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Wie Lady Bismarck leidet

Simultane Terroranschläge in Los Angeles, London und Frankfurt im Jahr 2011 haben der Kanzlerin die Wiederwahl gesichert. Joschka Fischer ist inzwischen Herausgeber der Zeit. Deutschland im Jahr 2015: ein Blick nach Übermorgen.

Die Bundeskanzlerin beugte sich über ihren Schreibtisch. Ein langer Tag lag hinter ihr und der stechende Schmerz, den sie bereits am Morgen verspürt hatte, war inzwischen ein ausgewachsener Brummschädel. In ihren Schläfen pochte es immer lauter, während von draußen die rhythmischen Sprechchöre eines Protestzuges zu ihrem Büro hinaufdrangen. Welche Gruppe demonstrierte diesmal? Die Parolen wurden gerade von einem Muezzin übertönt, er stimmte den muslimischen Gebetsruf an – der nun über den Tiergarten hinwegzog. Für einen kurzen Augenblick erinnerte sich die Kanzlerin an die „Schlacht um die Lautsprecher“, bei der die Al-Akbar-Moschee vor Gericht den Sieg davongetragen hatte, mit der Argumentation, der Gebetsaufruf unterscheide sich nicht vom Geläut der Kirchenglocken, und wenn das Grundgesetz die Prinzipien „Toleranz“ und „Freiheit“ wirklich hochhalte, müsse er also erlaubt sein. Seit dem Urteil war der Aufruf zum Gebet in vielen deutschen Städten fünfmal am Tag zu hören, vor allem in Berlin, Frankfurt und Stuttgart. In allen drei Städten stellten die Muslime beinahe 13 Prozent der Bevölkerung, ein nicht zu unterschätzender Teil der Wähler. Sie war immer noch froh darüber, dass die muslimische Lobby mit ihrer Forderung gescheitert war, muslimische Frauen total verschleiert für ihre Personalausweise fotografieren zu lassen. Sie stieß einen Seufzer aus. Heutzutage zählten auch kleine Siege. Während der Ruf des Muezzins verklang, drang wieder das Geschrei der Protestler durch. Hörte sie die empörten Sprechchöre der „Silbernen Füchse“, der mächtigen Nachfolger der Interessengruppe der Grauen Panther? Deren Zahl hatte in letzter Zeit stark zugenommen, nachdem der Bundestag sein drastisches Reformpaket zur Gesundheitspolitik verabschiedet hatte. Oder handelte es sich hier um die Reste der Gewerkschaften, die gegen eine neue Welle von Einwanderern protestierten? Waren es die „Neuen Christen“, eine christliche Auferweckungsbewegung, die gegen die Verweltlichung der CDU/CSU und der deutschen Gesellschaft im Allgemeinen protestierte? Oder waren es die „Neuen Radikalen“ mit ihren Rufen „Freiheit für die Häftlinge! Nieder mit dem Bundesverfassungsschutz!“? Ihr Kopf hatte zu schmerzen begonnen, als sich ihr Wagen im Morgengrauen durch die von Schlaglöchern lädierten Straßen Berlins holpernd zum Kanzleramt schlängelte. Berlin sah von Tag zu Tag bedrückender aus, schien langweiliger, grauer, weniger lebendig. Es fehlte die Energie der jungen Menschen. An immer mehr Häusern blätterte die Farbe ab. Immer häufiger sah man verrammelte Fenster – selbst bei Gebäuden, die nach dem Fall der Mauer neu gebaut oder renoviert worden waren. Und in jeder Straße leere Schaufenster.

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