- „Als wollte er Dämonen auskotzen”
Der Dokumentarfilmer Joshua Oppenheimer ließ indonesische Massenmörder ihre Taten nachspielen. Sein Film „The Act of Killing” ist jetzt auf der Berlinale zu sehen
Infolge eines gescheiterten Putschversuchs entfachte der Vizechef des indonesischen Militärs im Oktober 1965 eine Serie von Massakern an Mitgliedern und Sympathisanten der Kommunistischen Partei Indonesiens. Bis zu eine Million Menschen wurden bis Ende 1966 von Militärs und paramilitärischen Einheiten ermordet. Dieser Genozid ist nie aufgearbeitet worden. Bis heute leben die Täter unbescholten neben den Angehörigen ihrer Opfer. In „The Act of Killing” lässt Joshua Oppenheimer sie ihre Verbrechen nachspielen. Dabei ließ er ihnen freie Hand bei der Inszenierung. Häufig bedienten sie sich ihrer Lieblingsgenres: Gangsterfilm, Melodram und Musikvideo.
Herr Oppenheimer,
wie kamen Sie auf die Idee, die Massaker von 1965/66 von den Tätern
nachspielen zu lassen?
Ich wollte einen Film über diesen Genozid drehen. Dazu habe ich
zunächst Überlebende aufgesucht. Aber die hatten Angst, offen zu
sprechen. Sie sagten mir, ich müsse mit den Tätern reden. Das tat
ich. Jeder einzelne hat sich seiner Taten gerühmt. Und jedes Mal
fragte ich mich: Wie wollen diese Menschen gesehen werden? Und wie
sehen sie sich selbst? Indem ich sie bat, ihre Taten zu
inszenieren, suchte ich nach Antworten auf diese Fragen.
Im Zentrum des Films steht Anwar Congo. Der mittlerweile über Siebzigjährige hat hunderte, möglicherweise mehr als tausend Menschen eigenhändig getötet. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten ist Congo ein freundlicher älterer Herr, der gerne angelt und viel Zeit mit seinen Enkeln verbringt. Anfang der Sechzigerjahre war er ein “Kino-Gangster”, ein Kleinkrimineller, der auf dem Schwarzmarkt Kinokarten verkaufte. Er wurde auf der Straße rekrutiert und fürs Töten bezahlt. Anwar sagt, er habe sich von Hollywoodfilmen fürs Töten inspirieren lassen.
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Ist es Ihnen schwergefallen, während des Drehs die Ruhe
zu bewahren?
Nein. Für mich sind diese Männer nicht in erster Linie
Massenmörder, sondern Menschen. Aber natürlich musste ich mich
zusammennehmen. Während der Dreharbeiten konnte ich nicht zeigen,
wie verstörend das alles für mich war. Denken Sie an die Szene am
Anfang, auf dem Hausdach.
Anwar steht auf dem Dach eines Hauses, vor einer Wand. Dutzende hat er dort gefoltert und getötet. Am Anfang, erzählt er, habe er sie erstochen oder totgeprügelt. Aber das Blut und der Gestank seien unerträglich gewesen. Deshalb habe er begonnen, seine Opfer mit einem Drahtseil zu erdrosseln. Das habe er sich bei amerikanischen Gangsterfilmen abgeschaut. Für die Kamera spielt Anwar mit seinem Begleiter eine Hinrichtung nach. Als er die Drahtschlinge um den Hals seines Opfers zuzieht, streckt der Mann die Zunge heraus und röchelt theatralisch. Wenige Augenblicke später, das Gespräch hat sich anderen Dingen zugewendet, legt Anwar ein kleines Tänzchen hin. Sein Begleiter lacht. „Ein fröhlicher Mann!”, ruft er.
Ich konnte ihm nicht sagen: Das ist schrecklich, wie konntest Du so etwas tun? Richtig schwierig wurde es aber erst später, als Anwar begann, sich intensiver mit seinen Taten auseinanderzusetzen.
Seite 2: „Ich habe mich schmutzig gefühlt”
Anwar betont immer wieder, wie wichtig ihm das Kino
ist.
Ja, er hat im Kino viel gelernt; mehr als nur das Erdrosseln mit
dem Drahtseil. Er erzählt, dass er manchmal in bester Stimmung aus
einem Elvis-Presley-Streifen kam und dann über die Straße ging und
Menschen folterte und tötete, fröhlich, noch in der Stimmung des
Films. Das Kino hat ihn gelehrt, in Rollen zu schlüpfen. Wenn Anwar
tötete, dann spielte er eine Rolle.
Warum, meinen Sie, hat Anwar sich auf den Filmdreh
eingelassen?
Ich glaube, dass er von seinen Erinnerungen verfolgt wird.
Vielleicht hatte er die Hoffnung, dass er sich von seinen Taten
distanzieren könnte, wenn er sie nachspielte.
Im Laufe der Dreharbeiten verändert sich Anwars Sicht der Dinge. Eine Szene, in der er ein Opfer spielt, das erdrosselt wird, muss abgebrochen werden. In der letzten gefilmten Szene, nach jahrelangem Filmen, bricht er zusammen. Minutenlang schütteln Krämpfe den Körper des alten Mannes, er würgt und keucht.
Ist es ihm gelungen, sich von seinen Taten zu
distanzieren?
Nein. Im Gegenteil. Er hat damals, in den Sechzigern, beim Töten
eine Rolle gespielt. Und jetzt, während der Dreharbeiten, spielte
er wieder. Es war, als würden die hunderten Morde, die er begangen
hat, wieder real. Als mir das klar wurde, habe ich mich schmutzig
gefühlt. Es war sehr schwierig, diese Szenen zu drehen. Aber auf
eine merkwürdige und schmerzhafte Art sind wir einander dabei auch
nähergekommen.
Seite 3: „Am Ende war Anwar ein gebrochener Mann”
Woher wussten Sie, dass Anwar Ihnen nichts
vorspielte?
Natürlich spielte Anwar auch vor meiner Kamera eine Rolle. Aber das
bedeutet nicht, dass seine Krämpfe am Ende des Films nicht echt
sind. Zu diesem Zeitpunkt hatte er längst gelernt, mit der Kamera
umzugehen. Sie machte ihn nicht mehr nervös, so wie sie mich oder
Sie nervös machen würde: Für ihn war die Präsenz der Kamera eine
Einladung, sich zu öffnen. Ohne die Kamera hätte er das womöglich
gar nicht gekonnt.
Wie meinen Sie das?
Wir beurteilen Dokumentarfilme häufig folgendermaßen: Entweder der
Gefilmte ist sich seines Gefilmt-Werdens nicht bewusst, und dann
ist es authentisch, oder er ist sich seines Gefilmt-Werdens
bewusst, und dann ist es nicht authentisch. Ich glaube nicht an
diese Unterscheidung. Ich glaube, dass etwas sehr Authentisches
entstehen kann, wenn ich als Regisseur eine Gelegenheit, einen
Moment, schaffe.
Sie machen einen Dokumentarfilm, indem sie Wirklichkeit
inszenieren?
Sie müssen sich klarmachen, dass wir auch in einem herkömmlichen
Dokumentarfilm immer eine Realität erschaffen. Stellen Sie sich
vor, ich würde Sie heute mit einer Crew begleiten, wir würden Ihren
Alltag filmen. Das wichtigste Ereignis des Tages wäre für Sie dann
nicht mehr dieses oder jenes Interview, sondern die Tatsache, dass
Ihnen permanent eine Filmcrew folgt. Wenn ich als Filmemacher mit
Ihnen arbeite, dann erschaffen wir gemeinsam eine Realität, in der
ich – scheinbar – nicht vorkomme. Sobald wir also unsere Kamera auf
etwas richten, erschaffen wir eine spezielle Realität. Das ist
unvermeidbar. Warum sollten wir dann nicht einen Schritt
weitergehen und eine Realität erschaffen, die zu den Fragen, die
wir untersuchen wollen, passt?
Manche Gruppen in Indonesien feiern Anwar und die übrigen Täter noch heute als Volkshelden, die das Land von den Kommunisten befreit haben. Das gilt vor allem für Pancalisa Youth, eine paramilitärische Jugendorganisation, die aus den Killerbanden von 1965/66 hervorgegangen ist. Im Film zeigt Oppenheimer Treffen der Organisation, der mehrere indonesische Minister angehören. Immer wieder erklären die Anführer von Pancalisa Youth, sie seien jederzeit wieder bereit, die Kommunisten zu vertreiben.
Hatten Sie die Befürchtung, die Täter könnten Ihren Film
als Plattform zur Selbstdarstellung missbrauchen?
Nein. Natürlich war mir klar, dass ich ihnen in dem Film eine
Plattform bot. Aber auf dieser Plattform würden wir ein Regime
zeigen, das auf einem Berg von Leichen gebaut worden war. Wir
würden eine ganze Normalität zeigen, die auf Terror gründet.
Deshalb hatte ich keine Angst, dass sie den Film missbrauchen
könnten.
Hat Anwar sich während der Dreharbeiten
verändert?
Ja. Anwar ist heute ein anderer Mensch als zu dem Zeitpunkt, als
ich ihn kennenlernte. Ich glaube zwar nicht, dass er das Rückgrat
hat, jederzeit zu sagen: Was ich damals getan habe, war falsch. Das
kann er nicht tun, und wir sollten es nicht von ihm erwarten. Er
kann nicht morgens aufstehen und in den Spiegel schauen und sagen:
Ja, ich habe hunderte Menschen getötet und das Leben tausender
Menschen zerstört, und im Bewusstsein dieser Taten lebe ich weiter.
Aber denken Sie an die letzte Szene, auf dem Dach: Sein Körper
protestiert, er würgt, er hat Krämpfe. Es ist, als wollte er seine
Dämonen auskotzen. Am Ende der Dreharbeiten war Anwar ein
gebrochener, verfolgter, geisterhafter Mann. Etwas in ihm
akzeptiert nicht mehr, was er getan hat. Er mag einer Verurteilung
entgangen sein, aber nicht der Strafe.
Seite 4: „Nicht alle Reaktionen sind positiv”
Der Film ist in Indonesien gezeigt worden. Wie waren die
Reaktionen?
Der Film wurde bislang 265mal in Indonesien gezeigt, in 91 Städten.
Die Reaktionen waren das Beste, was mir und der Crew seit Langem
wiederfahren ist. Wir haben eine gesellschaftliche Debatte
ausgelöst. Endlich spricht man über die Massaker. Aber nicht alle
Reaktionen sind positiv. Die paramilitärische Nachfolgeorganisation
der Killerbanden, Pancalisa Youth, spielt im Film eine prominente
Rolle. Diese Leute sind stolz auf die Massaker. Nachdem der Film in
Kanada gezeigt worden war, titelte eine indonesische Zeitung: Die
Welt verurteilt Pancalisa Youth. Diese Schlagzeile hat ausgereicht,
damit ein Mob von 500 Menschen zum Zeitungsgebäude kam und einen
Journalisten zusammenschlug. Ein indonesischer General hat erklärt,
man habe ein wachsames Auge auf die „neuen Kommunisten“. Als man
ihn fragte, wer die „neuen Kommunisten“ seien, sagte er, das seien
die Menschen, die diese subversiven Filme anschauten. Damit meinte
er „The Act of Killing“.
Bleiben aus diesem Grund so viele Mitglieder des
Drehteams anonym?
Ja. Wenn das die Konsequenzen sind dafür, dass Journalisten über
uns schreiben oder Menschen sich unseren Film einfach nur anschauen
– mit welchen Konsequenzen müssten dann die Crewmitglieder rechnen?
Es ist eine Schande, dass sie sich nicht zu ihrer großartigen
Arbeit bekennen dürfen. Aber sie wären unmittelbar bedroht, wenn
sie es täten.
Hat Anwar den Film gesehen?
Anfangs wollte er ihn nicht sehen. Aber dann wurde der Film sehr
schnell sehr bekannt, und er wollte ihn doch sehen, also zeigte ich
ihn ihm. Es hat ihn erschüttert. Er sagt, er werde weiter zu dem
Film stehen. Er sagt sogar, dass er froh sei, dass wir einen so
ehrlichen Film gemacht haben.
Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Thema des
Films?
Meine Großeltern kamen aus Deutschland; sie sind in den Dreißigern
geflohen, kurz, bevor es zu spät war. Die Frage, wie wir
Völkermorde zukünftig verhindern können, hat mich darum früh
beschäftigt. Es passiert ja immer wieder. Denken Sie an Ruanda,
Kambodscha, das frühere Jugoslawien.
Seite 5: „Die Mörder sind Menschen. Das ist der Schrecken”
Was haben Sie herausgefunden?
In der Auseinandersetzung versetzen wir uns immer in die Position
der Opfer, nie in die der Täter. Die größte Herausforderung ist
wahrscheinlich, zu akzeptieren, dass die Täter keine Monster sind,
sondern Menschen wie Sie und ich. Hitler war kein Monster;
wahrscheinlich war er nicht einmal psychotisch. Er war ein Mensch.
Und das ist entsetzlich. Ich weiß nicht, ob Sie oder ich für Macht
oder Geld imstande wären, eintausend Menschen zu töten. Anwar war
dazu imstande. Dazu hat man ihm, sozusagen auf dem Silbertablett,
Propaganda geliefert, die ihm das Weiterleben ermöglichte, eine Art
Anästhetikum. Ich hoffe, dass Sie oder ich zu so etwas nicht
imstande wären. Aber wir sind in einer gnadenvollen Situation: Wir
werden es niemals herausfinden müssen.
Eine verstörende Szene gegen Ende des Films zeigt Anwar im Garten mit seinen Enkelkindern. Anwar füttert die Enten. Eines der Küken lahmt, weil ein Kind es zu hart angefasst hat. „Entschuldige Dich bei der Ente“, sagt Anwar, „sag, dass es dir leid tut!“ Der kleine Junge tätschelt den Kopf des Vogels und entschuldigt sich.
Die Mörder sind Menschen. Das ist der eigentliche Schrecken. Aber diese Erkenntnis birgt auch Hoffnung. Denn immer wieder, an den unglaublichsten Stellen, blitzen Anzeichen universaler ethischer Gebote auf.
Herr Oppenheimer, ich danke Ihnen für das Gespräch.
„The Act of Killing“ läuft im Panorama-Programm der Berlinale.
Das Gespräch führte Christophe Braun.
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