- Krankenhaus im Ausverkauf
Noch sind viele Kliniken eine Institution wie Kirche und Kneipe. Aber überall werden Häuser geschlossen – oder privatisiert. Es kommt zum Konflikt: Manager gegen Ärzte und Patienten
Der Biberacher Landrat Heiko Schmid gerät gern mal ins Schwärmen. Im Januar beim Neujahrsempfang – die Kreismusikkapelle hatte aufgespielt – vermeldete er Vollbeschäftigung. Tatsächlich boomt die Wirtschaft in dem oberschwäbischen Kreis. Hier produzieren Weltmarktführer, effiziente Firmen stellen Bagger, Pistenraupen, Tabletten und Aluminium her, ein Musterlandkreis im Musterländle. „Wir sind landesweit Spitze“, verkündete der Landrat.
Doch schon im März müssen dem parteilosen Politiker beinahe die Tränen gekommen sein: Er musste vor dem Kreistag schlechte Zahlen verkünden. Der öffentliche Klinikverbund hatte ein Minus von 9,5 Millionen Euro. Die Misere sei ihm persönlich nah gegangen, berichtete der Landrat. Es sei schwer, „wenn einen die eigenen heulenden Kinder in die Arme schließen und sagen: Papa – was ist denn bloß los?“
[gallery:Das Ende eines Krankenhauses – und was Kunst daraus schafft]
Ein teurer Verlustbringer ist im reichen Oberschwaben eine peinliche Angelegenheit. Deshalb sah sich Schmid als Aufsichtsratsvorsitzender gezwungen, den Klinikverbund zu zerschlagen. Nachdem der Kreis im Vorjahr bereits das Haus in Ochsenhausen dichtgemacht hatte, kündigte der Landrat nun an, auch die beiden Standorte Riedlingen und Laupheim zu schließen. Man müsse zudem darüber nachdenken, den Verbund an einen Investor zu verkaufen.
Die Pläne rührten an einen sensiblen Punkt. Denn das Kreiskrankenhaus ist für die Menschen etwas anderes als ein Hersteller von Pillen oder Pistenraupen. Keine Firma, sondern eine Institution. Sie sorgen sich, dass sie weniger gut behandelt werden, wenn ihre Klinik nicht mehr da ist. Oder nicht mehr das ist, was sie Jahrzehnte lang darstellte. In einer Zeit, die zwar nicht effizient war, aber menschlich und persönlich. Gesundheit war damals noch keine an Rendite orientierte Industrie.
Das gute alte Kreiskrankenhaus: Hier kam man zur Welt, hier ließ man sich seinen gebrochenen Arm gipsen, hierhin ging man zum Sterben.
15 Prozent der Kliniken stehen bundesweit vor dem wirtschaftlichen Aus, wie der Gesundheitsökonom Boris Augurzky für den „Krankenhaus Rating Report“ am wirtschaftsnahen Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) errechnet hat. Auf der Streichliste ganz oben: kleine, öffentliche Kliniken auf dem Land, die Kreiskrankenhäuser. Sie stehen mehr als zehnmal häufiger vor dem Konkurs als Privathäuser, unter denen sich nur 1,7 Prozent nicht rechnen.
In Biberach vor dem Kreistag kochte es. Hunderte Bürger protestierten, „Versager!“, „Lügenpack!“ stand auf den Transparenten. Die Hebamme Christa Willburger-Roch knüpfte sogar einen Storch aus Plüsch an einem Galgen auf. Sie ist in der Gegend eine Heldin, denn sie war dabei, als am 10. Juli 1985 Mario Gomez zur Welt kam. Als er ein Fußballstar war, schickte Gomez der ersten Frau, die ihn in den Armen hielt, einen handsignierten Fußball.
Dass die Menschen empört über den Verlust ihres Krankenhauses sind, hat auch mit den Geburtsstationen zu tun. Die öffentlichen Kliniken unterhalten Kreißsäle an allen drei Standorten. Biberach, Riedlingen und Laupheim trennen bloß 30 Kilometer.
„Die Leute lieben ihre Klinik“, sagt Christa Willburger-Roch. Und erst die Kreißsäle. Sie sind etwas Heiliges. Vor dem Krankenhaus in Biberach erhebt ein Abbild der Mutter Gottes ihre Arme. In Riedlingen wird der Fruchtbarkeit mit einer Storchenstatue gehuldigt. Anders als in Biberach werden hier bisher noch viele Wassergeburten gemacht. „Und dass damit jetzt Schluss sein soll, berührt uns alle sehr.“ Die 49 Jahre alte Hebamme wollte nicht länger mit der beruflichen Unsicherheit leben – und kündigte.
Inzwischen will der Landrat die Kliniken ganz loswerden – auf Wunsch der CDU-Fraktion, wie er betont. Der Kreis bietet seine Krankenhäuser zum Verkauf an. In der Ausschreibung heißt es lediglich, der Investor solle den Erhalt der drei Standorte prüfen. Die Entscheidung soll im Dezember fallen. Acht Firmen sind im Rennen.
Raphael Mangold, Belegarzt für Gynäkologie in der Laupheimer Kreisklinik und für die CDU im Gemeinderat, schimpft auf seine Parteifreunde im Kreistag, die die Pläne vorangetrieben hatten. Von der Klinikprivatisierung erhoffe sich Biberach einen schicken Neubau. „Größenwahn von Lokalpolitikern“, schimpft Mangold. „Der Landrat versucht hier, sich ein Denkmal zu setzen.“
Was in Oberschwaben bevorsteht, liegt im Trend. Der Marktanteil der Privatkliniken hat sich, bezogen auf die Betten, im vergangenen Jahrzehnt nahezu verdoppelt. 2010 betrug er dem RWI-Report zufolge schon 15,9 Prozent, der von kommunalen Krankenhäusern schrumpfte auf 49,7 Prozent; den Rest betreiben Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Bei der Privatisierung von Krankenhäusern ist Deutschland Weltmeister.
Und stets geht es um die Frage, wie viel Ökonomie ein Krankenhaus verträgt.
Seite 2: Helios, Rhön, Asklepios und Sana haben das Geschäft im Griff
Die öffentlichen Krankenhäuser stehen auch deshalb so unter Druck, weil die staatlichen Fördermittel seit 1991 real um ein Drittel geschrumpft sind. Die Kosten für Gehälter, Gebäude und neue Medizintechnik stiegen dagegen stark. Private Krankenhäuser haben ganz andere Möglichkeiten, effizient zu wirtschaften. Wie ein Unternehmen können sie zentral gesteuert werden, ohne dass Lokalpolitiker in den Gremien mitreden. Größere Einheiten bedeuten mehr Marktmacht beim Einkauf vom Bett bis zum Röntgengerät. Berater, Reinigungskräfte, Installateure – alle können gleich für einen ganzen Klinikverbund beauftragt werden. Je größer, desto profitabler, so lautet vielerorts die Formel.
In Deutschland teilen sich wenige große Unternehmen das Geschäft. Die vier größten – Helios, Rhön, Asklepios und Sana – haben drei Viertel des privaten Krankenhausmarkts im Griff. Dieses Jahr wäre es beinahe zu einer noch höheren Konzentration gekommen, als der Gesundheitskonzern Fresenius, Mutter der Helios-Kette, den Konkurrenten Rhön schlucken wollte. Der neue Konzern hätte 128 Häuser vereint, Anteil am gesamten Klinikmarkt: etwa 8 Prozent. Doch Fresenius verfehlte die in der Unternehmenssatzung der Rhön Klinikum AG verankerte Übernahmeschwelle von 90 Prozent der Stimmrechte plus einer Aktie. Die Fusion scheiterte am Ende vor allem aufgrund der erfolgreichen Abwehrstrategie der Wettbewerber Asklepios, Sana, des Medizintechnikunternehmens B. Braun und anderer Finanzinvestoren, die mit deutlich mehr als 10 Prozent der Aktien in letzter Minute eine Sperrminorität zusammenkauften. Anfang September gab Fresenius bekannt, dass es keinen zweiten Übernahmeversuch starten werde.
Wie es im oberschwäbischen Biberach bald aussehen könnte, lässt sich 500 Kilometer nördlich beobachten, im niedersächsischen Kreis Northeim. Hier herrscht Helios. Die Gruppe kaufte 2009 die Häuser Northeim und Bad Gandersheim. Anders als Biberach ist der Kreis strukturschwach, die Arbeitslosigkeit liegt bei 7,2 Prozent.
In diesem Frühjahr wurde die kleinste Klinik des Verbunds geschlossen, ein 35-Betten- Haus in Uslar. Manche Patienten seien nun in Nachbarlandkreise abgewandert, berichtet die örtliche Verdi-Gewerkschaftssekretärin Julia Niekamp. Einige Hundert würden jedoch überhaupt nicht mehr ins Krankenhaus gehen. „Die sind einfach aus der Statistik verschwunden.“
Am Stadtrand von Northeim bauen Helios und das Land Niedersachsen bis 2014 für 60 Millionen Euro ein neues Krankenhaus. Für den 2,7-Milliarden- Euro-Konzern ein Klacks. Denn Helios refinanziert sich auch am Kapitalmarkt. Die angeschlossenen Häuser müssen die Investitionskosten danach über den Betrieb wieder reinholen. Nach fünf Geschäftsjahren sollen 15 Prozent Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen erwirtschaftet werden. In Northeim wurden die sogenannten patientenfernen Dienste in Helios- Tochtergesellschaften ausgelagert: Logistik, Reinigung, Küche. Die Buchhaltung wurde mit Bad Gandersheim zusammengelegt. Seit Juli wird das Essen aus dem zwei Stunden entfernten Magdeburg angeliefert und in Northeim aufgewärmt.
Doch Mitte August protestierte der Konzernbetriebsrat in einer öffentlichen Erklärung gegen „das immer weiter forcierte Tempo von Ausgliederungen“. Betriebsratsstrukturen würden gelähmt und Löhne gedrückt. Bei der Helios Service Nord liegen die niedrigsten Einkommen nach Gewerkschaftsangaben bei 6,39 Euro pro Stunde und damit unter Mindestlohn. Das Berliner Helios-Management sitzt in einem Büro, das ein bisschen an ein Callcenter erinnert. Armin Engel, Geschäftsführer für den Bereich Service, teilt sich den Raum mit den fünf weiteren Konzernlenkern. Engel – Jeans, marinefarbener Blazer – gibt sich lässig. „Wir begehen keine Tarifflucht. Wir haben einen Konzerntarifvertrag für Ärzte und Pflege geschlossen, aber nicht für die Gebäudereiniger. Unsere Kernkompetenz ist es, gute, innovative Medizin zu machen.“
Seite 3: „Es geht nur noch ums Geld. Der Patient wird zur Ware.“
Doch in Northeim fühlen sich auch Teile des patientennahen Personals ausgebrannt, wie eine Pflegerin erzählt, die aus Angst vor Konsequenzen nicht namentlich genannt werden will. „Seit der Privatisierung arbeiten wir hier nur noch wie am Fließband, die Motivation ist im Keller.“ Helios-Manager Engel bestätigt, dass Beschäftigte im Gesundheitssektor einer hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt seien. „Das gilt für alle Krankenhäuser, egal, ob sie in öffentlicher, kirchlicher oder privater Trägerschaft sind.“
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung will dennoch Unterschiede festgestellt haben: Demnach musste ein Arzt 2008 in einer größeren Privatklinik rund 20 Prozent mehr Patienten versorgen als in einem öffentlichen Haus. Nur bei den Häusern von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden sah es noch schlechter aus. Die Forscher sagten, es sei schwer vorstellbar, dass Beschäftigte, die ständig hoher Belastung ausgesetzt sind, Patienten genauso gut versorgen.
Die Bestsellerautorin Renate Hartwig, deren Buch „Geldmaschine Kassenpatient“ im Herbst erscheint und die die Patienteninitiative „Bürgerschulterschluss“ gründete, vergleicht das Privatkrankenhaus gern mit einer Fabrik: „Ärzte und Pfleger arbeiten im Akkord, die Zahl der Fehler steigt. Es geht nur noch ums Geld. Der Patient wird zur Ware.“
Helios sieht das anders: Die Sterblichkeitsrate in den eigenen Häusern liege um bis zu einem Drittel unter dem Bundesdurchschnitt, wie es im Geschäftsbericht heißt. Und die Zahl der Infektionen durch Krankenhauskeime um 40 Prozent niedriger. Die Daten hat die Initiative Qualitätsmedizin erhoben, die unter anderem von Helios gegründet wurde.
Der RWI-Gesundheitsökonom Augurzky kommt zu dem Schluss, „dass sich Wirtschaftlichkeit und Qualität nicht ausschließen, sondern im Gegenteil sogar gegenseitig zu begünstigen scheinen“. Allerdings räumt er ein, „dass private Häuser vermutlich einen Anreiz haben, ihre Ertragskraft im Jahresabschluss besonders positiv darzustellen, und umgekehrt die nicht privaten einen Anreiz haben, sie besonders negativ darzustellen“. Denn die Privaten müssen die Kapitalgeber von ihrer Rentabilität überzeugen, die öffentlich-rechtlichen Häuser die Politiker dagegen von ihrer Bedürftigkeit, um weitere Fördermittel zu erhalten.
Wer hat nun recht? Vielleicht muss man sich den Extremfall in der deutschen Krankenhausprivatisierung ansehen, um die Folgen abschätzen zu können, die die neuen Strukturen hervorbringen können. Ein solcher Superlativ ist das hessische Universitätsklinikum Gießen-Marburg, kurz UKGM. Es ist nicht nur das drittgrößte Universitätsklinikum in Deutschland, sondern auch das weltweit erste, das privatisiert wurde. Der Verkauf an Rhön 2006 galt als Glanzstück des damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch. Noch heute nennt die CDU/FDPLandesregierung den Fall „eine Erfolgsgeschichte, die in der Bundesrepublik beispielhaft ist“. Der Rhön-Konzern rühmt sich, mehr als 500 Millionen Euro in beide Standorte investiert zu haben.
Und die Patienten?
Der Aufsichtsratsvorsitzende der Rhön- Klinikum AG, Eugen Münch, hat 2009 in einem Vortrag die Patienten in zwei Gruppen eingeteilt: Das „Cash-Kuh-Segment“, das sind junge Patienten, die schnell genesen. Und die „geschützten Arten“, Menschen mit seltenen Krankheiten und Alte, die lange Zeit behandelt werden müssen, was die Kosten in die Höhe treibt. Während seiner Rede umschrieb Münch den Wettstreit seines Unternehmens im Gesundheitsmarkt so: „Wenn es schon sein muss, dann ist die Täterrolle doch die attraktivere als die Opferrolle.“
Die 21 Jahre alte Studentin Mira Alev (Name geändert) kam vor einem Jahr mit Durchfall, Übelkeit und Erbrechen ins Universitätsklinikum Gießen-Marburg. Ihre Diagnose: „Kopfschmerzen bei Infekt“. Die junge Frau wurde in einen Computertomografen geschoben, außerdem entnahm man ihr mit einer Liquorpunktion Nervenflüssigkeit aus dem Rückenmark. Teure und schmerzhafte Untersuchungen. Die Neurologen, das geht aus den Entlassungspapieren hervor, schickten sie mit der Empfehlung nach Hause, Paracetamol einzunehmen.
Seite 4: Der Rhön-Konzern lehnte eine Stellungnahme zu Schützes Fall auf Anfrage von Cicero ab
Alev war verzweifelt, sie erbrach noch immer. Sie wandte sich an das evangelische Elisabeth-Krankenhaus in Kassel, anderthalb Stunden entfernt. Dort fanden die Ärzte eine Magen-Darm-Erkrankung.
Zwar ist es unmöglich, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einem solchen Fall und der Privatisierung herzustellen. Fehler passieren überall. Aber Patienten stellen die Verbindung sehr wohl her. Als Privatisierungsopfer fühlt sich etwa die Patientin Heidi Schütze. Sie fuhr den weiten Weg von Dorsten in Nordrhein- Westfalen bis nach Hessen, um sich einer Operation an der Lendenwirbelsäule zu unterziehen. Sie hatte nur Gutes über das Universitätsklinikum Gießen-Marburg gehört. „Ein Fehler“, sagt die 52-Jährige heute. „Denn die Informationen stammten aus der Zeit vor der Privatisierung.“
Am Tag nach der OP tat Schütze alles weh. Sie weinte bei dem Versuch, ihre Beine auszustrecken. Die Pfleger verabreichten Schmerzmittel. Am nächsten Tag fragte eine Schwester, wie stark der Schmerz auf einer Skala von eins bis zehn sei. Schütze, die selbst einmal Altenpflegerin war, sagte: „Zwanzig.“
Am unteren Rücken bildeten sich rechts und links zwei große blaue Flecken, die Beine waren teilweise taub. Sechs Tage nach dem Eingriff wurde sie erneut operiert.
Schütze wachte wieder mit Schmerzen in der rechten Hüfte auf. Sie schleppte sich auf Krücken zur Klinikdirektorin und bettelte um Hilfe. Nach zwei weiteren Wochen entdeckte ein Neurologe endlich die Ursache – eine Schraube, die ins Rückenmark ragte, mitten in den Nerv hinein. „Ich hatte Todesangst“, erzählt Schütze. Erneute OP zwei Tage später. Sie verließ das Krankenhaus nach drei quälenden Wochen mit einer Lähmung im linken und einer Teillähmung im rechten Bein.
„Ich kann froh sein, dass ich nicht querschnittsgelähmt bin.“ Schütze kann nur noch mit dem Rollator gehen. Haus und Auto musste sie wegen der Behinderung verkaufen. Sie kämpft um Schmerzensgeld. Ihr Anwalt betreut 150 Fälle gegen das Klinikum. Schütze behauptet, UKGM-Patienten getroffen zu haben, die sechs-, achtund zwölfmal operiert wurden.
Der Rhön-Konzern lehnte eine Stellungnahme zu Schützes Fall auf Anfrage von Cicero ab. Zunächst hieß es, die Geschädigte habe das Klinikum nicht von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden. Nachdem Schütze schriftlich eingewilligt hatte, verwies man auf den laufenden Rechtsstreit.
In der Region Marburg-Gießen sorgen sich die niedergelassenen Ärzte. „Seit der Privatisierung haben meiner Meinung nach die Fälle drastisch zugenommen, in denen Patienten nicht ausreichend diagnostiziert werden“, sagt die Allgemeinmedizinerin Ulrike Kretschmann. Sie engagiert sich in der privatisierungskritischen Initiative Notruf 113. Die Betriebsratsvorsitzende Bettina Böttcher schildert, dass die Angestellten einem extremen Arbeitsdruck ausgesetzt seien. Während sie erzählt, piept nebenan das Fax. Eine Überlastungsanzeige aus der Neurochirurgie: ein schriftlicher Hinweis an den Arbeitgeber über eine personengefährdende Situation. Die Klinikmitarbeiter sind aus Haftungsgründen gesetzlich verpflichtet, solche Anzeigen in Extremsituationen zu stellen. Auf dem Zettel steht, dass sich zwei Pflegekräfte zugleich um zehn pflegeaufwendige Patienten kümmern mussten, darunter drei Querschnitts- und zwei Intensivpatienten.
Im Frühjahr erwog die UKGM-Geschäftsführung aber, vor allem in der Pflege mehr zu sparen. Ein Maßnahmenplan sah vor, Stellen abzubauen, Übergabezeiten zu verkürzen oder vermehrt Krankenpflegehelfer auf Ein-Jahres-Basis einzustellen. In Marburg sollte die Leistung um 3,1 Prozent, in Gießen sogar um 5,1 Prozent gesteigert werden. Als Jahresergebnis für 2012 waren rund neun Millionen Euro veranschlagt. Rhön will sich zu den Zahlen nicht äußern, weist aber darauf hin, dass seit der Privatisierung 400 neue Pfleger und Ärzte eingestellt worden seien.
Indes gärte es unter den Medizinern. In Briefen schilderten Assistenz- und Oberärzte, dass aufgrund der Arbeitsbelastung eine gefahrlose Versorgung der Patienten nicht mehr sichergestellt werden könne. In einem öffentlichen Papier sprach die Konferenz der Klinikdirektoren beider Standorte von einem „Scheitern des Projekts“ Privatisierung – und forderte, dass das Land das Klinikum zurückkauft.
Seite 5: Die Erwartungen von Ärzten und Managern prallten in einer Rhön-Vorstandssitzung aufeinander
Die Erwartungen von Ärzten und Managern prallten in einer Rhön-Vorstandssitzung aufeinander. Das Protokoll vom 28. Februar 2012 hält fest, „dass der operative Cashflow aus laufender Geschäftstätigkeit seit 2011 negativ ist und umgehend gegengesteuert werden muss“. Der ärztliche Geschäftsführer der Uniklinik, Werner Seeger, hielt laut Protokoll dagegen: Er glaube nicht, dass ein Stellenabbau – insbesondere in den patientennahen Bereichen – „unter Beibehaltung der hohen medizinischen Versorgungsqualität möglich ist“. Konzernvorstand Wolfgang Pföhler schoss zurück: Seeger könne sich nicht nur in der Verantwortung für die Ärzte sehen. In seiner Funktion als stellvertretender Geschäftsführer müsse er „nicht nur Prozesse begleiten, sondern sie steuern“.
Chefarzt und Geschäftsführer, Ökonomie und Medizin – die zwei Welten im Kampf um das Krankenhaus. Sogar die Präsidentin der Philipps-Universität Marburg schrieb an Hessens Ministerpräsidenten Volker Bouffier, dass „sich der Betrieb eines Universitätsklinikums mit den Renditeerwartungen eines privaten Gesundheitskonzerns langfristig nicht vereinbaren lässt“. Indes will der Personalrat erfahren haben, dass 30 Stellen bei den Ärzten wegfallen sollen.
In der Marburger Elisabethkirche gibt es regelmäßig ein gesundheitspolitisches Montagsgebet. Wie auf dem Land, wo die Menschen um ihr Kreiskrankenhaus kämpfen, geht es auch in der Stadt um ein Stück Gemeinwesen. Der Uniklinik traute man zu, auch mit kompliziertesten Krankheiten fertig zu werden. Mit ihren Koryphäen und Spezialgebieten ist das Klinikum stets der Stolz einer jeden Universitätsstadt gewesen.
Am UKGM hat Rhön inzwischen einen neuen kaufmännischen Geschäftsführer eingesetzt – den sechzehnten in sechs Jahren. Weil unter anderem das operative Ergebnis des Uniklinikums um 20 Millionen Euro niedriger ausfiel als erwartet, musste die Aktiengesellschaft im Juli eine Gewinnwarnung herausgeben.
Vielmehr prüfte Rhön den Zukauf eines weiteren Krankenhauses in der Region. In einem siebenseitigen Dokument listet die Abteilung „Klinikakquisition“ die Vorteile der Hessischen Berglandklinik Koller in Bad Endbach auf: „Aufgrund der Nähe zum UKGM würde die Rhön-Klinikum AG bei einer Übernahme (…) im Umkreis von 30 Kilometern über einen Marktanteil von 50,41 Prozent verfügen.“ Aus der Übernahme wurde nichts, weil das Kartellrecht im Weg stand.
Wie wäre es, wenn es überall auf dem Land kleine UKGMs gäbe – Klinikfabriken? Wenn die Kreiskrankenhäuser verschwänden und große Verbünde geschaffen würden? Für die Patienten bedeutete das wohl weitere Wege und weniger Auswahl.
Auch die Bürger von Rottal-Inn waren dieser Auffassung. Der Landkreis im Südosten Bayerns wollte seine mit fast sechs Millionen Euro belasteten Häuser 2009 loswerden. Ein Prestigeprojekt der damaligen Landrätin Bruni Mayer. Als aussichtsreichster Übernahmekandidat galt Rhön. Doch die Klinikhändler hatten nicht mit Josef Rettenbeck gerechnet. Der Religionslehrer organisierte den Protest und erreichte ein Bürgerbegehren. Die Abstimmung brachte ein klares Ergebnis. Knapp 90 Prozent lehnten den Verkauf der Rottal- Inn-Kliniken ab. Seitdem verringerte der Verbund sein Defizit um mehr als zwei Drittel, auf jetzt 1,8 Millionen Euro.
Rettenbeck erinnert sich noch, wie die geplante Übernahme der Rottal-Inn-Kliniken kurz vor dem Referendum auf einem Börsenportal im Internet vermeldet wurde. Der künftige Eigner Rhön, hieß es dort, erwarte einen dreistelligen Millionengewinn. In dem Artikel wurde Rhön als „Favorit des Tages“ gehandelt.
Hinweis: In einer früheren Version hieß es, Bruni Mayer sei CSU-Landrätin gewesen. Das war sie aber nie. Der Fehler wurde korrigiert.
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