Wählen Hauptschüler anders als Studenten? Hat die SPD in der Stadt größere Chancen als auf dem Land? Stimmt es, dass Reiche vornehmlich konservativ abstimmen? Wen wählen Katholiken, wen Protestanten und wem geben Witwer ihre Stimme? Cicero hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa gebeten, die Sonntagsfrage einmal aufzuschlüsseln. Dazu wurden im Juni 9193 Bundesbürger repräsentativ befragt.
Wen wählen Akademiker?
Es war schon eine kleine politische Sensation und an manchen Orten auch ein Skandal, als der junge, aber schon ziemlich bekannte Schriftsteller Günter Grass sich im Jahr 1965 in die Niederungen des Wahlkampfes begab. So etwas hatte die Adenauer-Republik nicht erlebt. Günter Grass tingelte in einem geliehenen DKW übers Land, verbreitete Lobeshymnen auf Willy Brandt. Nicht einmal die traditionsbewussten Genossen waren begeistert, ob der Reden, die so gar nicht auf der noch ziemlich proletarischen Partielinie lagen.
1969 wurde Willy Brandt Bundeskanzler. Günter Grass und mit ihm viele Intellektuelle und Schauspieler hatten die rebellierenden Studenten für die SPD mobilisiert. Zudem zog die Partei der Volksschüler erstmals auch bei den höher Gebildeten mit der CDU gleich. Mit der sozialliberalen Koalition begann die sozialdemokratische Bildungsrevolution, die Universitäten öffneten sich für die Arbeiterkinder und die SPD öffnete sich für die Studenten. Willy Brandt war für fast ein Jahrzehnt der Liebling aller Akademiker. Zumindest unter denjenigen aus den neuen und boomenden akademischen Berufen, unter Sozialarbeitern und Lehrern sowie im universitären Mittelbau. Die klassischen Berufe hingegen – Ärzte, Rechtsanwälte oder Ingenieure – blieben mehrheitlich CDU- und FDP-treu.
Unter Kanzler Schmidt zerbrach das Bündnis zwischen SPD und der akademischen Jugend. Nicht mehr von Bildungschance wurde diese getrieben, sondern von Zukunftsängsten. In den Grünen fanden viele von ihnen eine neue politische Heimat. Doch mehrheitlich wendeten sich die Akademiker wieder den bürgerlichen Parteien zu. So wurde Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler. Es dauerte 16 Jahre, bis SPD und Grüne gemeinsam 1998 wieder die Hälfte aller Akademiker mobilisieren konnten.
Doch bei den Bundestagswahlen im September diesen Jahres will nur noch jeder vierte Abiturient und Hochschulabsolvent SPD wählen. Die alternativen Bildungsbürger in den Großstädten bleiben den Grünen treu. Dagegen kehren die Wähler in den Vorstädten, wo die Gewinner der sozialdemokratischen Bildungsrevolution aus den Innenstädten hingezogen sind, der SPD massenhaft den Rücken zu. Gleichzeitig will jeder zweite Nichtakademiker CDU wählen. Die SPD ist auch nicht mehr die Partei der Hauptschüler. Es ist aber auch eine andere Unterschicht als vor 40 Jahren. Sie steht nicht mehr vor der Verbürgerlichung. Im Gegenteil: Die neue Unterschicht ist keine Arbeiterklasse, sondern eine Fürsorgeklasse aus Alleinerziehenden, Langzeitarbeitslosen, Immigranten. Materielle Not ist längst nicht deren Kernproblem. Es sind die fehlenden Lebenschancen, es ist der Mangel an kulturellen Ressourcen und es sind die versperrten Bildungschancen der Unterschichten- und Immigranten-Kinder. Doch es gibt keine Partei der neuen Unterschicht, keine Partei, die eine neue Bildungsrevolution fordert. Und anders als 1969 ist es heute unvorstellbar, dass sich Intellektuelle oder Schauspieler für deren Interessen in einen Bundestagswahlkampf einmischen.
Christoph Seils
Wen wählen Juden?
Jeder dritte Deutsche ist davon überzeugt, dass die Juden zu viel Einfluss besitzen. Warum also sollten die Hebräer nicht auch den Ausgang der Bundestagswahlen und damit Deutschlands Geschicke in die von ihnen gewünschte Bahn lenken?
Die Erfahrung lehrt uns, dass es am Wahltag, trotz des gegenwärtig uneinholbar scheinenden Vorsprungs von Schwarz-Gelb zu einer recht engen Entscheidung kommen könnte. Am Ende könnten wie vor drei Jahren wenige tausend Stimmen maßgeblich sein. In diesem Falle käme es auf jede Stimme an – und sei es eine jüdische. In Deutschland leben wieder mehr als hunderttausend Juden. Eine eindeutige Präferenz der jüdischen Wähler für einen Kandidaten oder eine Kandidatin könnte bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen also durchaus den Ausschlag geben.
Manche Wahlbeobachter haben in Bezug auf jüdische Stimmen die Vereinigten Staaten im Auge. Dort sind lediglich zwei Prozent der Wähler Juden. Sie leben vorwiegend in New York und Kalifornien – den Staaten mit den meisten Wahlmännern. Das Jewish Vote besitzt daher eine Hebelwirkung. Darüber hinaus nehmen vermögende jüdische Familien wie die Lauders (Kosmetik), die Bronfmans (Alkohol, Medien), die Dells (Computer) sowie eine Reihe von Hollywood-Größen, unter ihnen Steven Spielberg und Dustin Hoffman, als Sponsoren oder als Amtsträger, wie New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg und Senator Joe Lieberman, Einfluss auf die Politik. Das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) gilt als einer der mächtigsten Lobbyverbände. Jüdische Publizisten wie Time-Chefredakteur Norman Pearlstine sind Meinungsführer.
Könnten die Juden in Deutschland nicht eine ähnlich einflussreiche Wahlfunktion ausüben wie in den USA? Vor der letzten Bundestagswahl suggerierte der FDP-Politiker Jürgen Möllemann dies – mittels eines in Nordrhein-Westfalen verbreiteten Flugblattes. Möllemanns Behauptung: Israels Ministerpräsident Ariel Sharon und der Fernsehmoderator Michel Friedman würden aufgrund ihrer Politik und ihres Verhaltens Anti-israelismus und Antisemitismus Vorschub leisten. Diese Kampagne wurde in der deutschen Öffentlichkeit und in den Medien einhellig verurteilt. Damit wollte sich Michael Wolffsohn nicht zufrieden geben. In einem Artikel konterte der wackere Bundeswehrhistoriker, die jüdische Wählerschaft würde als Konsequenz den Liberalen ihre Gunst entziehen. Eine reale Drohung? Vielmehr die Bestätigung einer Satire.
„Broder, Wolffsohn, Brumlik, Biller, Seligmann und die anderen Idioten können schmieren, was sie wollen, die Deutschen sind darauf versessen, den Tinnef zu lesen“, hatte ich fünf Jahre zuvor in meinem Roman „Der Musterjude“ gewitzelt. Wolffsohn nahm die Fiktion offenbar ernst. Tatsächlich ist die jüdische Wählermacht in Deutschland eine Schimäre. Allerdings besitzen Juden im Nach-Au-schwitz-Land einen besonderen Aufmerksamkeitsfaktor. Dieser ist dem deutschen Phantomschmerz geschuldet. Klezmermusik kann den Intellekt, die Bildung, den Wissensdrang, die wirtschaftliche Dynamik und nicht zuletzt die Chuzpe der vertriebenen und ermordeten Juden nicht ersetzen. Jüdische Publizisten wissen diese Marktlücke zu bedienen.
Sie mögen blühenden Unsinn verkünden, abstruse Thesen vertreten, ihre hebräischen und christlichen Mitbürger nerven – doch immerhin, sie sind authentische jüdische Stimmen und lindern die Sehnsucht nach real existierenden Hebräern.
Die tatsächliche Macht von Deutschlands Juden ist minimal. Hunderttausend Juden gibt es hierzulande. 85 Prozent von ihnen sind Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Viele sind älter als sechzig Jahre, ihre Deutschkenntnisse häufig mangelhaft. Die russischen Juden kamen seit dem Fall der Mauer als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, nur wenige haben seither die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Anders die „DP-Juden“. 1945 blieben sie nach ihrer Befreiung aus Konzentrationslagern in Deutschland hängen. Sie und ihre wenigen Kinder begreifen sich bis heute nicht als Deutsche. Dieses Selbstverständnis spiegelt sich deutlich im Namen ihrer Dachorganisation: „Zentralrat der Juden in Deutschland“ – nicht der deutschen Juden. Die Majorität der eingesessenen Israeliten, von den Russen zu schweigen, fühlt sich als Juden auf der Durchreise. Ihre Traumheimat ist Israel, wo sie sich, wie der ehemalige Präsident des Zentralrates Ignatz Bubis, beerdigen lassen.
Die Zahl der lebenden jüdischen Wähler mit deutscher Staatsbürgerschaft dürfte unter zehntausend liegen. Ihre Wahlpräferenz ist so unterschiedlich wie die ihrer nichtjüdischen Nachbarn. Dennoch sind die Juden Deutschlands keineswegs einflusslos. Wie einstens die Gänse auf dem Kapitol des Römischen Reiches haben sie Kultstatus. Das Schnattern des gehätschelten Federviehs verhieß Gefahr.
Deutschlands Juden sind ebenfalls auf den Schnabel gekommen. Ihnen fehlen Zahl und Einfluss. Doch der aus historischen Schuldgefühlen herrührende deutsche Phantomschmerz verleiht den Juden eine seismografische Macht. Wenn sie sich durch gezielte Provokationen wie jene Jürgen Möllemanns, des Abgeordneten Hohmann oder gar jene unbelehrbarer Antisemiten bedroht fühlen und Alarm schlagen, sollte die nichtjüdische Mehrheit aufwachen. Nicht allein, um die Hebräer zu beschützen, sondern um der eigenen gefährdeten Freiheit willen.
Zur Beeinflussung der Bundestagswahlen freilich taugt das jüdische Schnattervotum nicht.
Rafael Seligmann
Wen wählen Katholiken?
Die Zeiten, in denen die katholischen Bischöfe den Gläubigen eine eindeutige Empfehlung der Union mit auf den Weg in die Wahlkabine gaben, sind vorbei. Wenn die Kirche sich – voraussichtlich im August – zu Neuwahlen zu Wort meldet, wird sie eher grundsätzlich dazu aufrufen, das Recht zur Teilnahme am demokratischen Prozess wahrzunehmen. Trotzdem ist für die überwältigende Mehrheit der überzeugten Katholiken klar, dass sie die C-Parteien wählen. Die Bindung reicht – vielfach unbewusst – zur Zentrumspartei zurück bis ins vorletzte Jahrhundert.
In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gestaltete sich die Integration der Katholiken in das mehrheitlich protestantisch-preußische Reich konfliktreich. Bismarcks Versuche, den Einfluss der römisch-katholischen Kirche zu marginalisieren, provozierten massiven Widerstand und führten am Ende dazu, dass die oppositionelle Zentrumspartei als politischer Arm des Katholizismus gestärkt aus der Auseinandersetzung hervorging. Das während des „Kulturkampfes“ gelegte Fundament konnte in die überkonfessionelle Union der Bundesrepublik hineingerettet werden. Ebenso wie auf der anderen Seite des Spektrums eine enge Bindung zwischen SPD und Gewerkschaften entstand. So entwickelte sich für die verschiedenen Milieus eine Prägung, die Wähler und politisches Personal gleichermaßen betraf. Noch im 11. Deutschen Bundestag (1987 bis 1990) gehörten zwei Drittel der Unionsabgeordneten der katholischen Kirche an.
Nach wie vor kann die Union auf die Katholiken setzen. Die Angaben zu ihrem Wahlverhalten schwanken allerdings, entsprechend ihrer Kirchennähe: So wählten bei der letzten Bundestagswahl 75 Prozent derer, die regelmäßig zur Kirche gehen, CDU und CSU. Allein nach der Zugehörigkeit zu einer Konfession befragt, gaben immerhin 52 Prozent der Katholiken an, mit ihrer Zweitstimme für die Union votiert zu haben. Bei den Protestanten stimmten 2002 – unabhängig von der Kirchgangshäufigkeit – 44 Prozent für die SPD und 36 Prozent für die Union. „Wahlen gewinnen kann man mit den Katholiken nicht“, sagt Viola Neu von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Verlieren aber sehr wohl. Zwar nimmt die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger kontinuierlich ab, sie liegt aber noch bei vier Millionen – immerhin sechs Prozent der Wahlberechtigten. Trotzdem: CDU und CSU müssen ebenso wie die SPD, der die Gewerkschafter verloren gehen, den überwiegenden Teil ihrer Wählerschaft außerhalb ihrer Stamm-klientel rekrutieren. Allerdings scheint die Pastorentochter Angela Merkel – nach Forsa – auf gutem Weg, die Katholiken verstärkt zu mobilisieren. Damit würde sie diejenigen entkräften, die nach der zunehmenden Abkehr vom Sozialkatholizismus mit dem Wechsel von Helmut Kohl zu Wolfgang Schäuble und dann zu Merkel dauerhaft ein Wegbrechen des alten Wähler-Fundaments befürchteten.
Martina Fietz
Wen wählen Dörfler?
Der Bundestagsabgeordnete Manfred Carstens ist in der CDU Rekordhalter. Bei den Bundestagswahlen 2002 erzielte er im Wahlkreis Cloppenburg-Vechta das bundesweit beste Erststimmenergebnis für die CDU: 62,2 Prozent. Ländlich ist der Wahlkreis, hat etwa 8350 Bauernhöfe und ein wenig mittelständische Industrie. Der Abstand zu seinem Parteifreund mit dem schlechtesten Ergebnis, Kurt Wansner im Berliner Wahlkreis Kreuzberg-Friedrichshain, betrug beinahe 50 Prozent.
Die Diskrepanz zwischen Stadt und Land, zwischen Zentrum und Peripherie gehört zu den prägenden Konfliktlinien bei der Entstehung des Parteiensystems in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, neben dem zwischen Kapital und Arbeit und dem zwischen Protestanten und Katholiken. Nach der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus gehörte es zu den großen Leistungen der bundesdeutschen Volksparteien, diese Interessengegensätze integriert zu haben. Die Zersplitterung der politischen Kräfte nach Interessensgruppen wurde überwunden. Die gesellschaftlichen Konflikte sind längst nicht mehr so polarisierend wie in der Weimarer Republik, wo Arbeiter, Bauern und Katholiken ihre eigenen Parteien hatten, auch nicht mehr so prägend wie in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen die SPD alle großen deutschen Städte regierte, teilweise mit zwei Dritteln Mehrheit. Die Großstädte waren die Bastion der Sozialdemokratie. Führende Sozialdemokraten – Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel oder Oskar Lafontaine – begannen ihre politischen Karrieren als Oberbürgermeister.
Derart krasse Unterschiede gibt es nicht mehr. Städter ziehen aufs Land, Dörfler pendeln in die Städte. Bauernhöfe sterben. Die Milieus haben sich aufgelöst. Selbst im ursozialdemokratischen Hamburg regiert seit Oktober 2001 mit Ole von Beust ein Christdemokrat. Mit einem modernen Wahlkampf, in dem er sich liberal und weltoffen präsentierte, eroberte er im Februar 2004 sogar die absolute Mehrheit.
Und doch können die Unterschiede zwischen Stadt und Land bis heute wahl-entscheidend sein. Die Bundestagswahlen 2002 hat der CSU-Mann Edmund Stoiber auch deshalb verloren, weil er in den Großstädten gegenüber Rot-Grün kaum zulegen konnte, während seine Zuwächse auf dem Land groß waren. Es war eine bewusste Entscheidung der großstädtischen Wähler. Schließlich gibt es eine Partei, die scheint sich an der alten Konfliktlinie zu profilieren, die Grünen, die Großstadtpartei. In allen Städten über 500000 Einwohnern erzielt die Partei zweistellige Ergebnisse, drei Mal so viel wie auf den Dörfern. Doch es ist nicht mehr der alte Stadt-Land-Konflikt, sondern ein neuer, ein postmoderner. Es hat sich in Universitätsstädten und Dienstleistungsmetropolen ein neues Milieu herausgebildet. Die Mehrzahl der grünen Wähler ist gut ausgebildet und gut verdienend, lebt in Patchwork-Familien und genießt die positiven Seiten der multikulturellen Gesellschaft. Sie erwartet von der Politik nicht in erster Linie Umverteilung, sondern mehr Lebensqualität, mehr Umweltschutz, und sie verhalf den Grünen in Berlin Kreuzberg-Friedrichshain vor drei Jahren zu ihrem ersten und einzigen Direktmandat. Auch ein Rekord.
Christoph Seils
Wen wählen Reiche?
Bei allen aufgelösten Milieus und postmodernen Lebenslagen gibt es noch ein paar Dinge, bei denen konnte man sich bislang auf die Wahlsoziologie verlassen: Gewerkschafter wählen SPD, Unternehmer CDU. Arm wählt links und Reich wählt rechts. Einerseits ja, andererseits ist alles relativ. Wer deshalb verstehen will, welchen politischen Erdrutsch es bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen gegeben hat, sollte sich zum Beispiel die Ergebnisse in Gelsenkirchen ansehen, ehemalige Kohlestadt in der Krise. Bei den Bundestagswahlen 1998 wählten 62,3 Prozent der Einwohner SPD, die CDU erzielte 21,9 Prozent. Seitdem haben sich zwölf Prozent der SPD-Wähler abgewendet oder sind gar zur CDU übergelaufen. Arbeiter, Gewerkschafter, Arbeitslose. In sieben Regierungsjahren hat Gerhard Schröder nicht nur die neue Mitte verspielt, auch Teile der alten Mitte sind ihm und der SPD weggebrochen.
Dabei war es ein genialer Schachzug des Kanzlerkandidaten Schröder und seiner Berater, neben der alten die „neue Mitte“ zu kreieren. Mit diesem politischen Spagat mobilisierte die SPD bei den Bundestagswahlen 1998 nicht nur die kleinen Leute, sondern auch mittlere und höhere Angestellte. Sogar bei den Selbstständigen legte die SPD damals mit fast sechs Prozentpunkten besonders deutlich zu. Dauerkanzler Helmut Kohl musste gehen. Erstmals seit 1949 war die Linke in Deutschland bei einer Bundestagswahl mehrheitsfähig geworden. Nach sieben Jahren haben sich viele Wähler enttäuscht von Schröder abgewendet. Schon bei den Bundestagswahlen 2002 hatte sich dies angedeutet, die Allianz der SPD mit den Arbeitern war brüchig geworden. Mittlerweile kehren Geringverdiener in Scharen der SPD den Rücken. Selbst bei denjenigen, die weniger als 1000 Euro im Monat verdienen, will nur noch jeder Dritte im September SPD wählen. Nur mit ökonomischem Erfolg hätte Schröder den politischen Spagat von 1998 halten können. Doch inzwischen fürchten Arbeiter und Angestellte, Gewerkschafter und Selbstständige, Gering- und Besserverdienende gleichermaßen die wirtschaftliche und soziale Instabilität im Lande, sie alle haben gleichermaßen Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg. Für die neue Mitte war es Zweckbündnis, das die Erwartung erfüllt hat. Für die alte Mitte sind traditionelle Bindungen erodiert, die kleinen Leute fühlen sich vom Genossen der Bosse verraten.
Die SPD hat sich von ihrer eigenen Basis, von ihren sozialen und damit von ihren politischen Wurzeln entfernt. Zu-dem gibt es heute eine neue Unterschicht. Keine proletarische mehr, die zur bürgerlichen Welt aufblickt, den Aufstieg sucht und deshalb die Nähe zur SPD. Unterhalb der traditionellen Facharbeitermilieus haben sich viele arme Menschen ohne regelmäßige Arbeit auf ein Leben mit Hartz IV und anderen wohlfahrtsstaatlichen Transfers eingerichtet. Mit einer SPD, die den Facharbeitern zu bescheidenem aber bedrohtem Wohlstand verholfen hat, hatte die neue Unterschicht nie viel am Hut. Sie wählt Protest, mal links mal rechts, häufig wählt sie auch gar nicht. Nicht in Gelsenkirchen und auch nicht anderswo.
Christoph Seils
Wen wählen Frauen?
Nachdem die Frauen 1918 das Wahlrecht erhielten, unterschieden sie sich in ihrem Wahlverhalten von den Männern: Sie neigten stärker zu konservativen und christlichen Parteien. Extreme Gruppierungen – egal ob am linken oder rechten Rand – hatten bei ihnen seltener Chancen. Dieser Trend aus der Weimarer Zeit setzte sich auch in der Bundesrepublik fort. Bis zur Bundestagswahl 1969 lag der Unionsanteil bei den Frauen um neun bis zehn Prozentpunkte über dem der Männer. Auf der anderen Seite verzeichnete die SPD hier ein Defizit von fünf bis acht Punkten. Weil sie starke Bindungen an die Kirchen pflegten und weniger ins Berufsleben integriert waren, wählten die Frauen überwiegend CDU und CSU, die Parteien, die lange das traditionelle Rollenbild postulierten.
Mit der Bundestagswahl 1972 setzte jedoch ein Wandel ein, der zu einer immer stärkeren Angleichung des Wahlverhaltens von Frauen und Männern führte. Das liegt nach Meinung der Wahlforscher weniger an der Begeisterung für Willy Brandt, die viele in der Rückschau als politisches Erweckungserlebnis werten, als vielmehr an einem höheren Bildungsstandard und zunehmender Erwerbstätigkeit bei den Frauen sowie einem schwindenden Einfluss des Religiösen. Mit dem Erstarken der Grünen setzte zusätzlich der Trend ein, dass jüngere und gut ausgebildete Frauen „alternativ“ wählten. Diese Entwicklung wurde im Ergebnis jedoch ausgeglichen dadurch, dass ältere Frauen überwiegend den C-Parteien ihre Stimme gaben.
Der Blick auf die Altersstruktur bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002 lässt Zweifel an der verbreiteten These aufkommen, Gerhard Schröder sei für die Frauen attraktiver gewesen, weil er für ein neues, vermeintlich modernes Gesellschaftsbild steht – verheiratet in vierter Ehe mit einer zuvor allein erziehenden Mutter, die stets berufstätig war. Denn keinesfalls sind 1998 bei der Union die jungen Frauen abgewandert, sondern die über 60-Jährigen. Acht Prozentpunkte verloren CDU und CSU in dieser Wählergruppe und 2002 schließlich einen weiteren Punkt. Stattdessen legten die Unionsparteien vor drei Jahren bei den 35- bis 40-Jährigen um sechs Prozentpunkte zu.
Gibt es Frauen-Solidarität, die jetzt der Union zugute kommt? Heide Simonis verdankte ihre Zustimmung – vor der bitteren Niederlage – den Frauen. Ute Vogt verbuchte bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg vor allem Erfolge bei den Wählerinnen. Angela Merkel will ebenfalls bei den Frauen punkten – allerdings nicht, indem sie die Frauen-Karte spielt.
Martina Fietz
Wen wählen Blondinen?
Also, ich persönlich würde Guido Westerwelle neun Prozent geben. Genauer gesagt: eine neunprozentige Blondierung. Damit könnte er sich nämlich wieder die fesch gestylten Strähnchen machen lassen, mit denen er zu Zeiten des Guido-Mobils als Spaßpolitiker unterwegs war.
Aber jetzt mal im Ernst: Warum wählen blonde Männer schwarz und rothaarige Frauen grün? Die politische Farbenlehre ist, so scheint’s, mindestens so überraschend wie Angela Merkels neue Frisur. Doch Obacht ist geboten. Denn zwischen Blond und Blond beispielsweise liegen himmelweite Unterschiede. Ich unterscheide da zwischen Naturblond, gefärbt blond und verhaltensblond. Bei den gefärbten Damen wiederum gibt es das feine hanseatische Streifenblond, das parkett- und vernissagentaugliche Mandelblond sowie das tiefergelegte Mantablond. Ob das auch die Demoskopen berücksichtigt haben?
Außerdem könnte es ja sein, dass der CDU/CSU-Fan direkt von der Wahlurne zum Friseursalon schreitet, um sich das Stoiberblond geben zu lassen. Vergleichbares vermute ich bei den Grünen. Bekennende Henna-Opfer wie Claudia Roth haben die grünen Wählerinnen sicherlich nicht nur zum gewaltfreien Töpfern auf Kreta verführt, sondern auch zum Ampelrot auf dem Scheitel.
Feuerrot – das könnte dann allerdings die Einstiegsdroge in die radikalen Randbezirke und exotischen Orchideenfelder der Parteienlandschaft sein. Denn erstaunlicherweise stürzen sich ganze zehn Prozent der Rothaarigen, fünf Prozent mehr als der Durchschnitt, in die Gefolgschaft der „Autofahrer-Partei“, der „Deutschen Biertrinker-Partei“, der „Bibeltreuen Christen“ oder der „Grauen Panther“! Wobei Letztere ja meist gar nicht mehr grauhaarig daherkommen, sondern offenbar das Geheimnis des Kanzlers entdeckt haben, wie man sich trotz Kummer und Sorgen keine grauen Haare wachsen lässt.
Rothaarige also und interessanterweise auch die Bartträger verweigern wacker den Mainstream und verschleudern ihre kostbaren Stimmen an die Splitterparteien. Da haben wir doch was Wichtiges gelernt! Wenn Sie das nächste Mal spazieren gehen oder an der Käsetheke stehen, achten Sie daher unbedingt auf bärtige Rothaarige. Vorsichtshalber. Es könnte ein radikaler Rentner sein, der Sie betrunken in seinem Ferrari zur Bibelstunde fahren will.
Gerhard Meir
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.