Wem gehört die Moral?
Ist Moral nur ein Funkenschlag unseres Hirns, wie der Naturalismus der Hirnforscher behauptet? Oder bloß eine Funktion des Marktes, wie der Ökonomismus glaubt? Nein! Wir können Moral nicht aus dem Interesse heraus begründen, meint der Philosoph.
Was die Ethiker der aristotelischen und christlich-mittelalterlichen Tradition über das Verständnis der menschlichen Angelegenheiten und ihre glückende Gestaltung gelehrt haben, sei, so das harsche Urteil des modernen Philosophen Thomas Hobbes, nichts weiter als hohles Geschwätz, wertloses Gerede. Wolle der Mensch zu sicherer Kenntnis über sich gelangen, wolle er wissen, was er zu tun habe, dann müsse er sich den neuen Wissenschaften anvertrauen. Sie würden sein Selbstverständnis vom Illusionsschutt der mythologischen Vergangenheit reinigen und ihm den Weg zu einer stetigen Verbesserung seines Handelns weisen. Thomas Hobbes’ Hoffnung in die Aufklärungsleistung der Wissenschaften stützt sich im Wesent-lichen auf die beiden Strategien des Naturalismus und des Ökonomismus. Der Naturalismus verwandelt uns in ein Ding unter Dingen, das mit den Erkenntnismitteln der Physik vollständig erfasst werden könne. Er beraubt uns der Eigenwirklichkeit des Bewusstseins. Der Ökonomismus verwandelt uns in einen Homo oeconomicus, der bei seiner Interessenverfolgung durch keinerlei moralische Überlegungen abgelenkt wird. Er beraubt uns der moralischen Subjektivität. Beide Strategien verfahren also reduktionistisch, lassen nur das gelten, was ihre Modelle und Begriffe als Wirklichkeit ausgeben.
I. Dieser Traum von der szientistischen Selbsterlösung des Menschen hat die Moderne nicht mehr losgelassen. Seit Hobbes’ Zeiten hat die Wissenschaft nahezu ununterbrochen unser komplexes und vieldimensionales, religiöse Überlieferungen, alltagsmetaphysische Gewissheiten und Common-Sense-Überzeugungen verflechtendes Wirklichkeitsverständnis attackiert und für ihr flaches Realitätskonzept geworben. Auch in der Gegenwart bemühen sich Naturalismus und Ökonomismus mit Eifer um eine Revision unseres Selbstverständnisses. Hirnforschung und Wirtschaftswissenschaft verlassen ihre Zuständigkeitsbereiche und maßen sich Totaldeutungskompetenz an. Sie wollen uns glauben machen, dass nur das Wirklichkeit sei, was sich ihren Begriffen und Modellen fügt. Sie beanspruchen kulturelle Meinungsführerschaft, ein Monopol der Realitäts- und Menschendeutung. Mit einem Wort: Sie werden zu Ideologien. Genauso wie der Ideologe das besondere Interesse seiner Gruppe als Allgemeininteresse ausgibt, verabsolutieren sie ihre Wirklichkeitssicht, ihr Menschenbild.
Diese Grenzüberschreitung, dieser Versuch, die auf einem Spezialgebiet erworbene Autorität zur Legitimation von Totaldeutungsambitionen zu verwenden, ist nicht ohne Kritik geblieben. Insbesondere das ökonomistische Projekt, die gesamte Wirklichkeit und das menschliche Handlungsleben ökonomischen Kategorien zu unterwerfen, ist auf heftige Gegenwehr gestoßen. Denn die Moral ist das Herzstück jedes gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Wir verstehen uns als moralische Subjekte, die nicht nur aus Selbstinteresse handeln, sondern auch ein Interesse an ihrem Selbst und seiner moralischen Verfassung haben. Wenn wir in den Spiegel des menschlichen Selbstverständnisses schauen, dann erblicken wir nicht die flache Physiognomie des Homo oeconomicus, sondern dann schauen wir in das sorgenzerfurchte Antlitz einer moralischen Person.
II. Wo Empörung jedoch so nahe liegt, ist die Gefahr alarmistischer Überhitzung immer gegenwärtig. Daher muss die Zurückweisung des Ökonomismus nicht nur die Moral vor ökonomischer Vereinnahmung schützen, sondern auch den Bereich des Ökonomischen gegen moralistische Verdächtigungen verteidigen. Es ist eine vulgärmoralische Legende, dass ökonomische Rationalität und moralische Vernunft einander stets ausschließen. Im Gegenteil, es gibt zahlreiche Möglichkeiten fruchtbarer Kooperation. Diese finden sich besonders auf dem Gebiet der institutionellen Rahmenbedingungen individuellen Handelns. Hier etwa, sei es durch Gratifikationen, sei es durch Sanktionen, ökonomische Anreize für ein moralisches, gemeinwohldienliches Handeln zu verankern, ist höchst vernünftig und auch nicht moralisch destruktiv. Gerade wenn es um die gesellschaftliche Verfassung geht, um die Institutionalisierung fundamentaler menschenrechtsbegründeter Prinzipien, ist die moralische Vernunft gut beraten, sich der Hilfe der implementierungserfahrenen ökonomischen Rationalität zu versichern. Hier allein auf individuelles Gewissen, sittliche Einsicht und moralische Verantwortung zu setzen, ist sowohl für das Allgemeinwohl als auch für das moralische Bewusstsein selbst desaströs. Niemand etwa kann von Wirtschaftssubjekten, die unter Wettbewerbsbedingungen handeln, verlangen, als einzige vernünftig zu sein und als Märtyrer der moralischen Vernunft aus dem Rennen geworfen zu werden. Der kategorische Imperativ impliziert nicht das Gebot, sich ausbeuten zu lassen. Wenn man sich bei politischen Situationseinschätzungen der Nutzen-Kosten-Analyse bedient und sich bei der Effizienz-sicherung am moralischen Worst Case, also am Verhaltensprofil des Homo oeconomicus orientiert, dann ist das keinesfalls der Moral schädlich. Der Homo oeconomicus verdirbt keinesfalls die Moral; umgekehrt hingegen wird jeder Versuch, die Handlungskoordination in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen ausschließlich der moralischen Integrität der Individuen zu überlassen, die Moral aushöhlen, sie zu einer leeren Sprachhülse werden lassen, die bald noch nicht einmal mehr strategische Verwendung finden kann, weil es niemanden mehr gibt, der ihren Worten Glauben schenkt.
Ich betrachte auch den nobelpreisgeschmückten ökonomischen Imperialismus eines Gary Becker nicht als kritikwürdigen Ökonomismus. Warum auch sollte die ökonomische Analyse von Schulen, Sozialversicherungssystemen und Einwanderungsbewegungen, von Heirat, Ehe, Familie und Alter moralisch verwerflich sein? Man mag diesen analytischen Zugriff des ökonomischen Imperialisten auf einen Bereich von besonderer moralischer Werthaftigkeit für anstößig halten. Aber man sollte nicht vergessen, dass Liebe, Heirat und Familie als Hort sozialer Intimität und authentischer Individualität sozialgeschichtlich sehr jung sind und dass es für die Menschen bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert selbstverständlich war, Familien- und Eheangelegenheiten unter ökonomischer Perspektive zu betrachten. Außerdem ist kein familienpolitischer Gerechtigkeitsdiskurs ohne ökonomische Überlegungen zu führen, denn Gerechtigkeit ist eine Frage von Belastung und Befreiung, und Belastungen und Befreiungen können auf dem Gebiet familienpolitischer Maßnahmen immer nur ökonomisch gemessen werden. Überdies gilt, dass der ökonomische Imperialist nicht notwendig der Überzeugung sein muss, dass seine Betrachtungsweise die einzig angemessene und allein zulässige ist. Auch wenn er für sich anführen kann, dass offenkundig die gesellschaftliche Entwicklung ihm zuarbeitet. Die Marktlogik durchdringt immer mehr gesellschaftliche Bereiche. Und kaum noch jemand, der da klagt, dass der Markt „die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst […] und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen (hat), als das nackte Interesse, als die gefühllose, bare Zahlung.‘“ Das war ein Zitat aus dem kommunistischen Manifest. Heute schreibt man – mit ironischer Verspottung aller entfremdungskritischen Sentimentalität – ein konsumistisches Manifest, das die zivilisatorischen Neben-effekte des Warenverzehrs und der Warenästhethik preist und die glitzernden Konsumtempel als Orte moderner Religiösität feiert. Aus diesen Kathedralen des Kapitalismus, so weit ist der Zivilisierungsthese zuzustimmen, hört man sicherlich keine Predigten des Hasses und der Gewalt.
III. All diese moralisch unbedenklichen Verwendungen der ökonomischen Betrachtungsweise schlagen dann in ökonomistische Ideologie um, wenn die für die ökonomische Betrachtungsweise konstitutiven Elemente verabsolutiert werden; wenn das aufgeklärte Eigeninteresse, der vorteilsstrategische Anreiz, die nutzenmaximierende individuelle Rationalität nicht mehr nur konzeptuelle Ingredienzien einer Perspektive sind, die mit anderen Perspektiven im Dienste einer möglichst umfassenden Analyse und einer möglichst effektiven Problemlösung teils konkurriert, teils kooperiert, sondern wenn das Ökonomische einen Anspruch der Totaldeutung erhebt und zum Urmodell individueller und kollektiver Handlungswirklichkeit wird. Der Ökonomismus lässt keine selbstständige Moral neben sich gelten. Er löst die Moral in sich auf und zerstört ihre alltagsmetaphysischen Voraussetzungen. Weder lässt sich das für die Moral lebenswichtige handlungstheoretische Konzept des Handelns aus Gründen mit dem Ökonomismus vereinbaren, noch lässt er eine autonome Vernunft als Grund einer nicht in rationales Selbstinteresse übersetzbaren Moral zu.
Wir können Moral nicht in Interesse fundieren; wir können aber ein Interesse an der Moral nehmen. Daher ist es durchaus vernünftig, bei der Durchsetzung sozialstaatlicher Programme oder einer internationalen Politik der Menschenrechte klug und mit Aufmerksamkeit für die Folgen vorzugehen und mittelkompetent und situationsbewusst zu handeln. Jedoch ist die normative Orientierung der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenrechtspolitik ihrerseits nicht in die Währung der rationalen Vorzugswürdigkeit zu übersetzen. Ein ungerechter Zustand ist nicht rational minderwertig, sondern moralisch unzulässig; und Menschenrechtsverletzungen sind nicht Ausdruck suboptimaler Interessenstrategien, beweisen nicht defekte Rationalität, sondern sie sind empörend, inhuman, barbarisch und moralisch verwerflich. Jemand, der sich eine moralische Verfehlung hat zuschulden kommen lassen, ist kein Dummkopf. Und wir bezweifeln nicht seine Intelligenz, wenn wir ihn moralisch tadeln. Die Sprache der Moral lässt sich ohne Bedeutungsverlust nicht in die Sprache der Vorteilsmehrung übersetzen.
Daher lässt sich Moral auch nicht in ökonomischer Rationalität begründen. Der Homo oeconomicus ist personen-theoretisch leer, ein charakterloser Reflexions- und Distanzierungsvirtuose, der zu allen Handlungsoptionen in Äquidistanz steht und bei der Suche nach der nutzenmaximalen Alternative durch keine moralischen Bedenken und tugendethischen Festlegungen gehindert wird. Er ist zu keinem normenbefolgenden Verhalten, zu keiner moralischen Selbstbindung fähig. Daher sind in seiner Welt alle Zustandsverbesserungen unmöglich, die die soziale Geltung von Normen voraussetzen. Die einzige Binnenorganisation, zu der die ökonomische Welt fähig ist, ist eine Herrschaft des Verbrechens, in der eine kriminelle Ausbeuterclique ein Volk von Produktionssklaven unterdrückt. Hobbes, dem man eine pessimistische Grundhaltung nachsagt, war aus der Perspektive der ökonomischen Theorie der sozialen Ordnung also viel zu optimistisch, als er einen Schiedsrichterstaat aus dem gemeinsamen, kollektiv agierenden Willen aller entstehen ließ. Nicht der Schiedsrichter bildet das Modell staatlicher Tätigkeit, sondern der Despot, der organisierte Verbrecher, denn allgemein verbindliche Normgeltung und gemeinwohlorientierte Herrschaftsausübung bleiben in einer ökonomischen Welt eine Utopie. Obwohl jedes Individuum in der ökonomischen Welt eine gesetzliche Ordnung und eine freiheitliche Herrschaftsverfassung wünscht, ist ihre Realisierung hochgradig unwahrscheinlich, da die Inhaber der Macht wie jedes andere Mitglied aus der Familie des Homo oeconomicus zu normengebundenem Verhalten unfähig sind und jede Gelegenheit zur Mehrung ihres privaten Nutzens ergreifen werden.
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