- „Die Deutschen sind zu weich mit Migranten“
Zum Jahreswechsel zeigen wir Ihnen noch einmal die erfolgreichsten Artikel aus dem Jahr 2012. Im Juni:
Amir Kassaei war Kindersoldat im Iran-Irak-Krieg, Asylbewerber in Österreich, BWL-Student in Frankreich, Werber in Deutschland und ist heute Kreativchef der international tätigen Werbeagentur DDB in New York. Im Cicero-Gespräch über Integration erklärt er, wie man mit Härte zum Erfolg kommt
Herr Kassaei, Sie haben traumatische Kriegserfahrungen
hinter sich, sind der Kreativchef einer großen Werbeagentur mit
Büro in der Madison Avenue in Manhattan und schwerer Raucher – gibt
es noch weitere Parallelen zu Don Draper, dem Protagonisten der
inzwischen auch in Deutschland gefeierten US‑Fernsehserie Mad
Men?
Nein, Don Draper ist ein Weichei. Er ist paranoid und hat zu viel
Angst. Deswegen ist er auch nicht so weit gekommen wie ich. Seine
Agentur war ja nie an der Spitze. Ich bin viel härter als er. Sein
einziger Vorteil: Er durfte im Büro rauchen.
Wer kann es in puncto Härte
denn mit Ihnen aufnehmen?
Muhammad Ali ist ein Vorbild für mich, aber gegen ihn bin ich
natürlich ein kleines Licht. Als ich angefangen habe, mich mit ihm
zu beschäftigen, habe ich viel darüber gelernt, wie man aufrecht
durchs Leben geht. Wie man wahrhaftig bleibt und Schmerzen aushält
oder sogar genießt. Er hat gezeigt, wie man mit den Konsequenzen
lebt, die sich aus eigenen Entscheidungen ergeben.
Wann sind Sie zum Ali-Fan geworden?
1974, da war ich sechs, hat mich mein Vater nachts geweckt, und wir
haben zusammen „Rumble in the Jungle“, den WM-Kampf zwischen Ali
und George Foreman, im Fernsehen gesehen.
Damals lebten Sie noch mit Ihren Eltern in Teheran.
Sieben Jahre später mussten Sie im Iran-Irak-Krieg an die Front und
haben erlebt, wie Ihr bester Freund von einer Mine getötet wurde.
Ihre Eltern haben Sie daraufhin an einen Schleuser übergeben, der
Sie im Kofferraum über die Türkei bis nach Wien geschmuggelt
hat.
Da stand ich mit 14 Jahren, konnte kein Wort Deutsch. Ich habe kurz
bei einem Verwandten meines Vaters gewohnt, vier Monate am
Goethe-Institut Sprachkurse besucht. Dann bin ich mit 15 Jahren
ausgezogen und habe mich neben der Schule mit Gelegenheitsjobs vom
Kloputzer bis zum Straßenfeger über Wasser gehalten, bis ich die
Matura in der Tasche hatte.
Sie haben seit Ihrer Flucht aus dem Iran in vier
verschiedenen Ländern gelebt und sind durch Ihren Lebensweg
gezwungenermaßen zum Immigrationsexperten geworden. Ist Einwandern
eher eine Form der Holschuld oder der Bringschuld?
Eindeutig eine Holschuld. Ich gehe sogar noch weiter: Man muss als
Einwanderer ein Vorbild sein und sich deswegen sogar mehr
anstrengen als diejenigen, die in dem Land geboren sind. Ich kann
nicht erwarten, dass ich als Fremdkörper automatisch in das System
aufgenommen werde.
Seite 2: „Ich kann nicht meine eigene Heimat in der Fremde konservieren“
Also ist Anpassungsfähigkeit die wichtigste
Einwanderereigenschaft?
Anpassen ist der erste Schritt. Besser zu sein, ist der zweite. Ich
habe nie die Leute verstanden, die in ein Land wie Deutschland
kommen, die dort geltenden Regeln nicht beachten und stattdessen
weiterhin die eigene Kultur und Heimat in der Fremde konservieren
wollen. Wenn mich jemand zu sich nach Hause zum Essen einlädt,
erzähle ich ihm doch auch nicht als Erstes, wie er sein Wohnzimmer
neu einrichten sollte.
Wo war es für Sie am schwierigsten?
In Österreich, das hing auch mit dem Alter zusammen. Ich werde nie
vergessen, wie ich dort in die Schule gekommen bin. Obwohl ich kaum
ein Wort verstanden habe, haben mir die Kinder sofort zu verstehen
gegeben, dass ich nicht dazugehöre. Daraus habe ich diesen
Überehrgeiz entwickelt, die anderen in allem zu übertreffen, um
Anerkennung zu bekommen. Österreicher sind aber auch deshalb so
unfreundlich zu Fremden, weil sie sich immer noch als Opfer des
Zweiten Weltkriegs begreifen. Sie kompensieren ihre
Minderwertigkeitskomplexe dadurch, dass sie Fremde durch Gesten,
Blicke, bestimmte Untertöne ausschließen. Das tut mehr weh als
direkte Verletzungen. Seitdem sage ich immer: Wenn man es in Wien
schafft, dann schafft man es überall.
War es denn anschließend in Frankreich, wo Sie studiert
haben, und in Deutschland besser?
In Frankreich gibt es mittlerweile auch riesige
Integrationsprobleme, aber ich bin dort damals viel weniger
aufgefallen als in Wien und hatte daher kaum Probleme. Deutschland
war für mich die größte Überraschung, weil ich von der ersten
Minute an mit offenen Armen empfangen wurde. Der Unterschied
zwischen Deutschland und Österreich liegt vor allem darin, dass
Deutschland sich mit seiner Geschichte auseinandergesetzt hat und
dadurch viel reifer ist.
Mittlerweile sind Sie in den USA , dem Einwandererland
schlechthin, angelangt.
Unter der Bush-Regierung wurde ich nach dem 11. September 2001 bei
jeder Einreise rausgezogen und musste drei Stunden jedes Mal
dieselben Fragen beantworten. Als gebürtiger Iraner mit einem
EU-Pass erfüllte ich das Raster des potenziellen Schläfers zu 100
Prozent. Mittlerweile hat sich das wieder entspannt. New York als
Stadt bezieht seine Magie für mich aber genau daraus, dass es hier
eben nicht zählt, woher du kommst, sondern vielmehr, was du kannst.
Aufgrund dieser Einstellung werden die Amerikaner die Krise auch
schneller überwinden als die Europäer.
In Deutschland wird gerade wieder vonseiten der
Wirtschaft der Fachkräftemangel beklagt. Zu einer offensiven
Einwanderungspolitik kann man sich aber trotzdem nicht durchringen
und streitet lieber über die Gefahr von Parallelgesellschaften. Wie
müsste sich Deutschland aus Ihrer Sicht als Werber darstellen, um
qualifizierte Arbeitnehmer anzulocken?
Deutschland muss weiter daran arbeiten, in der ganzen Welt als
weltoffenes, einladendes Land angesehen zu werden. Es ist auf
diesem Weg schon sehr weit gekommen. Fast alle Amerikaner, mit
denen ich spreche, haben höchsten Respekt vor Deutschland. Das Land
hat in der ganzen Welt ein viel freundlicheres Image als noch vor
zehn Jahren. Nur in einem Punkt machen die Deutschen noch einen
Fehler: Sie sollen jeden willkommen heißen, müssen aber auch allen,
die sich nicht an die in Deutschland geltenden Regeln halten,
sagen, dass sie wieder gehen müssen. In diesem Punkt sind die
Deutschen zu weich.
Wie könnte eine entsprechende Kampagne
aussehen?
Der beste Protagonist wäre die Fußballnationalmannschaft, in deren
Stammelf die Hälfte der Spieler Einwandererkinder sind. Die zeigen
doch, dass man auch als Immigrant in Deutschland Großartiges
schaffen kann.
Seite 2: „Wir erleben das Ende der Alten Welt mit einer Verschiebung der Macht nach Asien. Dieser Sog wird vieles infrage stellen“
Sie arbeiten als oberster Kreativer für DDB, eine
Agentur mit 14.000 Mitarbeitern in 280 Büros weltweit, und sind
häufig in Asien unterwegs. Kann es sein, dass Deutschland
irgendwann zum Auswanderungsland wird und wir uns nach China und
Indien aufmachen müssen, um Arbeit zu finden?
Wir erleben momentan das Ende der Alten Welt mit einer Verschiebung
der Macht nach Asien. Das spürt man insbesondere, wenn man dort
ist. Das dauert noch zwei, drei Jahrzehnte. In diesem Sog wird
vieles infrage gestellt werden. Die Chinesen sind unglaublich
hungrig. Ein 22-jähriger Werber in Schanghai arbeitet 18 Stunden am
Tag und würde am liebsten noch sechs weitere dranhängen. Sein
Counterpart in New York oder Berlin lässt um 18:30 Uhr den Stift
fallen, weil er zum Grillen verabredet ist. Es war aber schon immer
so: Große Reiche scheitern an ihrer Dekadenz.
Haben Sie nie das Bedürfnis, sich mit Freunden zu
treffen oder Zeit mit Ihrer Frau und den Kindern zu
verbringen?
Doch, aber ich will nicht Zweiter sein. Ich gebe immer alles, um zu
gewinnen. Indem ich diese Einstellung vorlebe, versuche ich sie
gleichzeitig der ganzen Agentur einzuimpfen. Wenn die Mitarbeiter
sehen: Der Wahnsinnige genießt den Schmerz, der macht das selbst
auch, dann wissen sie, dass ich es ernst meine. Das versuche ich
gerade. Der Vorwurf, wahnsinnig zu sein, ist dabei das größte
Kompliment für mich.
Aber ist der Preis, den Sie zahlen, nicht zu hoch? Ist
Ihr Vorbild Muhammad Ali diesbezüglich nicht eher ein mahnendes
Beispiel, dass man es auch übertreiben kann?
Nein, da sind wir wieder bei der Frage der Unabhängigkeit. Ali hat
sicher ein paar Kämpfe zu viel gemacht, aber darum geht es nicht.
Irgendeinen Preis müssen Sie immer zahlen. Bei mir ist es
einfacher: Ich dürfte eigentlich gar nicht hier sitzen, und damit
meine ich nicht nur, dass sich eine Karriere vom Kloputzer zum
Kreativchef nicht planen lässt. Ich dürfte nicht hier sitzen, weil
ich normalerweise im zarten Alter von 13 in einem Minenfeld hätte
sterben müssen. Alles, was danach kommt, ist für mich Kür. Der
größte Luxus ist für mich, komplett frei zu sein von jedwedem
Zwang. Ich habe keine Angst, etwas zu verlieren, und nur so kann
ich mutige Entscheidungen treffen. In so einem Kreativjob wie
meinem gelingt Ihnen nie etwas Neues, wenn sie angstgetrieben sind,
weil sie dann immer nur den Status quo verteidigen.
Muss man mit dieser Einstellung nicht auch hin und
wieder scheitern?
Doch, ständig. Man riskiert sein Ansehen in der Öffentlichkeit,
verliert Freunde, Jobs und Ämter, und es gibt genauso viele
schlechte Momente wie tolle Situationen dadurch. Das muss man
aushalten können, wenn man wahrhaftig bleiben will. Andere fahren
lieber mit dem 911er zum Golf.
Und wie lange halten Sie das noch durch?
Ich werde sicher nicht den Rest meines Lebens diesen Job machen,
aber ich werde, egal, was ich mache, immer dafür sorgen, dass
alles, was ich wirklich brauche, in eine kleine Tasche passt. So
bleibt man wach und wird nicht satt. Es gibt aber noch einen
weiteren Grund, warum ich gerade hier alles gebe. Diese Räume, in
denen wir sitzen, sind für mich heilig, weil es das ehemalige Büro
von DDB-Gründer Bill Bernbach ist, dem Erfinder der kreativen
Werbung. Er war der erste Jude, der in New York eine Agentur
aufgemacht hat. Seine VW‑Käfer-Kampagne „Think small“ hat die
Werbung revolutioniert. Und wissen Sie, wie der Titel der
Präsentation lautete, mit der er den Auftrag von Volkswagen
ergatterte? „How to sell a Nazi-Car in Jewish Manhattan“ – auch
eine erfolgreiche Einwanderungsgeschichte.
Das Interview führte Til Knipper. Fotos: picture alliance (Aufmacher), Wikimedia Commons (Porträt)
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