Das Journal - Aus dem Kummerkasten einer Jugendliebe

Elke Schmitters Komplementärroman zu «Frau Sartoris» beruht auf schlauem Stoff-Recycling – «Veras Tochter» ist das Buch im Buch zum Buch

Ein Déjà-Lu? Eine Frau will mit ihrem Geliebten fliehen, aber er lässt sie auf dem nächt­lichen Parkplatz sitzen, und sie kehrt nach Hause zurück. Ihre Tochter ist einem zwielichtigen Kerl erlegen, den die Mutter schließ­lich absichtlich über den Haufen fährt. Wer dabei an einen Roman von Elke Schmitter denken muss, der liegt genau richtig. Nur geht es diesmal nicht um «Frau Sartoris», das inzwischen sechs Jahre alte Debüt der «Spiegel»-Redakteurin, sondern gewissermaßen um dessen Spiegelbild.

In «Veras Tochter», Schmitters drittem Roman, heißt Margarethe Sartoris eben Vera und die Tochter nicht Daniela, sondern Katharina. Diese ist es, die hier erzählt, die der Geschichte der verzweifelten Ehefrau und Mutter eine Komplementärgeschichte mit verblüffend ähnlichen Motiven gegenüberstellt: Auch die Tochter erzählt von familiärer Enge und ihrer Flucht in eine bedingungslose Liebe – zu Robert, dem späteren Unfallopfer der Mutter. Während allerdings Margarethes Flucht immerhin erst auf dem Parkplatz endete, der Abschiedsbrief bereits geschrieben war und ihr Mann ihn sogar schon gelesen hatte, ist die sechzehnjährige Katharina von Roberts Vorschlag, gemeinsam – wir schreiben die siebziger Jahre – nach Nicaragua zu gehen, schlichtweg überfordert: «So starrte ich Robert nur blöde an, und es war vielleicht dieser Moment, in dem er sich löste von uns, in dem er mich aufgab.»

Dieses Zögern hat sich Katharina nie verziehen. Mit ihrer fraglosen Liebe jedoch ist sie viele Jahre, eine Therapie, einige Lebensstationen und Liebschaften später immer noch im Reinen – es hatten sie nicht Roberts Nachname, nicht seine Vergangenheit, nicht die praktische Seite seiner Sympathie für die RAF interessiert, nicht einmal, warum er ihr eigentlich diese durchsichtige Bluse aufdrängte und dann mit ihr durch die paar verruchten Bars der Stadt zog. Was damals zählte, war der Gegenentwurf zu ihrer Familie, das Provisorische, das Wagnis, das Begehren im Vergleich zu Kleinmut, Kleinlichkeit und Resignation daheim.


Zweitältester Kunstgriff

«Es ist nicht nur Robert, der mir fehlt», resümiert Veras Tochter, «seine Locken und seine kühle Haut, sein rätselvolles Schweigen, die Hand mit der Zigarette, diese langen Stunden im Nichts, ziellos, ganz ohne Tätigkeit und ohne Sinn, einfach nur gelebt und verbracht, vertrödelt, vergangen, verloren. Ich bin es ja selbst, die mir fehlt, die Frau, die mir abhanden kam.» Trotz der prag­­matischen Haltung ihrer Erzählerin, die sich selbst behandelt «wie ein professioneller Hundeabrichter: freundlich, sachlich und fest», ist «Veras Toch­ter» über weite Strecken ein gefühlsverarbeitendes Unternehmen. Kitschig allerdings ist es nicht. Die emotionale Dichte, die Genauigkeit, die treff­sichere Bildwahl, selbst die sprachlichen Schlaufen, das Tastende, mit dem Schmitter ihre Katharina über diese Liebe erzählen lässt, sind tatsächlich rührend. Und es ist bedrü­ckend zu lesen, wie sich die Lebensmotive der verhassten Mutter in denen der Tochter wiederfinden.

Schade nur, dass es nicht bei Margarethe und Daniela geblieben ist. Elke Schmit­ter hat es nämlich nicht beim natürlichen intertextuellen Bezug zwischen den beiden Büchern belassen, sondern den zweitältesten literarischen Kunstgriff angewandt, der wiederum aus dem ältesten Lese-Erlebnis folgt: der spontanen Identifikation. Katharina erfährt aus einer Frauenzeitschrift von «Frau Sartoris», sie liest das Buch gebannt und wendet sich schließlich mit den offenen Fragen ihres Lebens an die Autorin.

Und Elke Schmitter schreibt sogar, etwas kummerkastentantenhaft, zurück: «Für eine Autorin kann es beglückend sein, dass ihre Leser sich mit Figuren ihrer Roma­ne identifizieren, aber dazu gehört die Erfah­rung, dass das ‹Wiedererkennen›, wie auch bei Ihnen, Verwirrung auslöst.» Nein, sie kenne Katharinas Familie nicht, sondern habe schlicht den Versuch unternommen, «noch einmal einen Eheroman zu schreiben – solange das noch möglich ist».

 

Elke Schmitter
Veras Tochter
Berlin Verlag, Berlin 2006. 176 S., 18 €

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