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Willkommenskultur gegen Abwehrreflexe - Deutschland ohne Maß und Mitte

Die Stimmung in der einst so konsensorientierten Bundesrepublik radikalisiert sich. Es geht nur noch um hell oder dunkel, gut oder böse, dafür oder dagegen. Jegliches Gespür für Maß und Mitte scheint abhandengekommen

Alexander Marguier

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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„Herz statt Hetze“: Unter diesem Motto sind gestern in Dresden tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit zu setzen. Das klingt erst einmal gut. Ist es auch, denn es wäre fatal, den in der Tat immer hetzerischer auftretenden Pegida-Leuten das Feld zu überlassen. Noch besser wäre es allerdings gewesen, wäre man dem Ressentiment nicht mit Gefühl („Herz“), sondern mit Verstand entgegengetreten. „Kopf statt Hetze“ ist natürlich weniger alliterativ, aber Wortspiele können der Maßstab nicht sein. Denn wenn sich etwas in den vergangenen Monaten aus der öffentlichen Debatte herausgeschlichen hat, dann ist es der Verstand. Und die Flüchtlingskrise – oder wie auch immer man die Migrationsströme bezeichnen mag – hat diese Entwicklung in einem beängstigenden Ausmaß beschleunigt.

Deutschland ohne Zwischentöne
 

Das Meinungsbild in der einst so konsensorientierten Bundesrepublik entwickelt mittlerweile wahnhafte Züge: Willkommenskultur gegen Abwehrreflexe, gut gegen böse, entweder oder. Es war leider der Bundespräsident selbst, der diese gesellschaftliche Dichotomie mit seiner Sentenz vom dunklen und vom hellen Deutschland auch noch offiziell verankert hat. Zwischentöne finden kaum noch Gehör, weil in der Ökonomie der Aufmerksamkeit jedes Extrem die stabilere Währung ist als besonnenes Abwägen und entsprechendes Handeln. Deutschland scheint dieser Tage jegliches Gespür für Maß und Mitte abhandengekommen zu sein. Das ist gefährlich, weil die Verhandlungsebenen am Ende nicht mehr die Parlamente oder die Studioböden irgendwelcher Talkshows sind. Sondern eben die Straße – und zwar nicht nur in Dresden.

Dass die inzwischen zur Kölner Oberbürgermeisterin gewählte Henriette Reker von einem selbsterklärten Vaterlandsretter niedergestochen und beinahe getötet wurde, ist eine Schande. Und zwar eine Schande für den Attentäter. Dass von interessierter Seite diese Tat eines Einzelnen umgehend auf einen vermeintlichen Täterkreis ausgedehnt wurde, der praktisch jeden umfasst, dessen Meinung zur unkontrollierten Zuwanderung man nicht teilt, macht indes die Verrohung der Debatte auch auf Seiten der „hellen Deutschen“ überaus klar und deutlich. Was erleuchtete Politfeuilletonisten da dem einen oder anderen Geschichtsprofessor in die Schuhe schieben wollen, weil er sich der bedingungslosen Willkommenskultur argumentativ widersetzt, ist ein Skandal. Hetze, so viel steht fest, war noch nie ein Privileg der dumpfen Rechten. Auch linke Intellektuelle beherrschen diese Klaviatur.

Linksfeuilletonistische Lösungskompetenz
 

Ein Kolumnist auf Spiegel online zog jetzt sogar eine direkte Verbindungslinie zwischen dem Kölner Mordanschlag und einer „ostdeutschen Bevölkerung“, die die Grundlagen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht verstanden habe. Dass der Reker-Attentäter in Düsseldorf geboren wurde und in Bonn lebte, tut da nichts zur Sache. Was zählt, ist das Gefühl. Und so ist jeder Anlass recht, um mit kolonialistischer Hell-Deutschen-Attitüde das östliche Dunkeldeutschland als eine Region zu disqualifizieren, die bestenfalls neu besiedelt werden müsste, um den dort grassierenden Ungeist endlich auszutreiben. Soviel zum Thema linksfeuilletonistische Problemlösungskompetenz nach einem Vierteljahrhundert Wiedervereinigung.

Wir Deutschen, so sagte die Kanzlerin auch mit Blick auf die Wiedervereinigung, hätten so vieles geschafft. Da würden wir auch „das“ noch schaffen. Das „das“ bezog sich bekanntlich auf die Flüchtlingsströme, wurde aber nicht näher spezifiziert. Geht es also nur um die menschenwürdige Unterbringung der Ankommenden? Um deren Qualifikation für den deutschen Arbeitsmarkt? Oder gar um die Integration von mehr als einer Million Zuzüglern allein in diesem Jahr und weiteren Hunderttausenden in näherer Zukunft? Oder sind solche grundsätzlichen Fragen überhaupt nicht statthaft, weil sie dem autosuggestiven Impuls des Schaffenkönnens eine zumindest halbwegs rationale Note verleihen – und damit den Traum in Frage stellen, der auch ein Wahn sein könnte?

Durch ihre Gefühlspolitik, die zunehmend und ganz offenbar aus der Not heraus noch mit christlichen Motiven angereichert wird, hat Angela Merkel dieses Land gespalten. Anstatt der Vernunft regiert das Sentiment. Der ersten deutschen Bundeskanzlerin ist nicht zu wünschen, dass sie ausgerechnet mit dieser Leistung in die Geschichtsbücher eingeht. Auch wenn sie vielen Deutschen aus dem Herzen spricht.

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