- „Dem Kapitalismus fehlt der Feind”
Bestsellerautor Colin Crouch („Postdemokratie”) über verfehlten Liberalismus, falsche Griechenland-Politik und die sieche FDP
Herr Crouch, vor einem Jahr haben Sie das „befremdliche
Überleben des Neoliberalismus“ konstatiert. Hat jetzt mit ein wenig
Verzögerung doch das Sterben eingesetzt?
Nein, im Gegenteil. Wir erleben in Europa eine neue Kraft des
Neoliberalismus. Schauen Sie sich doch nur die Auflagen für
Griechenland an: Sie sind Ausfluss eines reinen dogmatischen
Neoliberalismus. Der wirtschaftliche Erfolg wird allein an der
Deregulierung des Arbeitsmarkts gemessen, um Strukturreformen
hingegen geht es nur sehr wenig. In der europäischen Politik gibt
es in der Regel stets eine Akzentuierung von neoliberalen
Maßnahmen. Das kann man auch durchaus verstehen, denn es müssen
Märkte entstehen, und dafür braucht man ein wenig Liberalismus.
Normalerweise geht das aber einher mit ein wenig Sozialpolitik. In
der Krise aber ist man atavistisch zu einem reinen Neoliberalismus
zurückgekehrt. Die Eurokrise ist das beste Beispiel für das
Überleben des Neoliberalismus.
Für Deutschland scheint das nicht zu gelten. Die FDP hat
mit Umfragewerten von unter 5 Prozent zu kämpfen.
Ich habe nie verstanden, warum die Liberalen vor drei Jahren so gut
dastanden. Die Deutschen verstehen, wie wichtig der Sozialstaat
ist, und sie wollen ihn nicht verlieren. Doch jetzt ist er bedroht.
Sowohl die OECD als auch der Internationale Währungsfonds haben
festgestellt, dass das Niveau der Ungleichheit in den USA und in
vielen europäischen Ländern so groß ist, dass sie die Wirtschaft
bedroht. Das ist etwas vollkommen Neues.
Ist
der Liberalismus beziehungsweise Neoliberalismus das richtige
Mittel, um diese Entwicklung aufzuhalten?
In einem echten, reinen Markt würde es Ungleichheiten geben, aber
die Unterschiede wären aufgrund des gesunden Wettbewerbs geringer.
Der heute existierende Neoliberalismus ist keine reine
Marktwirtschaft, sondern eine Wirtschaft der großen, quasi
monopolistischen Konzerne, was vollkommen marktwidrig ist. Wir
erleben eine Vermischung von politischer und wirtschaftlicher
Macht, die eine Folge der Konzentration des Reichtums ist. Auch das
ist marktwidrig, denn in einer Marktwirtschaft sollte es eine
solche Vermischung nicht geben.
Was kennzeichnet denn den Liberalismus?
Im klassischen Liberalismus gibt es immer die Möglichkeit des
Misserfolgs und des Unvorhergesehenen; es gibt keinen großen Staat,
der alles planiert. Zu Problemen kommt es erst dann, wenn der
Liberalismus zu einer Doktrin wird, die keiner Korrekturen bedarf.
Wozu das führt, sehen wir heute.
Haben Sie den Eindruck, dass Europa aus der Krise
gelernt hat?
Die Politiker haben einiges gelernt. Aber wir können keine
durchgehende Logik erwarten, da viele widersprüchliche Schlüsse
gezogen haben. Politik an sich ist schon kompliziert, in der Krise
aber ist sie besonders schwierig.
Was sollten denn die Lehren aus der Wirtschafts- und
Finanzkrise sein?
Die Finanzmärkte brauchen eine globale Regulierung. Aber ebenso
wichtig ist die Erkenntnis, dass wir einander in Europa brauchen.
Nicht Staaten stehen im Wettbewerb, sondern Unternehmen, die um
Märkte konkurrieren. Deutschland braucht die anderen, die seine
Waren kaufen. Wenn die anderen sich aber diese Waren nicht leisten
können, dann können sie die Deutschen auch nicht verkaufen. Es gibt
also eine wechselseitige Abhängigkeit, mit der Folge, dass wir uns
gegenseitig unterstützen müssen. Die Menschen aber lernen aus der
Eurokrise genau das Gegenteil.
Stellen Sie sich vor, Sie wären die deutsche Kanzlerin
und müssten den Deutschen erklären, dass immer mehr Millionen Euro
an Griechenland gezahlt werden müssen.
Die Zahlungen waren und sind richtig. Griechenland ist ein
Paradebeispiel für die Verquickung von politischer und
wirtschaftlicher Macht. Es gibt eine kleine Elite. Diese Elite
beherrscht das Land, die Politik, die Massenmedien, sie zahlt keine
Steuern, ihr gesamtes Vermögen befindet sich im Ausland. Hinzu
kommt, es gibt eine sehr hohe Zahl von Selbstständigen, und die
zahlt nicht sehr viel Steuern. Die Einzigen, die wirklich Steuern
zahlen, sind die im öffentlichen Dienst Beschäftigten und einige
wenige kleine Unternehmen. Es ist daher vollkommen richtig zu
verlangen, dass die Griechen ihr Verhalten ändern. Doch welche
Hoffnung geben wir ihnen? Wir sagen ihnen ständig: Baut euren
Sozialstaat ab. Doch damit können sie keine moderne Wirtschaft
aufbauen. Griechenland braucht Hilfe, um sein Staatsmodell zu
verändern, dies würde aber viel weitreichendere Eingriffe in die
Autonomie eines souveränen Staates erfordern.
Sie sehen die Ursache für den großen Crash vornehmlich
in der Gier der Finanzindustrie. Vielleicht kommt noch eine weitere
Komponente hinzu, nämlich die „Gier auf den
Sozialstaat“?
Dieser These widerspreche ich. Ökonomien Südeuropas, vielleicht mit
Ausnahme Italiens, sind keine Sozialstaaten. Lassen wir mal die
osteuropäischen Länder, die sehr unterschiedlich sind, außen vor
und betrachten nur Westeuropa, dann stellen wir fest, dass dort der
Wohlfahrtsstaat sehr schlecht organisiert ist. Transferzahlungen
haben in dieser Region ein zu hohes Gewicht, während die
Bereitstellung von Dienstleistungen viel zu kurz kommt. Hinzu
kommt: Beim Schutz des Arbeitsmarkts geht es in diesen Staaten
vorwiegend um den Schutz bestehender Arbeitsplätze und weniger um
die Hilfe, Unterstützung und Weiterbildung von Arbeitslosen.
Wohlfahrtsstaaten haben ein strukturelles Problem, und sie sind
auch nicht großzügig. Es ist wichtig, dass alle Konsumenten sein
können, und das bedeutet, dass sie ein Einkommen haben müssen und
sich sicher fühlen müssen, um auch die Risiken des Konsums tragen
zu können.
Angesichts der Tatsache, dass die Finanzkrise in den USA
ausgebrochen ist, erscheint es sehr unfair, dass wir in Europa nun
das Ganze ausbaden müssen.
Ja, das ist es. Aber es ist auch deswegen dazu gekommen, weil die
europäischen Banken bei den Finanzmarktgeschäften in Amerika
mitgemacht haben. Experten sagen, dass sie damit grandios
gescheitert sind, weil sie erst spät in das Geschäft mit Derivaten
eingestiegen sind, sie das System nie ganz durchdrungen und sie
daher die größten Fehler gemacht haben. So konnte sich die
Krankheit ausbreiten. Nach dem Motto: Wenn die Amerikaner niesen,
bekommt jeder eine Erkältung. Man kann aber nicht die Amerikaner
dafür verantwortlich machen – sie haben die anderen
schließlich nicht eingeladen mitzumachen. Alle wollten dabei
sein.
Seite 3: „Das System funktioniert nach dem Motto: Solange die Musik spielt, muss man weitertanzen”
Ebenso könnte man sagen, die Banken haben doch nur ihren
Job gemacht und nach Gewinnmaximierung gestrebt. Einen Crash hatten
die Banker doch sicher nicht beabsichtigt, oder?
Nach der Markttheorie von Eugene Fama kann der Markt nie scheitern,
da die Handelnden perfekt informierte, rationale Akteure sind, die
niemals Fehler machen. Nur: Diesmal waren die Händler nicht perfekt
informiert. Das Geschäft mit Derivaten muss schnell
vonstattengehen – je schneller, desto größer der Gewinn. Bei
dieser Art von Handel gibt es keine Zeit zu überprüfen, welchen
Inhalt das Paket hat, das man weiterverkauft. Die Händler hatten
keine Ahnung, was sie verkauften, sie haben es einfach
weiterverkauft. Es reichte vollkommen zu glauben, dass jemand
anderes glaubt, dass man etwas mit Gewinn weiterveräußern kann. Die
einzige Information, die die Händler benötigten, war: Das System
funktioniert. Man kann daher tatsächlich nicht dem einzelnen
Händler die Schuld für den Crash geben. Denn das System
funktioniert nach dem Motto: Solange die Musik spielt, muss man
weitertanzen. Hierin liegt das Versagen des Systems. Wenn eine
Gruppe normalerweise dasselbe Problem hat und man davon ausgehen
kann, dass dieses Problem zu einem Desaster führt, wird diese
Gruppe in der Regel Gegenmaßnahmen ergreifen. Bei der
Finanzmarktkrise aber konnte niemand den ersten Schritt wagen. Denn
derjenige, der es doch gewagt hätte, wäre aus dem Geschäft raus
gewesen.
Glauben Sie, Großbritannien und die USA haben aus der
Krise gelernt?
Großbritannien hat neue Regeln eingeführt, die aber einige
Finanzexperten bereits für viel zu schwach halten. Jedenfalls
werden sie erst im Jahr 2019 umgesetzt sein. Bis dahin wird es
mindestens eine Parlamentswahl geben, und Lobbyisten aus dem
Finanzsektor werden ausreichend Zeit haben, gegen die Maßnahmen
vorzugehen. Was in den USA geschehen wird, müssen wir abwarten.
Während Obamas erster Amtszeit war er sehr auf den Finanzsektor
angewiesen. In seiner zweiten Amtszeit könnte ihm das egal sein,
und er könnte Maßnahmen zur Regulierung in Angriff nehmen.
Allerdings wird er es ohne die Unterstützung des Kongresses schwer
haben, und dort haben Lobbygruppen einen unglaublich großen
Einfluss.
Hat der Kapitalismus durch den Untergang des Kommunismus
seinen Gegner und dadurch die gegenseitige Kontrolle
verloren?
Durchaus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die USA
unglaublich großzügig und haben eine heterogene politische
Landschaft unterstützt. Entscheidend war, ein Gegengewicht gegen
den Kommunismus aufzubauen. Es gab damals tatsächlich eine Wahl.
Staaten in der Dritten Welt konnten sagen: Wenn wir keine
Unterstützung von den USA bekommen, dann gibt es immer noch die
Sowjetunion. Auch wenn die Alternative schrecklich war, es gab sie.
Aufgrund dessen war der Kapitalismus sehr viel eher bereit zu
sozialen Kompromissen.
Friedrich Hölderlin hat gesagt: „Wo aber Gefahr ist,
wächst das Rettende auch.“ Gibt es für Europa in der Krise die
Chance, ein besseres Europa entstehen zu lassen, oder wird es
zersplittern?
Europa wird nicht zersplittern, aber vielleicht geschwächt. Es gibt
aber auch die Chance, dass sich Europa föderaler entwickelt und
damit wieder demokratischer wird. Wenn wir beginnen, Europa zu
stärken, werden wir dadurch auch die Demokratie stärken.
Das Gespräch führten Judith Hart und Christoph Schwennicke.
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