- Politik ohne Volk
Das Verhältnis vieler Bürger zur Politik ist gestört: Die einen verachten die Regierenden, die anderen haben längst mit ihnen abgeschlossen. Die Cicero-März-Ausgabe geht diesem Phänomen auf die Spur
Edward Clare, britischer Premierminister in Sue Townsends Politposse „Number Ten“, kommt nach einer Befragung im Parlament von Westminster zu einer erschütternden Erkenntnis: Er habe den Kontakt mit dem wahren Leben der Leute verloren, klagt er dem Bobby, der seit ewigen Zeiten den Eingang seines Amtssitzes bewacht. „Ich bin seit Jahren nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren und habe genauso lange keinen Liter Milch mehr gekauft oder auf eine Behandlung im staatlichen Krankenhaus gewartet.“ Ob ihn seine Berater nicht in Kontakt mit der Wirklichkeit hielten, fragt der Bobby. Darauf Clare, dem Vorbild Tony Blair nicht nur phonetisch ähnlich: „Die leben doch in der gleichen Blase wie ich, Jack!“
Abgehoben, entkoppelt, weit weg von der Wirklichkeit und ihren Problemen: Diesen Eindruck haben viele Menschen vom Politikbetrieb. Das Raumschiff Berlin zieht seine Kreise in einem eigenen Orbit. Die Besatzung aus Politikern und Hauptstadtjournalisten wird als kungelnde Einheit wahrgenommen, als politisch-publizistischer Komplex. Presse und Politik? Alles eine Bagage! Ein grober Vorwurf, der uns aber nachdenklich machen sollte.
Was läuft schief? Für die Titelgeschichte dieser Ausgabe ist ein Reporterteam von Cicero ausgeschwärmt in die zwei Welten, die nicht recht zueinanderfinden. Von einer Hamburger Hafenkneipe übers Berliner Kanzleramt bis zu einem Milchwirt im Allgäu. Wir haben mit Wählern gesprochen, die nicht mehr wählen wollen, und Angela Merkel dabei beobachtet, wie sie neben Ukrainekrise und Griechendrama versucht, in zwei Stunden dem wirklichen Leben der Menschen auf die Spur zu kommen. Bundestagspräsident Norbert Lammert stellt sich im Interview der Frage, weshalb es diese Distanz zwischen den Repräsentanten im Parlament und den Repräsentierten im Land gibt, was Politiker dagegen tun können und was das Pegida-Phänomen darüber aussagt.
In Sue Townsends „Number Ten“ verkleidet sich Premier Clare übrigens schließlich als Frau und reist inkognito durchs Land. Der Papst soll das auch gelegentlich machen. Die Kanzlerin mit falschem Bart unterwegs 2. Klasse in der Deutschen Bahn? Ist jedenfalls ein hübscher Gedanke.
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