schreiben: Porträt - Geister, Gespenster

Sabrina Janesch hat an der Universität Hildesheim ihr Schriftstellerinnen-Diplom gemacht und veröffentlichte in diesem Herbst ihren ersten Roman – aus dem Leben einer Jung-Autorin

Sabrina Janesch kenne ich seit sechs Jahren. An unsere erste Begegnung kann ich mich nicht erinnern, sie aber schon. Kurz bevor ich als Dozentin an der Uni Hildesheim anfing, war ich in eines der Seminare des dortigen Studiengangs «Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus» eingeladen, um über meine Arbeit und das Leben als freiberufliche Schriftstellerin zu reden. Sabrina Janesch weiß noch, dass ich auf die Frage, ob ich vom Schreiben leben könne, gesagt habe, sie soll­ten lieber meinen Sohn fragen. Ich war wohl eher ein abschrecken­des Beispiel.

Heute ist Sabrina Janesch freie Schriftstellerin und auf einem Abstecher in Berlin. Eine Reisende mit wenig Gepäck. Seitdem im Juni ihr Roman «Katzenberge» erschien, ist sie viel unterwegs. Zeit, die ihr vom Schreiben abgeht, denn sie arbeitet inzwischen an ihrem zweiten Roman. «Schreiben bedarf einer ziemlich punktgenauen Balance. Es ist wie beim Orchideenzüchten, es darf auf keinen Fall ein bisschen zu wenig oder ein bisschen zu viel Feuchtigkeit sein.» Reisetage sind verlorene Schreibtage. «Im Zug schreiben kann ich nicht. Mir ist es schon zu oft passiert, dass ich irgend­was in den Laptop getippt habe und sich irgendjemand rübergebeugt und gefragt hat: ‹Schreiben Sie eine Geschichte?› Und dann ging es nicht mehr. Im Zug kann ich höchstens einen Text korrigie­ren. Aber irgendwann überrasche ich mich dabei, wie ich einfach aus dem Fenster gucke. Landschaften absorbieren meine Aufmerksamkeit.» Landschaft ist auch ein Thema in ihrem ersten Roman. Allerdings eher die polnische und ukrainische als die durch die Fahrtgeschwindigkeit fast künstlich anmutende deutsche, die man vom ICE aus sieht.


Eine Entdeckung beim Übungs-Klagenfurt

Sabrina Janesch lebt den Traum jedes Hildesheimer Anfängers, den folglich auch sie hatte, als sie 2004 mit 19 Jahren in die Stadt an der Innerste kam: Ihr Diplom erhielt sie im letzten Jahr für einen Auszug aus ihrem ersten Roman, der in diesem Sommer in einem renommierten Verlag veröffentlicht wurde. Mit einem Kapitel daraus wurde sie dann gleich nach Klagenfurt und zwar zum offiziellen Wettbewerb und nicht zu dem als «Häschenschule» belächelten Literaturkurs eingeladen. Viel mehr kann man eigentlich im deutschsprachigen Raum mit 25 Jahren nicht erreichen. Außer natürlich, Klagenfurt zu gewinnen.
Aber so glatt, wie es klingt, war ihr Weg nicht. «Nachdem ich in Hildesheim angefangen hatte, habe ich erst einmal überhaupt nicht mehr geschrieben. Plötzlich gab es um mich herum so viele talentierte Leute, die alle Schriftsteller werden wollten. Das hat mich abgeschreckt, und ich habe mich auf die Nebenfächer konzentriert. Außerdem gab es ja noch all diese literarischen Projekte in Hildesheim, in denen man sich aufreiben konnte und die vom Schreiben ablenkten.» Irgendwann hat sie die Notbremse gezogen und ist für zwei Semester nach Krakau gegangen, um Polonistik zu studieren. «Da habe ich dann wieder zurück zu meinen eigenen Themen gefunden und zu einer Lockerheit gegenüber dem Schreiben. In Krakau habe ich die ersten Roman-Anfänge ausprobiert – und sämtlich verworfen. Aber es führte langsam hin zum Debüt.»

Sabrina Janesch fällt im ersten Augenblick nicht auf: eine freundliche junge Frau, der jede Pose fremd zu sein scheint. Man weiß nicht genau, ist sie 19 oder 28, auf jeden Fall jung. Eine, deren Ehrgeiz man leicht unterschätzt. Ich nahm sie als Autorin das erste Mal auf einer Hildesheimer Lesung wahr, die man als eine Art Übungs-Klagenfurt bezeichnen könnte. Drei Juroren aus dem Literaturbetrieb begutachteten coram publico ausgewählte Texte von Studierenden. Schon damals las Sabrina Janesch aus einer frühen Fassung von «Katzenberge», und ich dachte, die hat etwas zu erzählen, was über die Gegenwartswehwehchen eines Mittelstandskindes hinausgeht. Mich beeindruckte, dass da ein anderer Ton war – und außerdem eine Geschichte, die aus einer Perspektive erzählt wurde, die nur haben konnte, wer in zwei Welten aufgewachsen war, in ihrem Fall einer polnischen und einer deutschen. Zwei Kulturen in einer Person, das gibt es noch selten in den universitären Studiengängen, die das Schreiben lehren. Die Leiche auf dem Dachboden, die in Sabrina Janeschs Text vorkam und deren Geist den Großvater sein Leben lang begleiten sollte, sie blieb in meinem Gedächtnis. Ich fand sie wieder, als ich in diesem Frühjahr das Manuskript las.


Auf einem Friedhof der Dinge

«Katzenberge» ist inspiriert von der Familiengeschichte mütter­licherseits. Bauern, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Galizien vertrieben und im von den Deutschen geräumten Schlesien angesiedelt wurden. Sabrina Janesch verdankt ihre Existenz einer weltpolitisch heiklen Situation, der Verhängung des über ein Jahr gelten­den Kriegsrechts in Polen durch den Ministerpräsidenten Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981. Zu dieser Zeit war die junge polnische Frau, die ihre Mutter werden sollte, in Westdeutschland auf Reisen. «Sie wollte zwei Wochen Urlaub machen in Frankfurt am Main. Zu dieser Zeit wurde das Kriegsrecht ausgerufen, die Grenzen waren dicht für ein Jahr. Und sie fand sich in Deutschland wie­der, ohne ein Wort Deutsch zu können. Zu meinem großen Glück hat sie dann meinen Vater kennengelernt. Es war also keine geplan­te Auswanderung.»

Aufgewachsen ist Sabrina Janesch im niedersächsischen Gifhorn. Polnisch hat sie von ihrer Mutter und bei ihren Aufenthalten in Niederschlesien gelernt. «Bevor ich eingeschult wurde, habe ich eigentlich die meiste Zeit auf dem Bauernhof bei meinem Großvater verbracht. Man hatte nach dem Krieg alles, was irgendwie sonderbar war und übriggeblieben von den Deutschen, auf dem Dachboden versteckt wie in seinem Unterbewusstsein. Dort oben war ein Friedhof der Dinge, vor dem ich mich immer gegruselt habe und von dem ich gleichzeitig angezogen war. Überhaupt wurde man in Niederschlesien als Halbdeutsche ständig damit konfrontiert, dass irgendwas Deutsches an der Wand stand. Aber ich wusste ja, dass ich in Polen war. Und dieser Widerspruch ließ sich für mich als Kind nicht auflösen.»

Inzwischen ist der Dachboden ausgebaut, der Schrecken verflogen. Die Geschichte der Ankunft des Großvaters in einem von den Deutschen verlassenen Landstrich ist zum Roman geworden, «Katzenberge» eben, in dem zwei Erzählstränge, die auch zwei Zeitebenen darstellen, miteinander verwoben sind. Ein Strang ist die Erzählung des polnischen Großvaters, gefiltert aus der Erinnerung der Enkelin Nele Leibert; der zweite spielt in der Gegenwart und beschreibt die Reisen der jungen Protagonistin nach Schlesien zur Beerdigung des Großvaters und schließlich nach Galizien, auf den Spuren eines Familiengeheimnisses. Die Reise des Großvaters wird rückwärts erzählt. Aus dieser Perspektive hat man noch nie über die Vertreibung und Neubesiedlung Schlesiens gelesen, sie macht das Buch zu etwas Besonderem. Man bewegt sich bei der Lektüre in einem Echoraum der Geschichte, begleitet von einem unterir­dischen Grollen und der ängstlichen Frage der Ankommenden in einem verlassenen Land: «Jest tam kto?» – Ist da wer?


Der Literaturbetrieb ist manchmal wirklich putzig

Bei den Juroren des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wett­bewerbes fiel Sabrina Janeschs Text durch. Sie hatte sich entschieden, nur einen Strang der Erzählung zu lesen, den des Großvaters. Die Juro­ren fanden die Bilder zu ungenau, zu farblos oder zu brav, die Gespenster der Vergangenheit hochgezüchtet, zu harmlos die Mittel, mit denen der historische Schrecken beschrieben wird. Es fiel gar das Stichwort «Augsburger Puppenkiste» und, besonders hässlich gemeint, der Vergleich mit der Vampirroman-Autorin Stephenie Meyer – wegen der Geister. Sabrina Janesch nimmt diese Erfahrung fast ein halbes Jahr später sportlich. «Klagenfurt war ein großer Schritt vorwärts in diesem Prozess der Professionalisierung. Es war anstrengend, ich habe mir mehr erhofft, klar, sonst wäre ich nicht hingegangen. Ich habe mir hinterher gesagt, vielleicht hätte ich mir den Text anders zusammenstellen sollen für den Bachmann-Preis, hätte beide Zeitebenen des Romans demonstrieren müssen. Aber es war eine bewusste Entscheidung, dies nicht zu tun.» Und dann sagt sie, mit Bezug auf die Klagenfurter Bade- und Trinkrituale: «Der Literaturbetrieb ist doch wirklich manchmal putzig.» Was ein bisschen wie ein Abwehrzauber klingt, der an den des Großvaters gegen das Biest in «Katzenberge» erinnert. «Dieses Erlebnis in Klagenfurt hat mir, als dann das Buch erschien, viel von der Angst vor negativen Rezensionen genommen. Man wird erstaunlich abgebrüht. Außerdem hat mir in der Beziehung mein Studium in Hildesheim sehr geholfen. Dort habe ich gelernt, dass man immer auch zum eigenen Text halbwegs eine Distanz mitdenken kann. Und davon profitiere ich jetzt.»

Eine Kritikerin legte kürzlich in einem «Zeit»-Artikel über den Zustand der Gegenwartsliteratur noch nach. Eine vage Museumsperspektive beherrsche die Stoffe selbst der jungen Autoren, schrieb sie. «Wir haben einen Berg Familienchroniken (…) und bekommen dauernd neue auf den Tisch. Debüts wie (…) ‹Katzenberge› (2010) der gerade 25-jährigen Sabrina Janesch, die eine Enkelin in die schlesische Heimat ihres Großvaters reisen und auf das literarisch so beliebte Jahr 1945 stoßen lässt.» Die Kritikerin möchte keine schlesischen Großväter, sondern lieber LKW-Fahrer, Flatrateprostituierte, VW-Betriebsräte und magersüchtige Models. Der Ruf nach der Beschreibung der Gegenwart ist nicht neu, er kommt in Wellen. Man hat dergleichen schon häufig in anderer Form gelesen, so vor langer Zeit, in einer anderen Welt, bei Walter Ulbricht, der 1959 bei seiner Rede auf der Bitterfelder Konferenz keine Bücher mehr über den Faschismus, sondern über das Leben in der Arbeitswelt veröffentlicht sehen wollte. Allerdings halten sich die eigensinnigen Autoren selten an die Wünsche ihrer Kritiker.

 

 

Mensch, Sabrina, wer liest denn das?

Unter Lesern ist das Interesse an Sabrina Janeschs Roman unbefangener. Die Veranstaltungen, auf denen sie auftritt, sind gut besucht. «Es gab viele Leute, die, bevor das Buch erschienen ist, gesagt haben: ‹Mensch, Sabrina, wer liest denn das? Da kommen doch nur die Alten zur Lesung. Nur Vertriebene.› Aber es ist ein erstaunlich gemischtes Publikum. Was mich sehr freut, ist, wenn Zuhörer in meinem Alter kommen. Und wenn darunter noch jemand ist, der sagt: ‹Ich habe mit dieser Geschichte überhaupt nichts zu tun, meine Familie hat keine Wurzeln dort, und ich war auch noch nie in Polen – aber super!›, dann ist das für mich das größte Kompliment.» In ihrem Roman geht es um Heimat, um Entwurzelungen und die Suche nach einem neuen Zuhause. Als Sabrina Janesch an diesem Nachmittag an meinem Küchentisch sitzt, ist sie nur auf der Durchreise in Berlin. Hier ist ihr Verlag. Die Stadt selbst ist für sie keine Option, anders als für gefühlte 99 Prozent ihrer gleichaltrigen Kollegen. Sabrina Janesch sucht noch nach dem idealen Ort. Sie ist im letzten Jahr, nach ihrem Diplom in Hildesheim, viel herum­gezogen, zeitweise hatte sie gar keine Wohnung. Es gab eine Adresse in Cottbus, dann folgten Aufenthaltsstipendien in Gda?Ñsk, Stuttgart, Berlin. Mittlerweile wohnt sie mit ihrem Freund in Münster. «Aber das unterscheidet sich nicht von anderen Lebensentwürfen. Meine Freunde sind von Hamburg bis nach München überall verstreut. Da ist Münster noch einigermaßen zentral.»

Es ist auch ein Ausprobieren, ob es möglich ist, überall zu schreiben und unter verschiedensten Umständen, abgesehen vom Zug. Einmal im Jahr fährt sie nach Niederschlesien. «Mein Cousin hat den Hof übernommen, das geht weiter von Generation zu Generation. Es reizt mich natürlich auch, dort hinzufahren, als Gegenentwurf zu meinem Leben. Aber ich sehe dann immer auch, was für eine Arbeit das ist. Du kommst nie weg von deiner Scholle. Wenn ich zurückfahre, bin ich immer wieder kuriert von
bäuerlichen Utopien. Ich bin sehr zerrissen, was für ein Leben ich mir für mich gut vorstellen könnte. Ich reise viel und gern um die Welt und gleichzeitig habe ich diesen Drang, mich ganz fest zu
verwurzeln. Diese beiden Extreme vertragen sich schlecht mit­ein­ander.» Im Moment möchte sie am liebsten ihren zweiten Roman zu Ende schreiben. Ort des Geschehens ist Gda?Ñsk, wo sie im letzten Jahr Stadtschreiberin war. Wieder wird es um verschobene Wahrnehmungen der Wirklichkeit gehen, nur diesmal nicht um Geister, sondern um jemanden, der merkt, dass er Gedanken lesen kann. Was sie dafür braucht, ist Ruhe. «Damals, als Hanns-Josef Ortheil im Seminar gesagt hat, dass man als Schriftsteller seinen gesamten Tagesablauf dahingehend planen muss, wie man am besten schreiben kann, also wann man was trinkt, wann man Zeitung liest, wann man aufsteht, damit man zwei Stunden konzentriert schreiben kann, habe ich gedacht, das wäre Quatsch. Und jetzt merke ich: Das Leben versucht wirklich, einen vom Schreiben abzuhalten, und man muss alles tun, um sich so eine Blase zu schaffen, in der man arbeiten kann.»

Am Abend hat Sabrina Janesch eine Lesung in der Kantine des «Berghain». Es gibt Gleichaltrige, die würden alles dafür tun, wenigstens einmal am Türsteher dieses weltweit angesagtesten Klubs vorbeizukommen. Der Türsteher wird seinen Dienst noch nicht angetreten haben, wenn Sabrina Janesch schon drin ist.
 

Sabrina Janesch
Katzenberge. Roman
Aufbau, Berlin 2010. 304 S., 19,95 €

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