdeckt (und nicht, wie Weber schreibt, Ende der 90er von Vittorio Gallese) – ermöglichen, dass Menschen die Emotionen anderer mitfühlen. Für Weber werden sie damit gleich zu Kronzeugen der Allbeseelung, wenn er folgert: «Die Wirkung der Spiegelneuronen zeigt: In gewissem Sinne sind wir der andere.»


Poesie des Herzens, Prosa der Realität

Die Herzensangelegenheit des Autors ist die Umweltökologie. Gegen die Nützlichkeitserwägungen vieler Ökologen setzt er auf die «Heilung» der Natur durch das Erkennen ihres «Eigenwertes». Hier folgt er den Spuren von James Lovelock und Hans Jonas und begreift die Natur als einen Wert an sich. Als Idee ist das nicht unsympathisch, aber der Gedanke führt, wie die Debatten der letzten Jahrzehnte gezeigt haben, zu unsympathischen Folgen. Wenn alles in der Natur beseelt sein soll, wenn alles Beseelte Wert besitzt, wenn es ein Teil von uns ist und wir ein Teil von ihm – vom Salat, dem Apfelbaum, dem Huhn und der Forelle –, dürfen wir Natürliches dann noch nutzen? Und können wir, ohne Fühlendes zu töten, überleben?

Was darf ich der Natur antun, und was nicht, lautet die große Frage der Umweltethik. Eine Frage, die sich kaum mit Webers «biozentrischen» Wertregeln beantworten lässt. «Wir müssen die Natur als ein reales Sollen bewahren, das Subjekte empfinden und das sie zum Ausdruck bringen.» Was bedeutet das für meinen täglichen Umgang mit den Salat-Subjekten, den Baum-Subjekten und Kellerassel-Subjekten dieser Welt? Natur- und Artenschutz sind ein dichtes Geflecht aus praktischen Fragen und Abwägungen. Darf man Zecken und Mücken töten? Darf man Insektizide gegen Krankheitserreger einsetzen? Darf man Bäume fällen, um Hütten daraus zu bauen? Haben Kröten das gleiche Lebensrecht wie Menschen? Was mache ich, wenn sich die Interessen von Massai-Kriegern und Elefanten kreuzen? Darf man Land, wo auch immer, urbar machen, und hat man das auch früher gedurft? Die Poesie des Herzens stolpert hier leicht über die Prosa der Verhältnisse.
 

Die Freude des Städters in der Natur

Webers Ausweg aus dem Dilemma ist der Begriff der Schönheit, Lebenswert und Ästhetik liegen für ihn eng beieinander. Ästhetisierende Schwärmereien an Krötenteichen, in Wüsten und Birkenwäldern durchziehen das ganze Buch. Manche dieser Passagen verraten literarisches Talent. Doch je eifriger Weber für die Schönheit der Natur wirbt, umso deutlicher zeigt sich die Crux seiner universalen Empfindungstheorie. Denn gerade der Abstand des Zivilisationsbürgers zur Natur lässt diesen in poetischen Momenten deren Nähe spüren. Naturromantik ist eine Passion von Städtern, nicht von Urwaldbewohnern. Je weniger wir den Unbilden der Natur ausgesetzt sind, umso aufgeschlossener sind wir für ihre Schönheit. Möglicherweise ist Natur gerade in ihrem Verlust am schönsten, im wehmütigen Betrauern ihres Verschwindens.

Den ästhetischen Abstand zu Tieren und Pflanzen jedenfalls muss man sich leisten können; man kann ihn nicht verallgemeinern. Denn die Freude an der belebten Natur ist keine anthropologische Konstante. Nach einer Studie der Kölner Universität können die Bundesbürger mehr Automarken voneinander unterscheiden als heimische Pflanzen. Und über die Schönheit von Krötenaugen mag man sich vielleicht noch verständigen können, bei der Schönheit von Zecken und Kopfläusen ist das schwieriger.


Soziologisch betrachtet, ist «Alles fühlt» eine Wohlstandsphilosophie. Bezeichnend dafür ist der seit den achtziger Jahren modische Zuckerguss über der Ökologie. Begriffe wie «ökologisches Gleichgewicht» und «Harmonie» haben in der Natur keinen Platz – sie werden lediglich hineingelesen. Die zeitgenössische Esoterik findet dazu die passenden Modefloskeln, wie die Rede vom «Netzwerk», die aus der Informatik in nahezu jeden neuen Bedeutungsraum, auch in die Ökologie, eingewandert ist. Jede Zeit hat die Natur, die sie sich erfindet.

Nach alledem darf man sich die Frage stellen, was für ein Buch Weber hätte schreiben können, wenn er seine eigene Metaphernwelt besser verstanden hätte. Wenn er Wert, Bedeutung, Bewegung, Bedürfnis, Gefühl, Leben, Komplexität und Intelligenz nicht so fahrlässig in jeder erdenklichen Form miteinander kombiniert hätte. Hinter jeder verunglückten Überlegung stecken bedenkenswerte Ansätze. Doch so viel Richtiges Weber aufwühlt, so viel schüttet die Maßlosigkeit seiner Spekulationen wieder zu.

Völlig aus den Fugen gerät das Buch am Schluss, wenn Weber die symbolische Biologie als Teil einer symbolischen Physik begreift und seine schöpferische Ökologie mit nebligen Sätzen über die Quantenmechanik garniert. Jetzt ist tatsächlich die ganze Welt neu erklärt, und spätestens hier hätte das Lektorat eingreifen und den Autor vor sich selbst bewahren müssen. So aber endet dies Buch kurios bei der «Geburt des Kosmos», beim «blinden Vertrauen, im Begehren nach Sein – bis in unsere Sehnsucht hinein, die so immer ganz zum Anfang zurückführt. Verlieren wir uns noch ein letztes Mal im Sternenhimmel, der im Auge der Kröte aufgegangen ist». Oder finden wir uns wieder an unseren Schreibtischen, unter den Leselampen, kopfschüttelnd und hoffend, dass es uns nach all dem Wust noch immer gelingt, Kröten zu bestaunen, die nichts anderes sind und sein sollen als Kröten.

 

Richard David Precht lebt als Journalist und Schriftsteller in Köln. In diesen Tagen erscheint «Lenin kam nur bis Lüdenscheid. Meine kleine deutsche Revolution» als Taschenbuch.

 

Andreas Weber
Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften
Berlin Verlag, Berlin 2007. 334 S., 19,90 €

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