- Wie der Antisemitismus in die Linke kam
Nun also doch: Die Linkspartei nimmt die Anerkennung des israelischen Existenzrechtes in ihr Grundsatzprogramm auf. Doch das Antisemitismus-Problem ist mit diesem Beschluss nicht gelöst, denn der antizionistische Antisemitismus ist tief in der Linken verankert, reicht bis hinein in die Ideologie.
Die Linkspartei, wie hält sie es mit dem Antisemitismus? Das ist zurzeit die Gretchenfrage nicht nur im deutschen Feuilleton, sondern auch in der politischen Linken und speziell in der Linkspartei selbst. Kritiker werfen den Linken vor, ihre Solidarität mit den Palästinensern trage dermaßen obsessive Züge, dass in Folge einseitiger Parteinahme mit dem „palästinensischen Volk“ antisemitische Stereotype reaktiviert werden.
Kritik kommt nicht nur von außen. Etwa vom Präsidenten des Zentralrats der Juden Dieter Graumann, der Teilen der Linken „blindwütigen Israelhass“ vorwirft. Kritik wird auch innerhalb der Linken geäußert, etwa von dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch, der die Vorwürfe „sehr ernst“ nimmt. Jüngst forderte der Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich auf einer Podiumsdiskussion der jüdischen Gemeinde Berlins, dass nicht länger über den Antisemitismus in der Linken geschwiegen werden dürfe. Der Fall Inge Höger und ihr Auftritt auf einer Veranstaltung Hamas naher Organisatoren hätten das Fass zum Überlaufen gebracht, so Liebich. Auch der BAK-Shalom, ein Arbeitskreis innerhalb der Linken, der sich massiv gegen Antizionismus zur Wehr setzt und aus dessen Reihen auch der Mitautor der jüngsten Antisemitismusstudie in der Linken kommt, gehört zu den schärfsten Kritikern. Kritik, die erste Erfolge vorzuweisen hat, denn am Montag dieser Woche hat der Vorstand der Linkspartei beschlossen, ein klares Bekenntnis zum Existenzrecht Israels in sein Grundsatzprogramm aufnehmen zu wollen.
Es gibt allerdings auch andere Stimmen. Stimmen, die gebetsmühlenartig die alte Mär von der Unvereinbarkeit linken Denkens und Antisemitismus wiederholen. Doch vor allem diese Grundsätzlichkeit ist es, die eine dringende, breitangelegte Reflektion innerhalb der Linken über den Antisemitismus in den eigenen Reihen verhindert. Denn: Kein noch so gutgemeintes Etikett kann gänzlich vor in der Gesellschaft tief verankerten antisemitischen Vorurteilsmustern schützen. Auch Linke sind nicht immun gegen Antisemitismus, im Gegenteil.
Der Antisemitismus innerhalb der Linken, der sich hinter einer antizionistischen Agitation verbirgt, ist spätestens seit 1967, seit sich die westdeutsche Linke in Folge des arabisch-israelischen Sechstagekrieges gegen den Staat Israel positionierte, in der bundesrepublikanischen Linken virulent und bis hinein in die heutige Linkspartei nachweisbar.
Wie tief das Problem des antizionistischen Antisemitismus in der Linken verwurzelt ist, verrät ein Blick in die Geschichte.
Frühformen linken Antisemitismus
Bereits Schriften von Frühsozialisten wie etwa Charles Fourrier oder Pierre J. Proudhon oder anarchistische Texte von Michail Bakunin waren nicht frei von antisemitischen Ressentiments. Auch von Philosophen der Aufklärung wie Voltaire, Kant oder Fichte sind antijüdische Vorurteile überliefert. Anhand der gesammelten antijüdischen Entgleisungen aufklärerischer linker bzw. (früh-) sozialistischer Provenienz lässt sich bereits erkennen, dass sich linkes Denken und Antisemitismus keineswegs von vornherein ausschließen. Selbst bei Marx sind antijüdische Entgleisungen dokumentiert. Beispielsweise nannte dieser Ferdinand Lassalle einen „jüdischen Nigger“. Nur waren derartige Äußerungen weniger Ausdruck eines genuin linken Antisemitismus, der sich aus einem spezifisch linken Welterklärungsmodell speiste. Vielmehr folgten sie gesamtgesellschaftlichen Vorurteilsstrukturen, die sich eben auch auf Linke auswirken konnten.
Ein antisemitische Tradition, die bruchlose von den Anfängen der sozialistischen Bewegung über die antizionistische Agitation des Ostblocks bis zum antizionistischen Antisemitismus der westdeutschen Linken reicht, lässt sich daraus allerdings schwerlich konstruieren. Eine solche Argumentationskette übersieht, dass bedeutende Sozialisten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu den entschiedensten und konsequentesten Gegnern des Antisemitismus gehörten. Allerdings gibt es in der Linken eine Tradition, die sich durch eine besondere Ablehnung des jüdischen Nationalismus sowie durch eine Unterschätzung des Antisemitismus auszeichnet. Erst die kritiklose Übernahme und Übertragung dieser Tradition auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bei gleichzeitiger Ignorierung der historischen Zäsur, die mit dem Namen Auschwitz verbunden ist, führte zu einem Antizionismus, der anfällig für antisemitische Ressentiments wurde.
Antizionismus nach Auschwitz
Erst der Antizionismus nach Auschwitz führte zu einem genuin linken Antisemitismus. Vor 1945 war der Antizionismus ein aus vornehmlich jüdischen Kreisen stammender kritischer Ansatz, der sich gegen einen jüdischen Nationalstaat und für die Integration der Juden in die jeweilige Mehrheitsgesellschaft aussprach. Eine solche, sich aus einer universalistischen Emanzipationshoffnung speisende linke Kritik des Zionismus darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem sowjetischen Antizionismus oder dem neu-linken bundesrepublikanischen Antizionismus nach Auschwitz. Erst nach Auschwitz erfährt der Antizionismus seine spezifisch antijüdische Zuspitzung.
Der antisemitisch gefärbte Antizionismus taucht nach 1945 zunächst im Kontext des Marxismus- Leninismus auf. Er war Grundlage für die Herausbildung eines antiimperialistischen Weltbildes, dass die Befreiungsbewegungen auf ein einfaches „Unterdrückte“ vs. „Unterdrücker“, „gut“ vs. „böse“ runterbrach. Der antiimperialistische Antizionismus nach Auschwitz hatte seinen hauptsächlichen Ursprung in der Sowjetunion. Von dort wurde er in die sogenannten Volksdemokratien in Osteuropa getragen und erreichte so letztlich auch die Neue Linke, K-Gruppen und Autonome im Westen.
Dass dem Antizionismus nach Auschwitz zugrunde liegende antiimperialistische Weltbild marxistisch-leninistischer Prägung konstruiert und strukturiert das Weltgeschehen nach einem ähnlich simplen Muster, wie es im antisemitischen Denken geschieht. Es wird strukturiert durch Manichäismus, Personifizierung, verschwörungstheoretische Bezugnahme und die Adaption diverser Nationalismen. Wird der Nahost- Konflikt mit Hilfe des antiimperialistischen Antizionismus zu deuten versucht, können aus strukturellen Affinitäten zum antisemitischen Denken inhaltliche werden.
Wie schnell und radikal sich die marxistisch-leninistischen Denkstrukturen nach stalinistischem Vorbild mit antisemitischen Inhalten füllen konnten, kann zum Beispiel anhand der frühen DDR nachgezeichnet werden. Zum Zwecke einer Lokalisierung des Klassenfeindes und der Erzeugung kollektiver Identität wurde im Stile antisemitischer Denkmuster personifiziert, verschwörungstheoretisch argumentiert und mit Geldmetaphern agitiert. Die Rede war etwa von einer weltweit agierenden Finanzmacht, die nach traditionell antisemitischem Muster an der „Wallstreet“ lokalisiert wird. Die Staatspropaganda setzte dem guten „schaffenden Volk“ das böse „raffende Volk“ gegenüber und sprach von „feindlichen Agenten“, „entarteten Elementen“, „Schädlingen“, von „Volksfeinden“, die „zersetzen“ und deshalb „entlarvt“ und „ausgemerzt“ werden müssten. „Zionistische Organisationen“ wurden zu „Todfeinden des friedliebenden deutschen Volkes“ und der anderen „Volksdemokratien“ stilisiert.
Über den Internationalismus zum Nationalismus
Auch die Neue Linke in Westdeutschland opferte im Zuge einer einseitigen Identifikation mit dem „palästinensischen Volk“ nach 1967 ihre doch ursprünglich anationale Positionierung eines kosmopolitischen Internationalismus zugunsten eines Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Glorifizierung völkischer Befreiungsmythen ging einher mit einer unreflektierten Glorifizierung der Begriffe Nation, Staat, Volk. Spätestens diese nationalistische Ausrichtung markierte den völligen Ausstieg aus linker Geistesgeschichte. Die antizionistische Agitation wurde mit nationalen Elementen angereichert und erleichterte so die Adaption antisemitischer Strukturprinzipien. Der Antiimperialismus wurde zu einer Art Ersatznationalismus.
Dem Wunsch nach Entlastung, nach „deutscher Normalität“ leistete im Besonderen der Verkehrung von Tätern und Opfern Vorschub. In solchen Darstellungen, in denen die Palästinenser zu den „Opfern der Opfer“ und die Israelis zu Tätern, zu den „heutigen Nazis“ gemacht werden, äußert sich auch der Wunsch endlich ‚normal’ und unbelastet von der Geschichte des eigenen Kollektivs zu leben. Darüber hinaus muss eine solche Identifizierung Israels mit dem Nationalsozialismus als Legitimierung von Gewalt gegen Israel gesehen werden. Denn: Ist der Faschismus lokalisiert, muss er letztlich bekämpft werden.
Insofern zeigten sich im Antizionismus der Linken auch Strategien nationaler Entlastung, in dessen Verlauf nationale Herrschaftskategorien wie Nation oder Volk adaptiert wurden. Eine Universalisierung des Faschismusbegriffes und seine willkürliche Anwendung auf andere kapitalistische Staaten, exemplarisch etwa die Parole „USA-SS-SA“, relativierte nicht nur nationalsozialistische Verbrechen, sondern war auch, ob gewollt oder nicht, dem Bedürfnis nach einer Entlastung Deutschlands von der nationalsozialistischen Vergangenheit geschuldet.
Unter Anwendung der antiimperialistischen Schablone stilisierte die bundesrepublikanische Linke die Palästinenser zum „guten Volk“ und die Israelis bzw. der Zionismus wurde als imperialistisch klassifiziert und zum „Brückenkopf gegen die nationalen Befreiungsbewegungen“ erklärt. Folgt man dieser Logik, war es notwendig den Israelis den Charakter eines Volkes abzusprechen, da man ansonsten beiden Konfliktparteien das Recht auf nationale Selbstbestimmung hätte zugestehen müssen. Israel wurde folglich zu einem künstlichen Gebilde definiert und der Name Israel in Anführungszeichen gesetzt.
Geschichtslosigkeit der Linken
Grundvoraussetzung für die Akzeptanz antiimperialistischer Argumentationsfiguren der Neuen Linken am Ausgang der 1960er Jahre war u.a. eine völlige Geschichtslosigkeit. Denn die Linke konnte Israel nur dann das Existenzrecht absprechen, wenn sie die Notwendigkeit eines jüdischen Staates als Folge der nationalsozialistischen Verbrechen übersah. Die Linke ignorierte die historischen Umstände, die zur Notwendigkeit eines jüdischen Staates führten. Sie trennte Israel von Auschwitz, um den Zionismus weiterhin bekämpfen und die „Zerstörung des imperialistischen Brückenkopfes“ fordern zu können. Der Antizionismus nach Auschwitz argumentierte, als hätte es den Holocaust nie gegeben. Er zeigte sich besonders anfällig für antisemitische Tendenzen, da er sich nicht mehr gegen einen theoretischen Zionismus richtete, sondern gegen einen realexistierenden Staat, der aus dem grausamen Bewusstsein erwuchs, dass auch Assimilation und Integration der europäischen Juden den Ausbruch des Vernichtungsantisemitismus nicht verhindern konnten.
Diese Ignoranz vor der Geschichte wurde befeuert durch den Glauben, dass das Links- und das Nachgeborensein grundsätzlich von antisemitischen Tendenzen befreien würden. Die Linke glaubte dadurch, dass sie sich von den Verbrechen der Elterngeneration lossagte, völlig unschuldig und befreit in die Auseinandersetzung mit Israel gehen zu können. Dieses Gefühl der historischen Unschuld bei gleichzeitiger moralischer Überlegenheit erhöhte die Anfälligkeit für antisemitische Deutungsmuster. Aus dieser Haltung heraus resultiert dann der Glaube, die Linke könne den Zionismus so kritisieren, als hätte es den Holocaust nie gegeben. Sie klammerte die Shoah einfach aus, ging den einfachen Weg der Geschichte, der sie letztlich in die Geschichtslosigkeit trieb.
Ein Anfang ist gemacht
Und heute? Immer noch wird Israel Rassismus vorgeworfen, wird die israelische Politik mit Nationalsozialismus gleichgesetzt. Nach wie vor wird die antisemitische Agende terroristischer Organisationen Hamas oder Hisbollah verharmlost, wird zum Boykott gegen israelische Waren aufgerufen, wird Israel zum Aggressor und Palästinenser zum friedliebenden Volk erklärt.
Der Antizionismus war das verbindende Element, der gemeinsame Nenner innerhalb der 1968er Studentenbewegung und der sich in den 1970er Jahren herauskristallisierenden linksextremen Strömungen. Und auch heute scheint der wiedererstarkte Antizionismus in der Linkspartei als ein solcher Schulterschluss zu funktionieren. Wird innerhalb der Linken weiterhin eher strategisch verfahren und den Antizionisten nur halbherzig widersprochen, führt die Linkspartei eine Tradition fort, die sie näher an die alte DDR-SED Programmatik rückt, als es ihren sich als fortschrittliche Linke gerierenden Führungsgenossen recht sein kann.
Die Linkspartei wird sich nicht länger hinter einem Pluralismuspostulat verstecken und eine Rechtfertigungsstrategie verfolgen können, die die antizionistischen Entgleisungen einzelner Linksparteimitglieder als Meinungsvielfalt verharmlost. In einer demokratischen Partei darf es keinen grenzenlosen Pluralismus geben. Einige in der Partei scheinen dies erkannt zu haben. Ob dieser Erkenntnisansatz ausreicht, um in eine offene und seit langem notwendige Diskussion über den Antisemitismus der Linken zu treten, bleibt abzuwarten. Mit der geplanten Aufnahme der Anerkennung des Existenzrechtes Israels in das Grundsatzprogramm ist allenfalls ein Anfang gemacht.
Timo Stein ist Autor des Buches "Zwischen Antisemitismus und Israelkritik. Antizionismus in der deutschen Linken", das Im Juli 2011 im VS-Verlag erscheint.
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