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- „Die katholische Amtskirche hat sich vom Leben abgemeldet“
Mit Gauck und Merkel hat Deutschland eine protestantische Doppelspitze. Ein Gespräch mit Heiner Geißler über die Ursachen der politischen Bedeutungslosigkeit des Katholizismus und darüber, ob politische Diskurse in der Bundesrepublik überhaupt noch von geistlicher Seite beeinflusst werden
Herr Geißler, ein ehemaliger Pfarrer und eine
Pfarrerstochter, beide aus Norddeutschland, stehen an der Spitze
der Bundesrepublik. Ist der politische Katholizismus ins
Hintertreffen geraten?
Ich bin kein Vertreter irgendeiner Form des organisierten
Katholizismus, den es ja in vielen Formen gibt, zum Beispiel das
Zentralkommitee der deutschen Katholiken, deren Arbeit ich durch
Kritik nicht erschweren will. Ich stelle aber fest, daß die
katholische Amtskirche und ihre offizielle Theologie in der
globalen geistigen Auseinandersetzung um eine den Kapitalismus
ablösende neue Weltwirtschafts- und Sozialordnung so gut wie keine
Rolle spielt.
Aber es gab doch einen einflussreichen politischen
Katholizismus? Denken sie an die Abtreibungsdebatte, denken
Sie auch an Paragraph 175, da war die Rolle
der katholischen Kirche doch mit Händen zu greifen.
Dies war eine verfehlte Verengung auf sexual-ethische Fragen, mit
denen die Amtskirche ja auch nicht erfolgreich war, auch nicht in
der Union.
Bis in die 60er, 70er Jahre sehr wohl. Es war die Zeit,
als am Wahlsonntag von der Kanzel der katholischen Kirche herab
Bischofsbriefe verlesen wurden, in denen zur Wahl der CDU
aufgerufen wurde.
Diese Zeit des Engagements der Institution katholische Kirche war
gegen Ende der fünfziger Jahre vorbei.
Begrüßen Sie das?
Ja, denn in weiten Bereichen der Gesellschaftspolitik, der
Friedenspolitik und der Sozialpolitik kann eine moderne Partei die
Thesen und die Dogmen der katholischen Kirche nicht übernehmen. Sie
würde dadurch ihre Mehrheitsfähigkeit verlieren. Und hier ist das
Problem. Der Vatikan blendet völlig aus, dass das Evangelium eine
politische Dimension in alle gesellschaftliche Bereiche hinein hat.
Dies führt dazu, dass die katholische Kirche in der Gesellschaft
keine Rolle mehr spielt.
Haben nicht vor allem die Pädophilie-Skandale der
vergangenen Jahre die Autorität der Kirche
untergraben?
Das hängt doch miteinander zusammen. In der katholischen Kirche ist
durch diese sexualpolitische Fixierung eine besondere Mentalität
entstanden. Diese Verengung hat innerhalb der Kirche, innerhalb des
Klerus zu einer Radikalisierung dieser Themen geführt. Die Aussage,
die der Bischof von Essen vor zwei Jahren in einer Talkshow gemacht
hat, dass Homosexualität zwar nicht strafbar, aber eine schwere
Sünde sei, hat einen verheerenden Eindruck erzeugt und katholische
Homosexuelle, vor allem homosexuelle Priester in den Dunkelbereich
der Lüge und Vertuschung getrieben. Typisch dafür war, daß der
pädophile Mißbrauch nicht aufgedeckt werden durfte und vom
damaligen Sekretär der Glaubenskongregation Kardinal Ratzinger
unter das Secretum Pontificium, das päpstliche Schweigegebot
gestellt wurde, dessen Verletzung schwere Kirchenstrafen nach sich
zöge.
Die katholische Kirche war doch mal eine politisch
einflussreiche Organisation…
Es gab ja die berühmte Enzyklika Quadragesimo anno von Pius XI., in
dem in einer modernen Form die Soziallehre der katholischen Kirche
formuliert worden ist. Sie ist dann nach der Katastrophe des Jahres
1945 von Theologen und Philosophen zu einem Fundament einer
neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik gemacht worden. Ich nenne
Nell-Breuning, Walter Hirschmann, die Dominikaner von Walberberg.
Diese wissenschaftlich begründete Ausprägung des Evangeliums hat
sich dann mit der Freiburger Schule verbündet, dem
Ordoliberalismus – Walter Eucken, Wilhelm Röpke, später Alfred
Müller-Armack – und hat sich zu einem Weg der Mitte zwischen
Kommunismus und Kapitalismus entwickelt, nämlich der sozialen
Marktwirtschaft, und die zur erfolgreichsten Wirtschafts- und
Sozialphilosophie der Wirtschaftsgeschichte wurde.
Wann hat dieser Prozess der Verengung
begonnen?
Mit dem Sieg der Matkideologie des Milton Fridmann in den
Wirtschaftswissenschaften. Der Markt wurde zum Gott, der alles
regelt und das kapital zum Götzen, den alle anbeteten und dem alle
dienten, was letzlich zur größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit
1929 führte. Aus dieser Auseinandersetzung ist die katholische
Kirche im Zuge der Globalisierung ausgestiegen. Sie hat sich
anstecken lassen vom Neoliberalismus. Die Kirche hat keine neuen
Impulse gebracht, zum Beispiel für eine Neugestaltung der globalen
Wirtschaft.
Welche Impulse stellen Sie sich vor?
Wir bräuchten heute eine internationale, sozialökologische
Marktwirtschaft. Doch die Konzepte dafür werden nicht mehr von der
Kirche geliefert, sondern die kommen aus dem politischen Raum, eher
noch von der evangelischen, aber nicht mehr von der katholischen
Kirche. Beim Besuch des Papstes im Herbst vergangenen Jahres hat
sich das deutlich gezeigt, als er die Bischöfe aufgefordert hat,
sich nicht weiter zu verweltlichen.
Ist das nicht eine Alterserscheinung?
Nein, da hat sich eine theologische Richtung durchgesetzt. Sie
können das auch an den Machtstrukturen ablesen. Dass heute eine
Organisation wie Opus Dei in der katholischen Kirche eine viel
größere Rolle spielt als zum Beispiel die Jesuiten ist
bemerkenswert. Opus Dei war auch die Lieblingsorganisation von
Johannes Paul II., der sehr geprägt war von seinem Antikommunismus.
Das hat aber dazu geführt, dass alle Fragen nach der sozialen
Verantwortung sofort unter Generalverdacht gerieten und in die Nähe
des Kommunismus gerückt wurden.Deswegen wurde die Theologie der
Befreiung, die eigentlich eine genuin auf dem Evangelium fußende
Bewegung ist, vom Vatikan gestoppt. Bis heute wurde der ermordete
Erzbischof Romero in San Salvador, ein Märtyrer dieser
Befreiungstheologie, nicht heiliggesprochen, während der Gründer
von Opus Dei inzwischen zur „Ehre der Altäre“ gekommen ist. Aber
kein Mensch weiß, welche Verdienste er sich erworben hat jenseits
seiner erzkonservativen Thesen. Zu dieser Entwicklung passt, dass
es für den Papst viel wichtiger war, die Pius-Brüder zur
rehabilitieren, eine der reaktionärsten Organisationen im
spirituellen Bereich überhaupt, in deren Reihen Leute geduldet
werden, die den Holocaust leugnen und die dem Alten verhaftet
sind.
Warum steht der Katholizismus dem so tatenlos
gegenüber?
Der Vatikan hat die Wurzeln des Evangeliums, vor allem die
Nächstenliebe verloren. Die Kirche hat es zugelassen, dass Menschen
die sich für ihre Mitmenschen engagieren, als so genannte
Gutmenschen lächerlich gemacht worden sind. Dabei gibt es doch das
biblische Beispiel vom guten Samariter, das die Nächstenliebe weder
als platonische Verklärung noch als Gefühlsduselei, sondern als die
knallharte Pflicht bezeichnet, denen zu helfen, die in Not geraten
sind. Es geht um Nächstenliebe, nicht Gutmenschentum. Und ich weiß
nicht, ob Herr Gauck das richtig verstanden hat.
Was bedeutet dieser Niedergang des politischen
Katholizismus und der katholischen Soziallehre für die CDU?
Wendet sie sich deshalb dem Protestantismus
zu?
Nein, das Konfessionelle spielt keine große Rolle mehr. Zunächst
einmal hat der Bedeutungsverlust des politischen Katholizismus
nichts mit der CDU und ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu tun.
Trotzdem spürt sie die Folgen. Aber die Partei hat ihre
neoliberalen Sünden korrigiert. Sie war davon genauso infiziert wie
die SPD mit der Agenda 2010. Aber im Gegensatz zur SPD hat sich die
CDU inzwischen von dieser Entwicklung emanzipiert. Die CDU hat die
Energiewende herbeigeführt. Dies ist die klügste politische
Entscheidung, die überhaupt eine Bundesregierung seit langen Jahren
getroffen hat…
… das sehen wir ganz anders.
Abwarten, das wird sich noch herausstellen. Es ist doch ganz klar,
dass die Mehrheit eine atomfreie Energie haben will,
umweltfreundliche Energie für richtig hält und dass die Zahl dieser
Leute nicht abnimmt, sondern zunimmt. Eine Politik, die das erkennt
und darauf eingeht beherrscht die Märkte von Morgen und erreicht
natürlich auch die Mehrheiten, weil jeder vernünftige Mensch
einsieht, dass es mit der Energiepolitik so nicht weitergehen kann.
Und wir haben den großen Vorteil, dass wir dadurch innovativ
wesentlich aktiver sind als andere Länder. In Frankreich heißt es
schon: Die Deutschen sind uns wieder voraus, was die erneuerbaren
alternativen Energien anbelangt. Es hat einen großen
Innovationsschub gegeben auf dem Weg zu einer internationalen
ökosozialen Marktwirtschaft. Die Marktwirtschaft wird durch diese
Energiepolitik nicht ausgeschaltet. Aber die CDU vertritt offiziell
in ihrem Programm und auch in der Regierungspolitik die Einführung
einer internationalen Finanztransaktionssteuer. Wegen dieser
Zielsetzung bin ich Mitglied von Attac geworden, und inzwischen
auch viele andere CDU-Mitglieder.
Aber auch in dieser Sache ist von der katholischen
Kirche nichts zu hören. Müsste diese eine solche
Entwicklung nicht theologisch
begleiten?
Das erwarten viele Menschen, aber die katholische Amtskirche hat
sich vom menschlichen Leben abgemeldet.
Gestatten Sie zum Abschluß noch eine persönliche Frage.
Sie sind Katholik, waren aber drei Jahre lang Leiter
des politischen Clubs der evangelischen
Akademie. Wie passt das zusammen?
Also, ich will Ihnen mal folgendes sagen: Jeder intelligente
Katholik ist in seinem Herzen auch Protestant.
Herr Geißler, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führten Michael Naumann und Paul Solbach
Im Text befand sich ein Hinweis auf den Talkshowauftritt des
Bischofs von Osnabrück, tatsächlich gemeint war der Bischof von
Essen.
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