- Einmal Hartz IV und zurück
Katja Kullmann bekam 2003 den deutschen Bücherpreis für ihr Buch „Generation Ally“. Fünf Jahre später musste sie Hartz-IV beantragen. Darüber schreibt sie in ihrem neuen Buch „Echtleben“. Kullmann über Armut, Aufstockerei und Alice Schwarzer.
Frau Kullmann, 2002 waren Sie noch Bestsellerautorin.
Wie Sie in Ihrem neuen Buch „Echtleben“ beschreiben, mussten Sie
Anfang 2008 aber Hartz-IV beantragen. Unverhofft hat Ihnen dann
etwa ein Jahr später ein Hamburger Frauenmagazin eine Stelle als
Ressortleiterin angeboten. Was hätten Sie gemacht, wenn Sie diese
Chance nicht bekommen hätten?
Kurz bevor der Anruf aus Hamburg kam, hatte ich ein Probearbeiten
in einem Call Center vereinbart – und ich hätte diesen Job auch
erst einmal gemacht. Rund ein Jahr liefen meine „Amtsgeschäfte“.
Von der Aufstockerei, dem ständigen An- und Abmelden hatte ich
genug. Ich hätte damals alles dafür getan, meine Autonomie
zurückzugewinnen. Und das hätte erst mal bedeutet: Meinen
eigentlichen Beruf nach fast zwei Jahrzehnten aufzugeben und
einfach mit irgendwas schnell irgendein Geld zu verdienen. Keine
Ahnung, wie das dann weitergegangen wäre.
Wie haben sie sich gefühlt, als sie Hartz-IV beantragen
musste.
Zu meinem Selbstverständnis – und ich denke, das teile ich mit
vielen Erwachsenen in meinem Alter und aus meiner sozialen Herkunft
– gehört der Anspruch, möglichst selbst bestimmt durchs Leben zu
kommen. Ich kenne niemanden, der sich freiwillig in die so genannte
soziale Hängematte legen würde. Und wer einmal eine BG-Nummer
hatte, der weiß genau, wie entwürdigend das sein kann. An meinen
Idealen halte ich fest: sich nicht bestechen lassen von Geld,
Glamour, Hierarchien, sondern in jeder Hinsicht einen
emanzipatorischen Weg verfolgen – das Glücksversprechen versuchen
einzulösen und auch anderen zu ermöglichen. Das ist das, was ich
unter Freiheit verstehe.
Gibt es den Klischee-Hartzer?
Ich glaube nicht, dass es ihn gibt – aber es gibt ein „Klischee des
Hartzers“. Dieses Klischee erfüllt die gute alte
Sündenbocktradition, und spätestens als ich selber „so eine“ war,
habe ich das begriffen. Was wir feststellen müssen, gerade auch in
Großbritannien, im Zuge der jüngsten Krawalle: Die Welt, in der wir
heute leben, produziert Massen von Abgehängten, Ausgeschlossenen
und Verlierern – manche von denen verfallen in Agonie, andere
toben. Etwas muss also faul sein an der angeblichen neuen
„Freiheit“.
Wie sehr schreckt dieses Klischee Akademiker davon ab,
sich auch im Notfall helfen zu lassen?
Wenn man heranwächst mit dem Versprechen, dass Bildung ein Garant
fürs Gewinnen ist, dann schmerzt das natürlich und passt nicht mit
dem Selbstbild zusammen: „Ich habe mich doch immer angestrengt –
wieso stehe ich nun genauso schlecht da wie ein ungelernter
Leiharbeiter?“ Aber genau in jener Erkenntnis liegt natürlich auch
eine große Kraft. Auf einmal sitzt man mit ganz anderen Menschen in
einem Boot, als man es je für möglich gehalten hätte. Daraus kann
eine ganz neue Solidarisierung erwachsen. Meine eigenen Arroganzen
habe ich mir jedenfalls gründlich abgeschminkt.
Lesen Sie auch, was Kullmanns Rezept für Deutschland wäre.
Hatten Sie, als Sie das erste Mal zur Arbeitsagentur
(heute Jobcenter) gegangen sind, psychologische Tricks, um sich zu
beruhigen?
Zum einen habe ich gehofft, dass die mich gleich wieder wegschicken
und etwas sagen wie: „Aber jemand wie Sie ist hier doch völlig fehl
am Platz!“ Zum anderen habe ich versucht, eine Rechnung in meinem
Kopf anzustellen: Nie Bafög oder Arbeitslosengeld oder auch nur ein
Stipendium in Anspruch genommen, alles immer aus eigener Kraft
finanziert, 38 Jahre lang, und jahrelang als Spitzenverdienerin
eine Menge Steuern und Sozialbeiträge abgedrückt – also werden so
ein paar Monate hoffentlich mal in Ordnung sein. Irgendwie so habe
ich versucht, mich zu beruhigen.
Ihr Buch beschreibt Probleme, kein Rezept – wie Alice
Schwarzer über Charlotte Roches neues Buch sagt. Wie sähe ihr
Rezept für die Republik aus, was täte Katja Kullmann als Königin
von Deutschland?
Brutal verkürzt, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir, die
Gesellschaft, wollen das bisherige Gemeinwesen weiter aushöhlen,
uns weiter entsolidarisieren und die Welt weiter
„individualisieren“ – dann brauchen wir aber auch neue
Rahmenbedingungen, etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen, das
anstelle der fehlenden gesellschaftlichen Solidarität den Einzelnen
stützt. Das würde aber bedeuten: Alle Subventionen, auch das
Elterngeld, Steuervergünstigungen etc. müssten abgeschafft
werden. Oder wir halten an der Idee der sozialen Marktwirtschaft
fest, wir retten und reparieren die Vorzüge, die die alte
Bundesrepublik hatte. Das würde z.B, bedeuten, dass die Arbeitgeber
sich wieder in vollem Umfang an den Sozialsystemen beteiligen und
verlässliche, faire Beschäftigungsformen bieten, dass die
erwirtschafteten Gewinne auch geteilt werden und nicht das
Gemeinwesen für die Sicherung privater Gewinne gerade stehen muss,
wie es aktuell, europaweit geschieht.
In ihrem Buch nehmen Sie Coachings und andere
Methoden auf Schippe, mit denen Großstädter versuchen, den inneren
Ausgleich zu finden. Haben Sie schon mal so etwas versucht?
Vielleicht Yoga oder Qi Gong?
Nein, ich glaube nicht an Zaubersprüche. Aber ich habe Verständnis
dafür, wenn Menschen ab und an Trost brauchen.
Was hat ihnen dann geholfen sich mental über Wasser zu
halten?
Das, was mich seelisch schon oft gerettet hat, ist das Gegenteil
von all dem. Nicht sich weiter „nach innen“ wenden, sondern eher
mal einen Schritt von sich selbst zurücktreten, quasi „von oben“
auf sich selbst schauen. Den eigenen Narzissmus mal zurückfahren
und vielleicht bei Facebook spielerisch ausleben – und begreifen,
dass man als vermeintlich individuelles Wunderwerk stets auch Teil
einer Masse ist, ein Rädchen im Getriebe. Ich betrachte mich da
ganz nüchtern als soziologisches „Fallbeispiel“. Es entlastet
die Psyche ungemein und macht klüger. Und ich kann es jedem
empfehlen. Das bringt viel mehr, als beim Therapeuten ständig
in der eigenen Kindheit zu wühlen. Kindheit ist für jeden immer
schwer!
Sie haben lange als Stammautorin für die Emma
gearbeitet, was ist ihr Verhältnis zu Alice Schwarzer und was
halten Sie von ihrer Arbeit für die Bild?
Alice Schwarzer ist ein Machtmensch – und das sage ich mit allem
Respekt. Ich habe ungeheuer viel von ihr gelernt, vor allem, dass
man es aushalten kann und muss, sich auch mal unbeliebt zu machen,
gerade ,als Frau‘. Sie ist eine Boxerin, sie denkt strategisch, sie
kann knallhart sein. Das finde ich hochgradig interessant, es gibt
nicht viele Frauen, die das so durchziehen. Von Alice habe ich
gelernt: Frauen sind nicht automatisch die sanfteren Wesen – und
müssen es auch nicht sein. Viele Dinge sehen und sahen wir anders,
und auch ich kann das mit der Bild überhaupt nicht
verstehen. Aber es bleibt dabei: Eine bessere, klügere
Sparringspartnerin kann ich mir nicht wünschen. Sie hat mich
schlauer und mutiger gemacht, als ich es vor unserer Bekanntschaft
war.
Lesen Sie auch, was Kullmann von Slutwalks hält.
Was halten Sie von Slutwalks?
Schwierig. Nach zwanzig Jahren Beschäftigung mit feministischen
Inhalten bin ich zum Schluss gekommen: Diese Selbstbenennung mit
sexistischen Schimpfwörtern – „Slut“, „Schlampe“, „Mädchen“,
„Zicke“, „Hure“ – funktioniert nicht. Es gehe um Aneignung und
Selbst-Definition der feindlichen Vokabeln, sagen die
Befürworterinnen. Für mich ist das aber zu sehr um die Ecke
gedacht, die Provokation letztlich auch billig und kindisch. Es hat
sehr viel mit dem Faktor ,junge Frauen‘ zu tun. Diese zornigen
20-Jährigen zeigen jetzt ihre süßen Brüste her – und demonstrieren
dagegen, dass man auf ihre Brüste starrt. Wenn diese Frauen mal
Ende 30 sind, werden sie die Sache anders sehen, da bin ich sehr
sicher. Aber ich respektiere das natürlich: Dass die ganz Jungen
immer neue, eigene Formen erstmal ausprobieren wollen. Das wollte
ich ja auch, mit um die 20.
Was bedeutete die Liberalisierung des Arbeitsmarkts im
vergangenen Jahrzehnt für die weibliche Emanzipation?
Zum einen profitieren Frauen, wenn auch oft unter Schmerzen, von
den neuen Verhältnissen – allein dadurch, dass viele Familien mit
einem Alleinernährer nicht mehr über die Runden kommen. Die
Erwerbstätigkeit von Frauen wird somit zur
Selbstverständlichkeit. Zum anderen sind Frauen sowieso das
flexibilisiertere Geschlecht – so wie es kaum historische Vorbilder
in vielen neuen Tätigkeitsfeldern gibt, so sind Frauen es
gewohnt, dass es kaum „Vorfahrinnen“ für sie gibt, in ganz
vielen Bereichen des selbstbestimmten Lebens. Deshalb kleben sie
nicht so an alten Rollenbildern wie noch immer viele Männer. Sie
sind eher bereit, neues auszuprobieren. Dennoch bleibt eine bittere
Wahrheit bestehen: Bis heute verdienen Frauen im Schnitt ein
Viertel weniger als Männer. Unglaublich, dass das immer noch so
ist.
Ist es auch Zeit für die Emanzipation des Mannes aus
seiner Rolle?
Ja klar, und viele haben das ja längst kapiert. Welcher vernünftige
Mann will heute noch den Aktenkoffer-Patriarchen abgeben, der
zwanzig Jahre früher als seine stumpf zu Hause sitzenden Frau an
einem Magengeschwür eingeht? Es gibt welche, die sehnen sich noch
immer danach: ein möglichst unterlegenes Wesen an ihrer Seite zu
haben, irgendwie den Max zu machen. Aber es gibt doch auch viele
Männer und Frauen, die sich längst auf Augenhöhe lieben und das
sehr aufregend und erfüllend finden.
Das Interview führte Peter Knobloch
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