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(picture alliance) Die Schüler der G8-Gymnasien fühlen sich wie Versuchskaninchen der Schulreform

Schulstreit um G8 - Thüringen und Sachsen können es doch auch

Im deutschen Föderalismusreich herrschen paradiesische Zustände für Vor- und Rückwärtssalti, für Modellversuche und Wiederabschaffungen. So geschehen in der versuchten Einführung des Abitur nach zwölf Jahren. Aus dem ehemaligen Ziel G8 wird ein aufgeweichtes Konzept aus G8 und G9.

Menschen, die in Sachsen oder Thüringen groß geworden sind, reiben sich die Augen ob der ewigen Diskussionen. Mal wieder geht es um die Frage, ob deutsche Schüler das Abitur schon nach 12 statt der jahrzehntelang verbreiteten 13 Jahre hinter sich bringen sollen. Was in der DDR Gang und Gäbe war und in Sachsen und Thüringen bis heute an der Tagesordnung ist, darüber stöhnen fast in allen anderen Bundesländern Schulpflichtige und ihre Angehörigen seit wenigen Jahren.

Zwar haben die meisten Bundesländer sich hinreichend Zeit gegeben, um die Umstellung von der Gymnasialzeit von neun Jahren (G9) auf acht Jahre (G8) herunter zu schrauben. Seit Beginn der neuen Lehrpläne aber bricht sich massiver Protest Bahn. Schüler, die sich als Versuchskaninchen sehen, Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen. Tatsächlich sind viele Gymnasien einfach umgesprungen auf die neue Zeitrechnung, haben die Lehrpläne kaum entschlackt, dafür aber die Stundenzahl der Schüler konsequent aufgestockt, um das anscheinend notwendige Wissen in die Köpfe der jungen Abituranwärter zu pressen.

Anstatt aber auf die konkreten Beschwerden der Betroffenen einzugehen und Lösungen zu präsentieren, vollführen viele Landesregierungen nun eine Kehrtwende in der Schulpolitik. Mit Fanfarenstößen wie dem des schleswig-holsteinischen Bildungsministers Ekkehard Klug („Es ist die Rolle vorwärts, keine Rolle rückwärts“) reitet man nun wieder in die entgegengesetzte Richtung. Grund seien die „Konsequenzen aus einer übereilten Einführung der verkürzten Gymnasialzeit“, wie Klug erklärte. Die Umstellung vom G9 auf das G8 ist holprig verlaufen. Das haben auch die Schüler zu spüren bekommen.

Aber auch wenn dem so ist: Ein einst überstürzter Aufbruch kann doch nicht bedeuten, an den Ausgangspunkt zurück zu kehren.  Denn trotz der vermeintlich größeren Belastung weisen Schüler, die nach zwölf Jahren ihr Abiturzeugnis ausgehändigt bekommen, im Durchschnitt keine schlechteren Leistungen vor als jene, die ein Jahr mehr Zeit hatten. Gerade erst haben die sächsischen Schulen zum wiederholten Male bestätigt bekommen, dass sie trotz G8 die besten in Deutschland sind.

Die Eltern wehren sich dennoch, glauben ihre Kinder heillos überfordert und gehen auf die Barrikaden – gleich gegen das ganze System. Und wie immer, wenn sich eine übermächtig starke Eltern-Lobby drohend vor den Schulen aufbaut, knickt nun ein Bildungsministerium nach dem anderen ein. Denn in unserem deutschen Föderalismusreich herrschen paradiesische Zustände für Vor- und Rückwärtssalti, für Modellversuche und Wiederabschaffungen.

                                    

Während in Niedersachsen nun ein Volksbegehren droht, hat Nordrhein-Westfalen rasch in einem Modellversuch an 13 Gymnasien das Abitur nach 13 Jahren wieder zugelassen. Ein Unterstützungsprogramm soll nebenbei helfen, den Schülern das Pauken an den anderen G8-Gymnasien zu erleichtern. Auch in Schleswig-Holstein dürfen Schüler nun also zwischen G8 und G9 wählen. 15 von 99 Schulen lassen das längere Lernen wieder zu. Die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg will ihren Gymnasien die Entscheidung ebenfalls nicht abnehmen und künftig individuelle Entscheidungen der jeweiligen Lehranstalten zulassen. In Berlin fordert der Landeselternausschuss die Möglichkeit, auch weiterhin nach neun Jahren Abitur zu machen. Derweil sind viele Zwölftklässler, die in diesem Sommer ein G8-Abitur hätten hinlegen sollen freiwillig ein Jahr zurückgetreten.

Dabei ist es offensichtlich, es muss sich etwas ändern. Dass deutsche Studenten während ihres Erasmus-Jahres in Schweden oder Frankreich mit viel jüngeren Kommilitonen aus den anderen europäischen Ländern zusammen sitzen, dass hessische Berufseinsteiger im Durchschnitt älter sind als sächsische, all das muss weiterhin Anreiz sein, die Schulzeit auch in Deutschland zu verkürzen. Lehrer, die ihren Stoff für unabdingbar halten, werden sich von bestimmten Themen verabschieden müssen.

Denn es ist doch so: In der Schule haben wir vor allem für die Lehrer gelernt, für Klausuren, für gute Noten. Echtes Vokabellernen dagegen funktionierte nur im Ausland wirklich nachhaltig, einen Dreisatz berechnen wir höchstens im Supermarkt, gesellschaftliche Zusammenhänge habe ich immer eher beim Zeitungs- und Menschenlesen im Café begriffen als im Gemeinschaftskundeunterricht.

Die Schule dagegen hat uns vor allem soziale Kompetenz oder auch Inkompetenz gelehrt, das Arbeiten in einer Gemeinschaft –  und dann noch die Völkerball-Regeln und ein paar Jahreszahlen, die im Hinterkopf heute noch herumspuken. Jenen, bei denen die Schule Sinne machte, brachte sie aber eines bei: Wie eigne ich mir Wissen an, wie diskutiere ich darüber.

Eine gute Schule bietet dem Schüler Angebote. Der eine wählt die Stochastik, während der andere die Schriften von Kafka als Steckenpferd entdeckt. So geht es am Ende um Qualität, nicht um Quantität. Und die muss auch in zwölf Jahren erreicht werden können. Ein Konzept, das die Schüler nicht überfordert, das sie nicht wie geprügelte Hunde aus der Schultür in die Realität treten lässt, ist aber offenbar noch nicht entwickelt. Es wäre tatsächlich wünschenswert gewesen, dies vor der Schulreform zu klären, anstatt hinterher.

 

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