- Der lag so mühelos am Rand des Weges
Stell dir vor es ist Krieg, und du gehst hin! Ein Schriftsteller als Beobachter auf den Schlachtfeldern und Berichterstatter von den Krisenherden der Welt
Stellen Sie sich
vor, Sie seien soeben in Dili gelandet, der Hauptstadt von
Ost-Timor, und stünden vor einem zerbeulten Pickup-Truck, auf
dessen Ladefläche zehn aneinandergekettete Personen, Männer, Frauen
und Kinder, mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt worden
sind: eine Laokoon-Gruppe, die nicht aus Marmor, sondern aus
verkohltem Menschenfleisch besteht. Ich erspare Ihnen den Anblick
der aus dem verschmorten Fleisch ragenden Knochen und spreche
lieber von den Blumen, die Anwohner auf die Asche streuen, um die
Geister der Ermordeten zu besänftigen. Das ist tröstlicher. Sie
sagen, Sie könnten sich das nicht vorstellen, Ost-Timor sei viel zu
weit weg? Diese Ausrede gilt nicht, denn Dili liegt nur zwei oder
drei Flugstunden von Ihrem bevorzugten Urlaubsziel auf Bali oder
den Seychellen entfernt. Im Zeichen der Globalisierung gibt es
keine entlegenen Inseln mehr, und virtuell sind alle Punkte des
Globus Ihrem Wohnort gleich nahegerückt. Sie haben weder Zeit noch
Geld, sagen Sie, nach Darwin in Nordaustralien zu fliegen, um sich
dort bei der UNAMET oder INTERFET zu akkreditieren – so heißt die
nach Ost-Timor entsandte Blauhelmtruppe – und mit einer
Militärmaschine nach Dili zu fliegen, was Sie nichts kosten würde,
falls Sie einen Presseausweis besitzen oder für eine
Hilfsorganisation tätig sind. Aber vorher müssten Sie ein
indonesisches Visum beantragen, was ziemlich lange dauern kann, da
Ost-Timor nur noch de jure, aber nicht mehr de facto zu Indonesien
gehört. Und ich will Ihnen nicht verschweigen, dass die
Kommunikation dort schwierig ist, weil man keine europäische
Sprache mehr spricht – nur ältere Timorer verstehen Portugiesisch,
die Jugend, also die Mehrheit der Bevölkerung, spricht Bahasa
Indonesia oder Tetum, ein lokales Idiom. Dazu gibt es in Dili weder
Hotels noch Restaurants, kein Wasser und keinen Strom, dafür aber
umso mehr Moskitos und Salzwasserkrokodile, die das Baden im Meer
unmöglich machen. Trotzdem ist die Chance, von einem Krokodil
gefressen, sehr viel geringer als das Risiko, von der Kugel eines
pro-indonesischen Rebellen getroffen zu werden; und auch das ist
weniger wahrscheinlich als die Gefahr, an Typhus oder Malaria zu
erkranken.
Wie wäre es statt dessen mit dem Kosovo? Wenn Sie wollen, können
Sie sogar mit dem Auto nach Pristina fahren. Einheitswährung ist
die deutsche Mark, deren Kaufkraft größer ist als in der
Bundesrepublik, und zur Einreise genügt ein Personalausweis.
Stellen Sie sich also vor, Sie seien soeben in Gjakovë
eingetroffen, das auf serbisch Djakovica heißt, und stünden vor
einem Massengrab, das in Ihrer Gegenwart geöffnet wird. Auf der
locker gehäuften Erde liegt ein lehmverschmierter Anorak, aus
dessen leerem Ärmel ein Wurm kriecht, und der neben Ihnen stehende
Einheimische sagt eher beiläufig, dass dieser Anorak seinem Bruder
gehört hat, der von serbischen Polizisten erschossen wurde und den
er mit anderen Getöteten heimlich in seinem Obstgarten begraben
hat, bevor die Behörden die Leichen verschwinden lassen
konnten.
Sie bieten ihm eine Zigarette an, aber der einheimische Führer
lehnt dankend ab, obwohl er, wie er sagt, seit drei Monaten keine
Marlboro mehr geraucht hat. Dann führt er Sie zum ehemaligen
Polizeihauptquartier, einem mehrstöckigen Betonklotz, in dessen
Fassade eine ferngelenkte Nato-Rakete ein klaffendes Loch gerissen
hat. Das Treppenhaus ist noch intakt, und Sie klettern über
Schutthaufen und zerborstene Stahlträger hinweg zu einem Büro im
oberen Stock, auf dessen Schreibtisch sich Karteikarten mit
Fahndungsfotos und Fingerabdrücken häufen, daneben, wie in einem
schlechten Film, eine halbleere Sliwowitzflasche und ein
zerfleddertes Pornoheft. «Das», sagt Ihr Führer und wischt die
Asche von einer verstaubten Karteikarte, «war ein Vetter von mir,
der im Keller des Polizeireviers zu Tode gefoltert wurde. Dabei
hatte er nichts mit der UCK zu tun.»
Oder Sie laufen über glühendheißen Asphalt auf einen von serbischer
Sonderpolizei bewachten Checkpoint zu. Die Straße ist menschenleer.
Ein Söldner in schwarzer Uniform, der eine dunkle Brille trägt und,
wie Sie später erfahren, Milan Petrovic heißt, lädt, als Sie
näherkommen, seine Waffe durch – keine Kalaschnikow, sondern ein
belgisches Sturmgewehr –, und schreit auf Gastarbeiterdeutsch:
«HIER NIX NATO, HIER SRBIJA!» – «Ich nix Nato, ich Maradona»,
antwortet der argentinische Journalist, der Sie begleitet. Aber der
Söldner hat keinen Sinn für Humor und reißt dem Argentinier ein an
einer Goldkette hängendes Kruzifix von der Brust, während er ihn
mit vorgehaltenem Gewehr bedroht.
An diesem Punkt protestieren Sie und wollen wissen, warum ich alles
Elend der Welt vor Ihnen ausbreite, an dem Sie, selbst wenn Sie
wollten, nichts ändern könnten? Wie sollen Sie als Zuhörer darauf
reagieren außer mit ohnmächtiger Wut oder hilfloser Betroffenheit?
Meine rhetorische Frage, ob Sie denn nicht neugierig sind auf den
Zustand der Welt, in der Sie leben, beantworten Sie mit dem
Hinweis, Ihre Aufnahmefähigkeit für fremdes Leid sei begrenzt. Doch
es gibt einen Einwand, der Sie nachdenklich stimmt: die Frage, ob
das, was anderswo möglich ist, nicht morgen auch vor Ihrer eigenen
Haustür passieren kann? Die Stadt Prizren, deren stellvertretender
Polizeichef Milan Petrovic nach Angaben von UN-Ermittlern
kosovo-albanische Zivilisten zu Tode gefoltert hat, liegt nur
anderthalb Flugstunden von München entfernt.
Es ist der erste Tag des Nato-Einsatzes, und das
Menschenrechtstribunal in Den Haag hat noch keine Beobachter in den
Kosovo entsandt. Erst vor zwei Stunden haben Panzerspitzen der
Bundeswehr bei Kukes die albanische Grenze überquert und nähern
sich langsam den Außenbezirken von Prizren, wo der stellvertretende
Polizeichef seine Wut diesmal nicht an Einheimischen auslässt,
sondern an zwei vor dem Checkpoint wartenden Reportern, die ins
Stadtzentrum zu gelangen versuchen. Er reißt mir den Presseausweis
aus der Hand und trampelt mit dem Stiefelabsatz darauf herum, und
als der Argentinier protestiert und ihn als Hurensohn beschimpft,
tobt der Polizeichef, fuchtelt mit geladenem Gewehr vor unseren
Gesichtern herum und setzt meinem Begleiter die Waffe an den Hals.
Ich bange um sein Leben und rede beruhigend auf meinen Kollegen
ein, der mit spitzen Fingern, als handle es sich um etwas
Unappetitliches, den Lauf des Gewehrs zur Seite schiebt. Der Zorn
des Polizeichefs wird dadurch nicht gedämpft.
Hans Christoph Buch, Jahrgang
1944, bereist seit Jahren die Krisenherde und Kriegsschauplätze vor
allem der Dritten Welt. Er beobachtete und beschrieb die
Bürgerkriege zwischen Ruanda (Bild, 1996) und Ost-Timor, der
Karibik und dem Kosovo. Als Schriftsteller wurde er bekannt mit
Romanen, Essays und Reportagen wie «Die Hochzeit von
Port-au-Prince» (1984), «Haiti Chérie»
(1990), «Die Nähe und die
Ferne – Bausteine zu einer
Poetik des kolonialen Blicks» (1991).
In diesem
Augenblick braust eine Fahrzeugkolonne der Bundeswehr an uns
vorbei: Leopardpanzer mit lachenden, verschwitzten Soldaten, die
uns fröhlich zuwinken, als glaubten sie an ein Missverständnis oder
einen Scherz. Ohrenbetäubender Lärm, eine Wolke von Abgasen hüllt
uns ein, und als der Staub sich verzieht, haben wir im Windschatten
zweier LKWs die Straßenkreuzung überquert und unseren Bewacher
ausgetrickst, der sich hustend und fluchend den Dreck von der
Uniform klopft.
Auf der abendlichen Pressekonferenz spricht der kommandierende
General von einem vollen Erfolg: Der Einmarsch des deutschen
Nato-Kontingents sei planmäßig vonstatten gegangen. Meine Frage
nach Milan Petrovic, dem als Kriegsverbrecher gesuchten
stellvertretenden Polizeichef, der noch Stunden nach Ankunft der
Nato-Truppen Journalisten drangsaliert und mit der Waffe bedroht
hat, beantwortet der General ausweichend: Der Schutz ausländischer
Reporter gehöre nicht zu den Aufgaben der Nato. «Sonst noch
Fragen?» Nein. Dass zur gleichen Stunde ein «Stern»-Journalist,
sein Fahrer und Dolmetscher nördlich von Prizren von Heckenschützen
erschossen worden sind, weiß ich um diese Zeit noch nicht.
«Warum begeben Sie sich freiwillig in Gefahr, Herr Buch?» Auf
diese, mir immer wieder gestellte Frage habe ich außer einem
verlegenen Lächeln keine Antwort parat: Das Motiv meines Handelns
ist mir selbst nicht klar. Patriotische Begeisterung scheidet
ebenso aus wie politische Überzeugung, jener moralische Impetus,
der einst Intellektuelle bewog, sich am Spanischen Bürgerkrieg oder
am Feldzug der Alliierten gegen Hitler zu beteiligen. Ich bin kein
Frontsoldat wie Ernst Jünger und kein Haudegen wie Hemingway,
sondern ein passiver Beobachter, der, ohne in das Geschehen
einzugreifen, leidenschaftlich Partei ergreift. Abenteuerlust
gehört sicher dazu, aber Neugier ist das bessere Wort dafür:
Neugier auf die condition humaine nach dem Ende des Kalten Krieges
– ich will wissen, wie die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
leben und woran sie sterben –, aber Neugier auch auf mich selbst.
Indem ich mich in Extremsituationen begebe, will ich etwas über
mich selbst erfahren. Tolstojs Frage «Was ist Mut?» habe ich mir
oft gestellt.
Was mich nicht interessiert, steht in den Zeitungen und schwappt
aus allen Fernsehkanälen. Auch die Frage, ob und wie die Medien
unsere Wahrnehmung manipulieren, interessiert mich nur am Rande.
Die Wirklichkeit des Krieges ist barbarischer, als das Fernsehen
sie zeigt, und zugleich weniger schlimm, weil nicht überall getötet
und gestorben wird – aber es gibt Verletzungen, die schlimmer sind
als der Tod. Materialschlachten wie im Ersten oder Zweiten
Weltkrieg habe ich ohnehin nicht erlebt, nur den sogenannten low
intensity war, der Märkte zerstört an Stelle von Fabriken und
Hütten an Stelle von Palästen. Ausnahme: die tschetschenische
Hauptstadt Grosny, deren Auslöschung in den Medien kaum Empörung
hervorgerufen hat. Zensur und Manipulation finden nicht erst auf
der Meinungsebene statt, sondern schon im Vorfeld, bei der Frage,
über welchen Teil der Welt wo und wie ausführlich berichtet werden
darf.
Noch Mitte der achtziger Jahre waren Live-Berichte von den Roten
Khmer in Kambodscha oder den Bojewiki in Tschetschenien, damals
noch integraler Teil der Sowjetunion, technisch und politisch ein
Ding der Unmöglichkeit. Heute übermitteln Computer, Fax und
Satellitentelefone in Sekundenbruchteilen Texte und Bilder von
einem Punkt der Erde zum anderen und unterlaufen spielend jede
staatliche Kontrolle und Zensur. Die Kehrseite des technischen
Fortschritts sind Reporter, die ihre Gehirne in rechteckigen
Koffern mit sich herumtragen. Sie wissen nichts über die Geschichte
und Kultur des Landes, in dem sie unterwegs sind, ganz zu schweigen
von dessen Sprache. Das ist auch nicht nötig, weil sämtliche Daten
und Fakten im Computer gespeichert und der von ihnen verfasste Text
selten länger als eine Bildunterschrift ist. Der Wortproduzent wird
zum Zuarbeiter des Fotografen, der höher bezahlt und daher
unersetzlich ist: Gute Fotografen sind selten, aber Textlieferanten
gibt es wie Sand am Meer.
Das Gegenstück zum Reporter ist der Experte, der nur ungern sein
Büro im Institut verlässt. Anstatt an die Front, geht er in die
Bibliothek oder ins Archiv. Er glänzt auf internationalen
Kongressen mit Fachwissen, das er von Studenten sammeln und von
seinen Assistenten aufbereiten lässt, bevor er es an die Regierung
weitergibt. Hier ist ein neuer Typus zu konstatieren, der mir an
vielen Kriegsfronten begegnet ist: der Rucksackreporter, das
journalistische Äquivalent zum Rucksacktouristen, zumeist ein
Student aus Kanada oder den USA, der mit Laptop und Videokamera im
Krisengebiet herumirrt, um Material für seine Magisterarbeit zu
sammeln, was ihm niemand so recht glaubt – er ist ständig in
Gefahr, als Spion verhaftet und erschossen zu werden. Wer, wie ich,
nur mit Bleistift und Notizblock bewaffnet ist, hat es besser:
Die Kämpfer der Kriegsparteien halten ihn für einen Priester oder
einen Arzt, der ihre Gebrechen kurieren kann, während er von
Fernsehreportern als Relikt aus dem Gutenberg-Zeitalter mitleidig
belächelt wird.
Aber ich bin kein Journalist, sondern Schriftsteller, und ich bin
nicht der erste Autor, der freiwillig in einen Krieg gegangen ist.
Seit Mitte der neunziger Jahre habe ich im Auftrag von Medien
zahlreiche Krisen- und Kriegsgebiete besucht: Liberia und Sierra
Leone, Burundi und Ruanda, Zaïre und Sudan, Bosnien und
Tschetschenien, Algerien und Kosovo, Kambodscha und Ost-Timor –
nicht als professioneller Reporter, sondern als Schriftsteller.
Hier liegt zugleich die Antwort auf die zuvor gestellte Frage: Es
gibt existenzielle Herausforderungen, denen ein Autor sich stellen
muss, wenn er etwas über sich selbst und die ihn umgebende Welt
herausfinden will, was er nicht schon vorher gewusst hat. Ich rede
von Grenzsituationen wie Geburt und Tod, Gefängnis und Exil, Folter
und Krieg, die man, weil die Einfühlung versagt, nicht zu Hause am
Schreibtisch nachvollziehen kann, sondern nur, indem man sich in
Gefahr begibt. Die Literatur hat das zu allen Zeiten getan.
Im Sommer 1851 reist Lew Nikolajewitsch Tolstoj in den Kaukasus. Am
Vorabend seines 23. Geburtstags am 28. August (alter Zeitrechnung)
schreibt er folgenden Stoßseufzer in sein Tagebuch: «Habe Frauen
gehabt, habe mich schwach gezeigt in vielen Fällen, im einfachen
Umgang mit Menschen, in der Gefahr, im Kartenspiel, und stecke noch
immer voll falscher Scham. Habe viel gelogen. Bin, Gott weiß wozu,
nach Grosnaja gekommen.»
Das nach Iwan dem Schrecklichen benannte Grosnaja, heute Grosny,
ist die Hauptstadt Tschetscheniens, schon damals Schauplatz eines
seit Jahrzehnten andauernden, immer wieder aufflammenden Krieges.
Tolstoj hat die beschwerliche und gefährliche Reise zusammen mit
seinem älteren Bruder auf eigene Kosten unternommen, um als
Beobachter an einem Feldzug des russischen Heeres gegen
aufständische Tschetschenen teilzunehmen. Obwohl er nicht in der
Armee gedient hat und von militärischen Fragen nichts versteht,
träumt er von einer Karriere als adliger Offizier; gleichzeitig
will er Schriftsteller werden und Material sammeln für eine
Erzählung oder einen Roman über den Krieg im Kaukasus. Auf Tolstojs
Frage, ob er sich dem Regiment anschließen dürfe, antwortet der
diensthabende Offizier, Hauptmann Chlopow: «An sich dürfen Sie
schon. Bloß, mein Rat wäre, lassen Sie’s lieber. Wozu das Risiko
eingehen?» Und er empfiehlt ihm die Lektüre eines Standardwerks
über den Krieg. Genau das, sagt Tolstoj, interessiere ihn nicht.
Vielmehr will er wissen, was Mut ist, warum Soldaten in den Kampf
ziehen und sterben. «Mut zeigt», sagt Hauptmann Chlopow, «wer sich
benimmt, wie es sich gehört» – ein Ausspruch, den Tolstoj in sein
Tagebuch notiert, weil er ihn überzeugender findet als Platons
Definition, Mut sei «Wissen um das, was zu fürchten ist und was
nicht», die ihm allzu theoretisch erscheint. Tolstoj begleitet das
russische Heer bei einer Strafexpedition, in deren Verlauf ein
tschetschenischer Aul geplündert wird. Die Dorfbewohner werden von
Soldaten massakriert. Zwei Dinge irritieren Tolstoj: Obwohl er dem
Generalstab zugeteilt ist, gewinnt er keinen Überblick über die
Operation; und den Befehl zur Vernichtung des Dorfes erteilt Fürst
Barjatinski, der Kommandeur, eher beiläufig: «‹Je nun, Oberst,
mögen die Leute nur brennen und plündern, ich sehe ja, dass sie
schreckliche Lust dazu haben›, sagte er
lächelnd.»
Tolstojs unter dem
unmittelbaren Eindruck des Geschehens entstandene Erzählung «Der
Überfall» ist literarisch unausgereift. Sie liest sich wie der
Bericht eines Kriegskorrespondenten. Erst siebzehn Jahre später, in
seinem Hauptwerk «Krieg und Frieden», hat der Autor seine im
Kaukasus gesammelten Erfahrungen literarisch verfremdet und
verdichtet: Pierre, der Held des Romans, ist ein Zivilist, der wie
der junge Tolstoj nichts von militärischer Strategie versteht und
orientierungslos zwischen Toten und Sterbenden auf dem Schlachtfeld
von Borodino umherirrt – mit fremdem Blick, der besser als jedes
sogenannte Fachwissen die Grausamkeit des Gefechts sichtbar macht.
Tolstoj benötigte noch einmal dreißig Jahre, um das traumatische
Kriegserlebnis seiner Jugend im Alterswerk «Hadschi Murat»
ungefiltert darzustellen. Aus solchen, ein Leben umgreifenden
Zusammenhängen entsteht große Literatur.
Auswegloses Leiden erregt kein Mitleid, sondern Abscheu – so lautet
der Grundgedanke von Lessings «Laokoon»: «Denn man reiße dem
Laokoon in Gedanken nur den Mund auf und urteile! Man lasse ihn
schreien und sehe! Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil
sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine
hässliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern
sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust
erregt, ohne dass die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese
Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann.» Lessings
«Laokoon» ist weder eine klassizistische Betrachtung über edle
Einfalt und stille Größe antiker Kunst noch eine akademische
Abhandlung über die Grenzen von Malerei und Poesie, wie der
Untertitel verheißt: vielmehr ein Essay über die Darstellbarkeit
von Leiden und körperlichem Schmerz, Grausamkeit und Gewalt, der
ins Zentrum der hier skizzierten Problematik führt, und dies umso
mehr, als der Autor den Leser nicht mit seinen fertigen Gedanken
konfrontiert, sondern in den Denkprozess einbezieht und so an der
Entstehung des Textes teilhaben lässt.
Lessing unterscheidet zwischen unmittelbaren Augenzeugen eines
Geschehens, die er Umstehende nennt, und den Zuschauern, also der
Öffentlichkeit; zwischen beiden steht der Erzähler oder Chronist,
dessen Rolle heutzutage der Reporter spielt. Alle zusammen sind
unfähig zur Empathie, nicht aus Mangel an gutem Willen, sondern aus
Mangel an Einbildungskraft: ein psychologischer Mechanismus, der
nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln ist, da er vor allem dem
Selbstschutz dient. Lessings Beobachtung habe ich nach der Rückkehr
aus Kriegs- oder Krisengebieten öfter bestätigt gefunden. Die Stirn
meines Gegenübers legte sich in Falten, sobald meine Antwort auf
die Frage «Wie war’s in Ruanda? Wie war’s in Kambodscha?» länger
als zehn Sekunden dauerte und mehr besagte als furchtbar oder
schlimm. Aber sie waren neugierig darauf, wie das Wetter in Ruanda
und Kambodscha gewesen war und was es dort zu essen gab, das heißt:
Sie legten, um das Inkommensurable kommensurabler zu machen, ihre
Urlaubserlebnisse als Maßstab an. Dagegen war nichts einzuwenden.
Was mich mehr erstaunt hat, war die Tatsache, dass auch die Opfer
von Kriegen nichts wissen wollten von den Leiden der Menschen in
anderen Teilen der Welt, im Gegenteil: Je näher ich einem
Kriegsgebiet kam, desto geringer wurde die Bereitschaft, sich auf
fremdes Elend einzulassen, da die Überlebenden vollauf damit
beschäftigt waren, ihr eigenes Leid zu verarbeiten.
Es war nicht der erste Tote, den ich in Haiti zu Gesicht bekam,
aber er hat sich tiefer als andere meinem Gedächtnis eingeprägt. Er
schien nicht zu schlafen, wie ein gnädiges Klischee es will: Seine
weitaufgerissenen Augen hatten das Grauen fixiert, das ihm
widerfuhr. Wahrscheinlich war er auf dem Heimweg von einer
Diskothek einer Armeepatrouille in die Arme gelaufen, die nachts
Jagd machte auf echte und eingebildete Gegner des Militärregimes.
Die Paramilitärs – es können auch Killer der FRAPH gewesen sein –
warfen die Leiche auf einen Müllhaufen am Straßenrand, wo sie zur
Abschreckung liegenblieb. Die Anwohner wagten nicht, den Toten zu
begraben, aus Angst vor Repressalien der Polizei. Als ich den
Ermordeten 24 Stunden später wiedersah, lag er nicht mehr auf dem
Rücken, sondern auf dem Bauch. Diebe hatten ihm die Schuhe
ausgezogen, und streunende Hunde oder Schweine, die in den
Armenvierteln Haitis frei herumlaufen, hatten den Leichnam auf die
andere Straßenseite gezerrt und seinen Brustkorb ausgeweidet.
Vielleicht hat der mich begleitende Fotograf deshalb nur seine
nackten Füße aufgenommen.
Wie der junge Mann hieß, welchem Beruf er nachging, wie und warum
er ermordet worden war – die Fragen stellte ich mir nicht. Statt
dessen fiel mir ein Vers meines Lehrers Walter Höllerer ein, der,
so schien es mir, den existentiellen Ernst der Situation besser zum
Ausdruck brachte als jeder Medienreport: «Der lag so mühelos am
Rand / Des Weges.» Und obwohl Höllerers Gedicht nicht unter der
Tropensonne Haitis, sondern in Eis und Schnee entstanden war, beim
Rückzug der deutschen Wehrmacht über einen italienischen Alpenpass,
wurde es dem Geschehen eher gerecht als jeder um Objektivität
bemühte Kommentar, weil sein Autor in dem anonymen Toten nicht bloß
einen gefallenen Soldaten, sondern einen Bruder sah. Das schwer zu
beschreibende Gefühl der Authentizität entsprang dem Bewusstsein
des Dichters, dass es ihn genauso hätte treffen können, und wo
dieses Bewusstsein fehlt, wird der Text frivol, oder, was auf das
gleiche hinausläuft, trivial.
Die Gleichzeitigkeit von Terror und Normalität ist älter als die
moderne Literatur: Was Walter Benjamin als surrealistischen choc
oder Brecht als Verfremdungseffekt bezeichnete, war geläufige
Praxis in der Kunst des Spätmittelalters und der Frührenaissance.
Vergleichbare Szenen habe ich in Kriegs- und Krisengebieten des
öfteren erlebt: Während auf dem Marktplatz von Sarajevo eine Bombe
explodiert, die nach Wasser anstehende Frauen und Kinder in Stücke
reißt, wird im Café Europa Capuccino serviert; während Ruandas
Tutsi-Armee im Flüchtlingslager Kibeho Tausende von Hutus
massakriert, ruft am Swimming Pool des Hotels Mille Collines ein
Lautsprecher die Gäste zum Lunch.
Die Simultaneïtät dieser Vorgänge ist erschreckender als die
täglichen Toten in den Nachrichtensendungen des Fernsehens. «Ich
fühle mich wie in einem Kriegsfilm», sagte mir ein junger
Bundeswehrsoldat, als er in Prizren aus dem Panzer stieg. «Das hier
ist
absolut unwirklich!» Dabei war er, wie die meisten Soldaten, dem
Hurra-Patriotismus der Medien abhold: Er traute dem Frieden nicht.
Auch ich traue dem Frieden nicht. Der Krieg bringt eine hässliche
Wahrheit ans Licht, die hinter der glänzenden Fassade unserer
Kultur verborgen liegt: dass der Rückfall in die Barbarei überall
und jederzeit möglich ist.
Von der
ästhetischen Faszination des Krieges habe ich nie etwas gespürt,
wohl aber vom Sog der Gewalt und von der Anziehungskraft des Bösen,
das ich lange Zeit für eine fromme Lüge zweifelhafter Moralapostel
hielt. Heute weiß ich, dass das Böse existiert, und habe an mir
selbst erfahren, wie ansteckend es wirkt. Dabei haben die Gräuel,
die ich auf Reisen in Krisengebiete sah, mich zunehmend abgestumpft
und für die Leiden der Opfer unempfindlicher gemacht – ja,
schlimmer noch, ich ertappte mich dabei, wie ich das obszöne
Schauspiel der Folterung eines Menschen genoss.
«JÄGERMEISTER – EUROPE’S MOST POPULAR LIQUOR» steht auf dem T-Shirt
des Bürgermeisters, der vor dem Rebellenangriff als Wachmann bei
der südafrikanischen Rutile Mining Company angestellt war und jetzt
die Selbstverteidigung der örtlichen Bevölkerung organisiert. Sein
Name ist Alfred Bangali, er ist 43 Jahre alt und hat zwölf Kinder,
von denen vier während des Bürgerkriegs in Sierra Leone ums Leben
gekommen sind. Ringsum verfallene Hütten mit abgebrannten
Strohdächern; nicht nur die Häuser, auch die Baumstämme sind von
Einschüssen durchsiebt, aber ein Granatsplitter, den eine Palme
leicht verkraftet, kann für Menschen tödlich sein. Am Rand einer
von Unkraut überwucherten Ananasplantage sind die Opfer der Kämpfe
in einem Massengrab beigesetzt. Die Erde ringsum ist mit toten
Tausendfüßlern übersät, deren Chitinpanzer unter meinen Schuhsohlen
knacken.
«Nyandehun Village, Imperi Chiefdom, Bonthe District, Mende People»
– mit diesen Worten stellt uns der Bürgermeister seine Krieger vor,
mit Buschmessern, Speeren und Bajonetten bewaffnete junge Männer,
deren nackte Oberkörper mit weißer Farbe bemalt und mit Fetischen
aus Tierknochen und Kaurimuscheln behängt sind, die sie
unverwundbar machen sollen. Einer der Kämpfer schwenkt eine
Kalaschnikow und trägt, zur Abschreckung des Feindes, Patronen im
Mund. Die Kamajoors – so heißen die in Jagd- und Kriegszauber
initiierten Mitglieder des Männerbunds – sehen aus wie Eingeborene
aus einem Tarzan-Film. Aber das Spiel ist ernst: Sie sind
nassgeschwitzt vom Laufen und zerren einen mit Stricken gefesselten
Gefangenen hinter sich her, angeblich ein Spion der Rebellenarmee,
den sie in einem angrenzenden Maisfeld überrumpelt haben. Der
Gefangene ist vierzehn, höchstens sechzehn Jahre alt; er blutet aus
einer Armwunde und schlottert vor Angst, während seine Bewacher ihm
Buschmesser und Bajonette an die Kehle setzen und den Lauf der
Kalaschnikow gegen den Bauch drücken. Er soll sich zu Unrecht als
Kamajoor ausgegeben und aus einer Hütte Geld gestohlen haben –
tausend Leones, sagt Alfred Bangali, was etwa einem Dollar
entspricht.
Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, ob die Geschichte wahr
oder erfunden ist, um die fremden Besucher zu beeindrucken, denn
als der Bürgermeister die Umstehenden fragt, was mit dem Spion
geschehen soll, stimmen alle für dessen Hinrichtung und ritzen wie
zur Probe mit den Spitzen ihrer Buschmesser und Bajonette seine
Brust, aus der dunkle Blutstropfen quellen. Ich bitte den
Bürgermeister, das Leben des Gefangenen zu schonen und ihn der
regulären Armee oder den südafrikanischen Söldnern zu überstellen,
aber meine Begleiterin, Mitarbeiterin einer karitativen
Organisation, ist anderer Meinung als ich: Die Strafjustiz sei
Angelegenheit der örtlichen Behörden, und ich hätte kein Recht,
mich in die inneren Angelegenheiten eines afrikanischen Dorfes
einzumischen.
«Der Dieb hat Glück», sagt Alfred Bangali, «ohne Ihre Intervention
wäre er jetzt schon ein toter Mann.» Und er sperrt den Spion in
eine winzige Lehmhütte, aus deren dunklem Inneren monotoner
Sprechgesang dringt. Nach Auskunft des Bürgermeisters stimmt der
Gefangene seine Totenklage an. Ich reiche ihm eine Flasche Wasser
und eine Tüte Biskuits – die Umstehenden schütteln missbilligend
die Köpfe, denn auch sie haben Hunger und Durst – und nehme Alfred
Bangali das Versprechen ab, den Delinquenten der Polizei zu
übergeben, bevor wir ins Auto steigen und nach Mobimbi Hills
zurückfahren, wo Colonel Nick uns zum Lunch erwartet. Was mich am
meisten erschreckt hat, war nicht die Brutalität der Kamajoors,
sondern meine eigene Reaktion: Ich geriet in eine rauschhafte
Erregung, die sich zu sadistischer Lust steigerte, als das Blut des
jungen Mannes zu fließen begann. Am liebsten hätte ich mich an
seiner Folterung beteiligt, während ich um das Leben des Gefangenen
stritt. In einem unkontrollierten Augenblick brach die Barbarei
hervor unter dem dünnen Firnis der Zivilisation.
«Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.» Diese
rituelle Beschwörungsformel galt jahrzehntelang als einzig richtige
Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg. Wie aber, wenn der Krieg
nicht von deutschem, sondern, sagen wir, von jugoslawischem Boden
ausgeht? Für diesen Fall hielt dieser Satz keine Handlungsanweisung
bereit, denn er war schlicht nicht vorgesehen: In der von
George Bush nach Ende des Kalten Krieges vollmundig angekündigten
«Neuen Weltordnung» war für bewaffnete Konflikte kein Platz, schon
gar nicht in Europa, das die richtigen Lehren aus seiner Geschichte
gezogen zu haben glaubte. Der Krieg war das schlechthin andere, das
unvorstellbar geworden war: ein Ausbruch atavistischer Gewalt, der
den in Festreden ausgemalten Traum von ziviler Gesellschaft und
Multikulturalität in blutige Scherben zerschlug.
Ich will die Debatte um Pro und Contra des Nato-Einsatzes in
Bosnien und später im Kosovo hier nicht noch einmal aufrollen. Mehr
als der ritualisierte Schlagabtausch, bei dem die Argumente beider
Seiten genau vorhersagbar waren, ärgerte mich die Position jener
Neunmalklugen, die ein komplexes Gemenge aus historischen
Traditionen und politisch-sozialen Konflikten auf eine einzige,
meist wirtschaftliche Ursache zurückführten.
Aufschlussreicher als vulgärmarxistische Verschwörungstheorien ist
der von der «Frankfurter Schule» propagierte Gedanke eines
übergreifenden Manipulations- und Verblendungszusammenhangs, der
wie ein Mangrovendickicht nur in mühsamer Kleinarbeit zu lichten
ist. So erklärte mir ein später Adept der Kritischen Theorie
kürzlich die Kriege im Balkan und im Kaukasus als Verteilungskämpfe
unter Globalisierungsverlierern, die in den Ruinen des
Staatssozialismus wie die Schiffbrüchigen auf dem Floß der «Medusa»
mit Enterhaken und Äxten aufeinander einschlügen. Ich selbst,
setzte er hinzu, sei ein Vertreter der «falschen Unmittelbarkeit»,
weil ich alles, was ich in Kriegsgebieten sehe, höre und rieche,
für bare Münze nehme, anstatt die dahinter verborgenen
Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Dieser Neo-Hegelianismus ist die
derzeit avancierteste Form einer postmarxistischen
Weltverschwörungs- und Welterlösungstheorie, die auf der fixen Idee
beruht, dass hinter allem und jedem immer etwas ganz anderes
steckt, und zwar etwas Negatives und Peinliches. «Gerade die
Tatsache, dass eine Erklärung extrem abstoßend ist, kann es sein,
die dich dazu bringt, sie anzunehmen», heißt es in Ludwig
Wittgensteins «Vorlesungen über Ästhetik», hinter denen sich eine
Polemik gegen Sigmund Freud verbirgt: «Zu gewissen Zeiten ist die
Anziehungskraft einer bestimmten Art von Erklärung größer, als man
sich vorstellen kann. Besonders eine Erklärung der Art ‹Das ist in
Wirklichkeit nur dies.›» Und zur Begründung setzt Wittgenstein
hinzu: «Viele dieser Erklärungen werden akzeptiert, weil sie einen
eigenartigen Reiz haben. Das Bild von Menschen mit unbewussten
Gedanken ist reizvoll. Die Vorstellung einer Unterwelt, eines
Geheimkellers. Etwas Verstecktes, Unheimliches. Vgl. die beiden
Kinder bei Keller, die eine lebende Fliege in den Kopf einer Puppe
stecken, die Puppe beerdigen und dann fortlaufen. (Warum tun wir so
etwas? Wir tun so etwas.)»
Was Wittgenstein hier an Gottfried Kellers Novelle «Romeo und Julia
auf dem Dorfe» exemplifiziert, deckt sich auf überraschende Weise
mit dem, was ich in Kriegsgebieten gesehen und erlebt habe, wobei
der beiläufig in Klammern hinzugefügte Satz den deprimierenden
Befund auf die Spitze treibt: Nicht die anderen – «wir tun so
etwas», ohne zu wissen, warum. Wenn das stimmt, wenn es keine
geheime Agenda mehr gibt und die meisten Dinge einfach nur das
bedeuten, was sie sind, die Wahrheit also buchstäblich auf der
Straße liegt, trägt dies nichts zu unser aller Entlastung bei, im
Gegenteil: Ohne moralisch erhobenen Zeigefinger und ohne den Trost
einer wie auch immer gearteten Transzendenz wird der Zustand der
Welt nicht leichter, sondern noch schwerer erträglich, als er es so
schon ist.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.