- Zeit für einen Führerschein im Netz
Im Internet benehmen sich viele Menschen wie im eigenen Fiat Panda. Sie lassen alle Hemmungen fallen und pöbeln, was das Zeug hält – Zeit für eine Fahrerlaubnis im Internet
Wer im Straßenverkehr einmal den Menschen hinterm Steuer ins Gesicht schaut, der muss erschauern angesichts des Hasses, den er da erblickt. Rotgesichtige Männer, die junge Frauen anschnauzen, weil sie nicht schnell genug die Kreuzung überqueren, blondierte Hausfrauen, mit vor Verachtung zusammengezogenen Augenbrauen, die sich lautstark über den Vordermann auslassen. All ihre Schimpftiraden aber prallen ungehört ab an der Vorderfront aus Glas, sie schützen die Beschimpften vor den bösen Worten und gleichzeitig die Schimpfenden vor der Scham. Denn was sie in ihren Autos so von sich geben, das würden die meisten von ihnen niemals außerhalb ihres Fünftürers verantworten wollen.
So ähnlich ist es im Internet. Viele der Nutzer dort benehmen sich wie im eigenen Fiat Panda. Sie kennen keine Hemmungen. Wenn wir davon ausgehen, dass Papier geduldig ist, dann ist die Computertastatur dessen stressige Schwester. Was einmal getippt ist, findet all zu schnell den Weg ins Netz. Und was einmal online ist, lässt sich nicht mehr kontrollieren. Wütende Auslassungen, im vorgegaukelten Schutzraum der eigenen vier Wände gedacht, finden so den Weg in die Netzgemeinde, erreichen ein Publikum, das sie in Zeiten von Tinte und Papier niemals gefunden hätten. Auch Günter Grass wäre wohl ohne das Netz ein großer Teil an Aufmerksamkeit für sein mit letzter Tinte gepinseltes Israel-„Gedicht“ erspart geblieben.
Und aus diesen Einwürfen im Internet wird in schöner Regelmäßigkeit das, was heute nicht nur der Netzwelt als Shitstorm bekannt ist. Gerade im vergangenen Jahr sind viele digitale Gräben überbrückt worden. Auch wenn von den Piraten nicht viel bleiben sollte im Gefüge des deutschen Parteiensystems - eines haben sie mit ihrer plötzlichen Popularität doch erreicht: Wortschöpfungen wie der Shitstorm sind in den Gebrauch vieler Nicht-Netzaffiner übergegangen. Printmedien nutzen sie eben so wie Online-Magazine und Blogs. Gerade wurde der Shitstorm zum Anglizismus des Jahres 2011 gewählt, er hat gute Chancen auf das „Wort des Jahres“ 2012.
Sascha Lobo definierte ihn auf der Republica 2010 als den „Prozess, wenn in kurzem Zeitraum eine subjektiv große Anzahl von kritischen Äußerungen getätigt wird, von denen sich zumindest ein Teil vom ursprünglichen Thema ablöst und stattdessen aggressiv, beleidigend, bedrohend oder anders attackierend geführt wird.“
Lobo verlas bei dieser Gelegenheit auch den „schönsten“ an ihn gerichteten Beitrag eines Shitstorms: „Wenn ich einen von euch zu Gesicht bekommen, werden wir Blutpolka tanzen“, hieß es dort.
Wer solche Shitstorms nicht gewohnt ist, wird über derartige virtuelle Gewaltandrohung vielleicht weniger scherzen können als Lobo dies tut. Shitstorms sind für die Betroffenen häufig nicht vorauszusehen, zu viele Faktoren beeinflussen die Verkehrslage der Netzwelt: das Nachrichtenangebot, die Stimmung der Beteiligten und sogar das Wetter. Jetzt haben die Schweizer Barbara Schwede und Daniel Graf für die Social Media Marketing Konferenz 2012 eine Shitstorm-Skala entwickelt, um die Empörungswellen in sozialen Medien besser einordnen zu können. Auf der Skala 4 (von 6 möglichen) etwa ist mit „grober See“ zu rechnen. Das bedeute, so Schwede und Graf, die „Herausbildung einer vernetzten Protestgruppe, wachsendes, aktives Follower-Publikum auf allen Kanälen“. Im Vergleich zur „schweren See“ mit bedrohendem Tonfall und intensiver Berichterstattung in allen Medien.
[gallery:Von Leidenschaft zu Häme - Entgleisungen deutscher Politiker]
Christian Wulff, Karl-Theodor zu Guttenberg, Joachim Gauck, Christian Ströbele und Daniel Bahr. Sie alle sind Opfer eines Shitstorms geworden. Die einen mehr, die anderen weniger selbst verschuldet. Peter Altmaier, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion und seit einigen Monaten berühmter Twitterer aus dem Bundestag, überlegt nach seinen ersten Erfahrungen mit den Kräften eines Shitstorms ganz genau, was er an späten Abenden aus seiner Twitterzentrale in seiner großen Altbauwohnung im Berliner Westen von sich gibt.
Selbst Kanzlerin Angela Merkel hat vor einiger Zeit bei einer Bürgersprechstunde in Heidelberg auf die Frage geantwortet, ob man nicht die Einführung eines Führerscheins im Netz diskutieren müsse: „Ja, aber wir machen hier keine Vorschläge. Sonst haben wir morgen einen 'Shitstorm' zu gewärtigen.“
Und hier liegt die Gefahr durch die Amokfahrer im weltweiten Web. Wenn sich Politiker künftig aus Angst vor den Pöbeleien aus dem Netz nicht mehr trauen, ihre Meinung kund zu tun, verkommen politische Debatten mehr und mehr zur Phrasendrescherei – mehr als sie es sowieso schon sind. Wer einmal beim Überqueren der Kreuzung Zeuge eines außer Kontrolle geratenen Autofahrers wurde, dessen Fenster nicht ganz geschlossen war, der kann ahnen, wie es sich im Auge eines Shitorkans anfühlt. Ganz beschissen.
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