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(picture alliance)
Simenon für den Sommer

Robin Detje erklärt in seiner Bücher-Kolumne, warum man im Sommer unbedingt Georges Simenon lesen sollte.

Georges Simenon: Die Maigret-Gesamtausgabe in 75 Bänden, Diogenes-Verlag, Zürich, je Band circa 170200 Seiten, 9 Euro – Im Sommer soll man sich an der frischen Luft aufhalten und Kriminalromane lesen. Sie dürfen nicht zu lang sein. Der Achthundert-Seiten-Thriller, der sogenannte Flughafenroman für die Langstrecke, ist eine Perversion des Genres. Und: Es sollten viele sein. Die Überdosis ist genussentscheidend. Mancher bringt es auf einen pro Tag. Aber zwei pro Woche sind das Minimum. Diese Krimis müssen sich ähneln und eine gewisse Monotonie atmen, in die hinein wir uns entspannen können. Sie müssen eine kleine Heimat sein, nicht zu aufregend, nicht zu langweilig.

Gut abgehangen sollten sie auch sein. Den Knaller des vergangenen Bücherfrühlings, den Kracher des noch vergangeneren Bücherherbstes sollte man unbedingt meiden, denn im Sommer zählen nur die ewigen Werte. Wettergegerbte und windzersauste Texte wollen wir lesen, an denen sich die Sonnenmilch und der Sand der Generationen vor uns abgelagert haben. Grau oder Graublau in der Grundfarbe, dazu ein wenig Braun… und das silbrige Grün der Zitterpappelblätter am Treidlerpfad eines brackigen Kanals in Nordfrankreich, über den ein Schleppkahn tuckert, vorbei an einer toten Frau am Ufer, und am Quai d’Orsay in Paris klingelt das Telefon, und Kommissar Maigret seufzt, zieht den Trenchcoat an und lässt seiner Frau ausrichten, dass er nicht zum Mittagessen kommt. Kurz: Im Sommer müssen wir Georges Simenon lesen.

Simenon ist der Größte. Je leiser dieses Urteil seit Jahrzehnten von großen Dichtern geflüstert wird, desto schwerer wiegt es. Seine Kriminalromane, entstanden zwischen 1929 und 1972, sind Meisterwerke der Monotonie und der Reduktion: Simenon hämmert uns die Welt ganz klein und dehnt sie dann explosionsartig wieder aus, indem er sie mit geradezu roboterhafter Energie vervielfältigt. Sein Maigret stampft durch eine Zeit unangefochtener männlicher Autorität, bewaffnet mit all ihren Insignien – der phallischen Pfeife, der Dienstmarke, der Pistole, der gesichtslosen und dienstbaren Gattin. Maigret ist die personifizierte Behauptung der Amtswürde.

Im vergangenen Dezember hat der Diogenes-Verlag in Zürich, Wohltäter der lesenden Menschheit deutschsprachiger Länder, die große Maigret-Gesamtausgabe in einer neu überarbeiteten Übersetzung abgeschlossen: 75 handliche Bände im weißen Pappeinband, Lesestoff für 37,5 Urlaubswochen.

In einem dieser Bände, dem dritten aus dem Jahr 1930, hetzt Simenon die Polizei seiner eigenen Vergangenheit auf den Hals. Maigret geht einer Eingebung nach: Er folgt einem Mann. Der bringt sich um, und dem Ermittler gelingt es nicht, das zu verhindern. Nun sucht er einen Schuldigen und stößt auf eine Gruppe alter Männerfreunde, die offenbar ein Geheimnis hüten. Sie haben einmal alle einer Clique von Möchtegernkünstlern angehört, die bis in die frühen Morgenstunden Drogen nahmen und La Bohème nachspielten. Sie haben sich so sehr im Asozial-Ekstatischen geübt, dass sie sogar eine Laufbahn als bombenwerfende Terroristen in Erwägung zogen: „‚Es ist klar‘, gesteht einer von ihnen, ‚dass wir die Welt neu entdeckten, dass wir für jedes große Problem eine Lösung hatten, den Bürger, die Gesellschaft und alle bestehenden Erkenntnisse verhöhnten. Ich weiß nicht mehr, wer von uns glaubte, herausgefunden zu haben, dass der Schmerz überhaupt nicht existiert, sondern lediglich eine Illusion unseres Hirns ist. Ich war so begeistert von diesem Gedanken, dass ich mir eines Nachts inmitten eines Kreises atemloser Zuschauer eine Messerspitze in den Arm bohrte und mich zwang, dabei zu lächeln.‘“ Nun betrauern die Ex-Anarcho-Künstler ihren Verrat an den bürgerlichen Werten, der für einige von ihnen tödlich endete, weil sich der Spagat zwischen Welt und weltverachtendem Künstlertum nicht aushalten ließ.

Das Buch heißt „Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien“, und es ist ein Kuriosum. Die Erzählung ist autobiografisch: Simenon selbst gehörte in seiner Geburtsstadt, dem belgischen Liège, zu einer verruchten Gruppe von Bohemiens, und einer seiner damaligen Freunde wurde, wie im Buch, erhängt an der Kirchentür von Saint-Pholien gefunden. Simenon hatte ihn als Letzter lebend gesehen. Nur einen Buchstaben seines Nachnamens streicht er dem toten Freund in seiner literarischen Verarbeitung.

Literarische Verarbeitung? Man darf nicht vergessen, dass sich der entschlossene Antiliterat Simenon eine Mahnung von Colette zu Herzen genommen hatte, die ihm als Literaturchefin von Le Matin schrieb: „Mein kleiner Sim, merzen Sie alles Literarische aus Ihren Werken aus, und wir werden Ihre Geschichten drucken.“ So weit wie vor ihm Rimbaud, der seine wüste Existenz als Kunstrevolutionär hinter sich ließ und Waffenhändler wurde, ging Simenon nicht. Vielmehr genügte es ihm, Protokoll über Leidenschaften zu führen, die er in einem Leben als Vollblut-Geniekünstler vielleicht nicht ausgehalten hätte. Aber besser verdient als mancher Waffenhändler hat er mit seinen Büchern gewiss.

Seinen Arbeitsalltag hat Paris Match einmal so umrissen: „Bevor er sein Tagwerk beginnt, spitzt er penibel ungefähr zwanzig Bleistifte, genug, um in einem Zug ein ganzes Kapitel zu schreiben. Sobald die Mine des einen abgenutzt ist, greift er zum nächsten. Genauso raucht er nie dieselbe Pfeife zweimal hintereinander. Er besitzt mehr als zweihundert und sucht sich immer ein paar im Voraus aus, die er mit einer hellen Tabakmischung stopft, die ihm die Firma Dunhill extra anfertigt. Straßenkarten und Eisenbahnfahrpläne helfen ihm bei der Wirklichkeitstreue, mit jenen ‚wahren Details‘, die seinen Texten ihre unerreichte Glaubwürdigkeit verleihen.“ Über dreihundert Romane schreibt Simenon. Für einen braucht er drei bis elf Tage.

Der Polizist als Künstler, der Literat als Ordnungshüter, der seinen eigenen Überschwang arrestiert – man muss kein Genie sein, um zu erkennen, woher Simenons Romane bei aller vordergründigen Nüchternheit ihre innere Spannung beziehen. Die Welt, in die er seinen Helden hinausschickt, ist ohne festen Boden. Bei jedem Fall, den der Kommissar löst, bleibt das Verhalten der Täter, Opfer und Zeugen ein Rätsel, und außer seiner so klassischen wie müde-resignierten Männlichkeit hat Maigret eigentlich nichts, worauf er sich verlassen kann. Was ihm bleibt, sind lediglich seine kreativen Eingebungen, denen er oft ganz wie ein Künstler folgt.

Die Maigret-Romane, in denen so schnell so viel passiert, dass ihre herrlich depressive Grundstimmung kaum noch auffällt, sind ein monströser Versuch, das furchterregende Chaos des Lebens zu ordnen, ihm mit der Polizei beizukommen und sozusagen ein Gesetz zu geben. Aber nicht einmal der Kommissar selbst scheint bei Simenon zu glauben, dass dieses Vorhaben gelingen kann.

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