() Professor Robert Spaemann
Wider die Totmacher
Eine Antwort auf den Essay von Julian Nida-Rümelin
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Wer ein Tabu bricht, hat zunächst einen argumentativen Vorsprung. Nicht nur Borniertheit, Dummheit und Unmündigkeit leben ja vom passiven, schweigenden, unreflektierten Einverständnis, auch die Fundamente der Humanität bedürfen der Verankerung in der Tiefe des Selbstverständlichen und der Fähigkeit zur schlichten Empörung, wo sie in Frage gestellt werden. „Wer sagt, man dürfe auch die eigene Mutter töten“, so schreibt Aristoteles, „hat nicht Argumente, sondern Zurechtweisung verdient.“ Zurechtweisung ist kein Argument. Der Zurechtgewiesene kann, wenn er insistiert, den Diskurs am Ende erzwingen und zum Nachdenken nötigen über die Gründe der Selbstverständlichkeit.
Es wäre ja etwas in einer menschlichen Zivilisation nicht in Ordnung, wenn der Satz „Das Leben eines neugeborenen Kindes ist weniger wert als das eines ausgewachsenen Schweins“ nicht – allem Nachdenken vorausgehend – einen Reflex des Abscheus hervorrufen würde. Der australische Tierschutzphilosoph und Ethiker Peter Singer, der diesen Satz in seiner „Praktischen Ethik“ niederschrieb, würde diesen Reflex als Ausdruck eines kruden „Speziezismus“, das heißt unreflektierter Parteilichkeit für die eigene Spezies abtun. Singer ist ein Vertreter der konsequenzialistischen Ethik, die annimmt, das Kriterium der Sittlichkeit einer Handlung bestünde in der Abwägung der Frage, ob die Gesamtheit ihrer Folgen wünschenswerter sei als die Gesamtheit der Folgen jeder möglichen alternativen Handlung. Gegen diese auch Utilitarismus genannte Auffassung sind immer wieder schwer wiegende Einwände erhoben worden, gerade im Zusammenhang mit dem Thema „aktive Sterbehilfe“. In seinem Essay „Leben und töten lassen“ (Cicero 06/2006) argumentiert Julian Nida-Rümelin gegen eine konsequenzialistische Rechtfertigung der „aktiven Sterbehilfe“, hält ihre Legalisierung aber aus moralischen Gründen für geboten, die er auf den von Thomas von Aquin ebenso wie von Kant formulierten Gedanken des Selbstzweckcharakters jedes einzelnen Menschen stützt. Dieser Selbstzweckcharakter führe zur unbedingten Respektierung der Autonomie, also der Selbstbestimmung jeder menschlichen Person. Nida-Rümelin sieht in der gewaltsamen Herbeiführung des eigenen Todes nun eine legitime Form der Verwirklichung dieser Autonomie. Im Gegensatz zu Kant, der es mit dem Selbstzweckcharakter des Menschen für unvereinbar hält, wenn sich der Selbstzweck, also das Subjekt personaler Freiheit selbst zum Verschwinden bringt, ist für Nida-Rümelin deshalb auch die „Tötung auf Verlangen“ eine Form der Achtung vor der personalen Autonomie dessen, der seine Tötung wünscht. Nida-Rümelin bemerkt, dass in dieser Frage zwischen Befürwortern und Gegnern der Euthanasie – wie ich diese Praktiken aktiver Sterbehilfe bezeichnen will – mehr agitiert als argumentiert wird. Das mag wohl sein. In existenziellen Fragen dieser Art kann wohl kaum sine ira et studio diskutiert werden. Auch Nida-Rümelin scheut sich ja nicht, gegen den Utilitarismus, wie ihn Singer vertritt, schweres rhetorisches Geschütz aufzufahren und zu schreiben: „Es markiert das Ende einer humanen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, wenn solche Abwägungen zulässig oder sogar geboten erscheinen“ – ein Satz, den ich allerdings auf jede Befürwortung der Euthanasie anwenden würde.
Ich werde deshalb im Folgenden meinen Widerstand gegen eine Legalisierung der „Tötung auf Verlangen“ noch einmal in größtmöglicher Kürze darlegen und dabei auch zu dem Autonomieargument Stellung nehmen. Dieses Argument ist alles andere als neu. Es wurde zum Beispiel in aller Ausführlichkeit in dem von Goebbels angeregten und sehr gut gemachten Euthanasiefilm „Ich klage an“ vorgebracht. Nicht jedes Argument ist schon deshalb falsch, weil die Nationalsozialisten es vorgebracht haben. Aber bei diesem Film ist die Tötung auf Verlangen offensichtlich die Einstiegsdroge für die massenhafte Tötung ohne Verlangen, die erst abgebrochen wurde, als der Bischof von Münster mit dramatischen Worten die Volksseele aufwiegelte.
Nida-Rümelin will jede Tötung ohne Verlangen, also die Tötung „im wohlverstandenen Interesse“ des zu Tötenden ausschließen. Aber die ganz reale Gefahr eines Übergangs von der Legalisierung der „Tötung auf Verlangen“ zur „Tötung ohne Verlangen“ kann heute niemand mehr ausschließen. In den Niederlanden beispielsweise wurde die Tötung auch ohne Verlangen, die man einige Jahre zuvor noch weit von sich wies, mittlerweile legalisiert. Das aber ist kein Zufall, vielmehr ist dieser Schritt die logische Folge aus dem ersten. Und zwar aus folgendem Grund: Dass es jedermanns Recht ist, seine Tötung zu verlangen und niemandes Recht, diesen Wunsch von außen zu beurteilen, diese Meinung vertritt tatsächlich zum Glück fast niemand. Auch Sterbehilfe-Advokat Nida-Rümelin unterscheidet mit Kant zwischen kommensurablem Wert und inkommensurabler Würde jedes Menschen. Es gibt aber für ihn gleichwohl lebensunwerte Existenz. Nur gilt für den Wert der meinigen: „Über diesen Wert verfüge ich ganz allein.“ Sollte dies ernst genommen werden, dann dürfte oder müsste sogar der Todeswunsch jedes erwachsenen, zurechnungsfähigen und informierten Menschen respektiert und exekutiert werden. Dieser Meinung ist in der Tat der „Kannibale von Rotenburg“, der ja, indem er seinen perversen Trieb befriedigte, zugleich den Wunsch des Opfers, eines Ingenieurs, erfüllte, also Tötung auf beiderseitiges Verlangen verübte. Die meisten Euthanasiebefürworter machen daher die Einschränkung, aktive Sterbehilfe dürfe nur gewährt werden, wenn die Gründe für den Todeswunsch „rational“ seien, was so viel heißt wie: nachvollziehbar von denjenigen, die diese Hilfe leisten sollen. Und als nachvollziehbar gilt vielen ausschließlich der Grund unheilbarer Krankheit oder großer Hinfälligkeit. Eine solche Einschränkung aber hat mit dem Prinzip der Autonomie, wie es Nida-Rümelin versteht, nichts zu tun. Sie widerspricht ihm vielmehr. Denn wenn das menschliche Leben, das heißt der Mensch für sich selbst überhaupt einen taxierbaren Wert hat, warum darf der Einzelne die Kriterien für die Selbstbewertung dann nicht auch selbst bestimmen? Warum soll der „Bilanzselbstmord“ eines intelligenten Menschen, wie er täglich an den Börsen dieser Welt geschieht, benachteiligt werden? Warum der Tod aus Liebeskummer? Warum macht sich der Arzt oder der Angehörige strafbar, wenn er hier nicht, statt behilflich zu sein, einschreitet? Man sagt, ein solcher Selbstmordkandidat sei oft später dankbar, wenn er an der Ausführung der Tat gehindert wurde. Aber was will man entgegnen, wenn er dem, der ihm dies vor Augen stellt, antwortet: „Ich weiß, dass die Zeit die Bewertung des eigenen Lebens ändert und auch bei mir ändern würde. Aber eben diese Abhängigkeit von der Zeit ist es, was ich verabscheue. Ich will als der sterben, der ich jetzt bin“?
Wenn die Selbstbestimmung über ihre eigene Möglichkeitsbedingung, das heißt über die Existenz gestellt wird, wie kann man dann jemandem vorschreiben, wie er das Verhältnis zu seinem Leben, also wie er sein gegenwärtiges Selbstverhältnis zu bestimmen hat? Und wer will, ohne Paternalismus zu verfallen, entscheiden, ob es irrational ist, die Glückssumme des Lebens prinzipiell für negativ zu halten? Wenn wir nicht davon ausgehen, dass Selbstmord immer irrational ist, wird jedes Rationalitätskriterium eines anderen zu unbegründbarer Bevormundung. Wenn es aber letzten Endes eben doch nicht auf die Selbstbestimmung als solche, sondern auf eine Rationalität des Todeswunsches ankommt, über die auch andere entscheiden können, warum sollen dann, werden manche Euthanasiebefürworter weiterfragen, nicht auch im Fall der Unfähigkeit des Todeskandidaten zur Selbstbestimmung andere in stellvertretender Wahrnehmung seines „wohlverstandenen Interesses“ über sein Leben entscheiden dürfen? Der Übergang von der Tötung auf Verlangen zur Vernichtung lebensunwerten Lebens ohne Verlangen ist damit geschaffen und gnade uns Gott, wenn wir den Verstand verlieren oder zu schwach werden, uns zu wehren!
Unsere Rechtsordnung statuiert eine Pflicht des Arztes und der Angehörigen, also der so genannten „Garanten“, im Fall von Selbstmord zu intervenieren. Diese Rechtsbestimmung geht von der Voraussetzung aus, dass die Selbstauslöschung eines Freiheitssubjekts als solche irrational und nicht ein legitimer Ausdruck von Freiheit ist. Sie unterstellt ein apriorisches Interesse jedes Menschen an der eigenen Existenz. Darum ist es auch nicht richtig, von einem Recht auf Selbstmord zu sprechen. Das Recht regelt das menschliche Zusammenleben. Die Handlung, mit welcher jemand aus dem Beziehungsnetz auszuscheiden sucht, das alles Lebendige miteinander verbindet, kann nicht mit den Maßen gemessen werden, die innerhalb dieses Netzes gelten. Sie ist weder erlaubt noch verboten. Sie bewegt sich außerhalb der Sphäre des Rechts. Alle Handlungen und Unterlassungen aber, die den Selbstmord eines Mitmenschen verhindern, fördern oder stellvertretend exekutieren, finden innerhalb dieses Beziehungsnetzes statt und unterliegen dessen Gesetzen. Vom rechtsfreien Raum der Selbsttötung führt daher kein Weg zu irgendeinem Recht, einen anderen zu töten oder von einem anderen getötet zu werden.
Die Missbilligung des Selbstmords in unserer Zivilisation ist keineswegs, wie immer wieder behauptet wird, nur jüdisch-christlichen Ursprungs. Sie entspricht vielmehr einer großen philosophischen Tradition, die von Sokrates über Spinoza, Kant bis zu Wittgenstein reicht. Der platonische Sokrates sieht im Leben eine Aufgabe, die wir uns nicht selbst gestellt haben und der wir uns nicht eigenmächtig entziehen dürfen. Der Sinn des Lebens ist offensichtlich so wenig von uns selbst gesetzt wie das Leben selbst, und er enthüllt sich uns deshalb auch nicht in irgendeinem Augenblick des Lebens vollständig. „Wenn der Selbstmord erlaubt ist, ist alles erlaubt“, heißt es deshalb bei Wittgenstein. Warum, das lesen wir am ehesten bei Kant. Für Kant ist der Selbstmord ein Akt der Selbstvergessenheit, mit welchem ein Mensch dokumentiert, dass er sich selbst nur noch als Mittel zur Erreichung und Erhaltung wünschenswerter Zustände versteht, als Mittel, das sich, wenn es versagt, selbst beiseite räumt.
Wir stehen aber zu unserem eigenen Leben, das die Bedingung jedes instrumentellen auf Zweck gerichteten Handelns ist, nicht nur in einem rein instrumentellen Verhältnis. Der Versuch, sich vom Leiden zu befreien, hat immer befreites Leben zum Ziel. Aber wer ist das Subjekt einer „Befreiung vom Leben“? In den meisten Fällen ist die Selbsttötung tatsächlich Ausdruck von extremer Schwäche und geminderter Zurechnungsfähigkeit. Wo sie als Ausdruck der Menschenwürde gilt, da ergibt sich unweigerlich eine verhängnisvolle Folge, die durch die Legalisierung aktiver Sterbehilfe noch verstärkt wird. Wo das Gesetz es erlaubt und die Sitte es billigt, sich zu töten oder sich töten zu lassen, da hat plötzlich der Alte, der Kranke, der Pflegebedürftige alle Mühen und Kosten der Entbehrungen zu verantworten, die seine Angehörigen, Pfleger und Mitbürger für ihn aufbringen müssen. Nicht Schicksal, Sitte und selbstverständliche Solidarität sind es mehr, die ihnen dieses Opfer abverlangen, sondern der Pflegebedürftige selbst ist es, der sie ihnen auferlegt, da er sie ja leicht davon befreien könnte. Er lässt andere dafür zahlen, dass er zu egoistisch und zu feige ist, den Platz zu räumen. Wer möchte unter solchen Umständen weiterleben? Aus dem Recht zum Selbstmord wird so unvermeidlich eine Pflicht.
Wenn etwas geeignet ist, dem Leidenden sein Leben als lebensunwert erscheinen zu lassen, dann ist es die Entsolidarisierung der Gesellschaft durch moralische Rehabilitierung des Selbstmords und durch Legalisierung der Tötung auf Verlangen, also durch den stillen Hinweis: „Bitte, da ist der Ausgang.“
Menschen sind nicht das, wofür die liberalen Individualisten sie halten: Wesen, die einsam, in souveräner Autonomie über ihr Leben und ihren Tod entscheiden und dabei auf professionelle Exekution dieser Entscheidung Anspruch erheben können. Personen existieren nur in der Mehrzahl, das heißt nur als Mitglieder einer universalen Personengemeinschaft. Was diese Gemeinschaft wesentlich konstituiert, ist die vorbehaltlose und an keine Vorbedingung geknüpfte Bejahung der Existenz eines jeden anderen bis zu deren natürlichen Ende, ja die Mitverantwortung für diese Existenz. In der Geschichte von Kain und Abel fragt Gott den Brudermörder: „Wo ist dein Bruder?“ Und Kain antwortet: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ Die Entsolidarisierung, die in dieser Antwort liegt, wird in dieser Geschichte als die Gesinnung des Mörders geschildert. Die Frage Gottes beschränkt sich nicht auf die Forderung, den Bruder am Leben zu lassen, sondern sie enthält die weitergehende Pflicht zu wissen, wo er ist. Die Frage appelliert an die fundamentale Solidarität, welche alle Menschen miteinander verbindet. Diese Sicht ist nicht schon deshalb in einer säkularen Gesellschaft irrelevant, weil sie in der Bibel steht. Eine säkulare Gesellschaft wird barbarisch, wenn sie auf alle Weisheitstraditionen der Menschheit verzichtet. Auch das Sterben ist noch ein Vorgang, der, wenngleich von der Natur verhängt, eingebettet ist in Riten menschlicher Solidarität. Wer sich eigenmächtig aus dieser Gemeinschaft entfernen will, muss das alleine tun. Anderen und gar Ärzten, deren Ethos sich definiert durch den Dienst am Leben, zuzumuten, bei dieser eigenmächtigen Entfernung behilflich zu sein, heißt, dieses Fundament aller Solidarität zu zerstören. Es heißt, dem anderen zuzumuten zu sagen: „Du sollst nicht mehr sein.“ Diese Zumutung ist eine Ungeheuerlichkeit. Die damit verbundene Zerstörung des Ethos muss sich unvermeidlich in Kürze gegen die Leidenden selbst kehren. Wir wissen heute, dass der Suizidwunsch in der weitaus größten Zahl der Fälle nicht die Folge körperlicher Beschwerden und extremer Schmerzen ist, sondern der Ausdruck einer Situation des Sich-Verlassen-Fühlen. Die Palliativmedizin hat inzwischen solche Fortschritte gemacht, dass in jedem Stadium der Krankheit die Schmerzen fast immer kontrollierbar sind und nicht die Unerträglichkeitsgrenze erreichen. Intensive Zuwendung verändert dann auch meistens den Suizidwunsch: das Bewusstsein, dass jemandem daran liegt, dass ich noch da bin. Der Arzt repräsentiert dem Patienten gegenüber die Bejahung seiner Existenz durch die Solidargemeinschaft der Lebenden, auch wenn er ihn nicht zum Leben zwingt. Gerade in Situationen seelischer Labilität ist das Bewusstsein katastrophal, der Arzt oder auch der Psychiater könnten auf meinen Wunsch spekulieren, mich aus dem Weg räumen zu lassen, und insgesamt darauf warten, diesen Wusch exekutieren zu können. Katastrophal ist schon der Gedanke, ich könne ihn überhaupt dazu bringen zu finden, ich solle nicht mehr sein.
Das Angebot des assistierten Selbstmordes wäre der infamste Ausweg, den die Gesellschaft sich ausdenken kann, um sich der Solidarität mit den Schwächsten zu entziehen – und der billigste. Der billigste Ausweg aber ist der, der in unserer durchökonomisierten Zivilisation mit Sicherheit am Ende gewählt wird, wenn er nicht durch Gesetz und Sitte so fest verriegelt bleibt, dass diejenigen, die seine Öffnung fordern, vollständig entmutigt werden. Die Erfahrung, die unser Land vor einem Jahrhundert mit diesem Ausweg gemacht hat, legitimiert und verpflichtet uns zu besonderer Entschiedenheit. Es gibt, wie schon Platon wusste, immer Grenzfälle, für die das Gesetz nicht gemacht ist und denen es nicht gerecht werden kann. Moraltheologen und Moralphilosophen stürzen sich heute mit einem verdächtigen Interesse auf solche Grenzfälle und konstruieren von ihnen ausgehend Forderungen für die Formulierung der Gesetze. Ausnahmen sollen nicht mehr als Bestätigung der Regel gelten, sondern die Regel aushebeln. So auch in diesem Fall. Aber wer wirklich einem Freund in einer Extremsituation auf eine Weise helfen möchte, die vom Gesetz nicht gedeckt ist, ohne damit die Schutzfunktionen des Gesetzes zu zerstören, der wird bereit sein, die vorgesehene Strafe auf sich zu nehmen, falls der Richter nicht in der Lage ist, seiner besonderen Situation Rechnung zu tragen. Er wird in dem Bewusstsein handeln, mit der Intention von Gesetz und Sitte im Tiefsten im Einklang zu stehen und als Ausnahme die Regel zu bestätigen. Das heißt übrigens nicht, dass das deutsche Gesetz bleiben kann, wie es ist. Es muss geändert werden. Die direkte Sterbehilfe, „Tötung auf Verlangen“, steht in Deutschland zwar – wie in fast allen Ländern der Welt – unter Strafe, und so wird es wohl fürs Erste auch bleiben. Was das deutsche Gesetz für Euthanasiebefürworter überall in der Welt attraktiv macht, ist die Tatsache, dass es die Beihilfe zum Selbstmord nicht bestraft. Das war bisher ohne große Bedeutung, obgleich es in einem seltsamen Widerspruch zur Hilfeleistung steht. So ist es erlaubt, einem Menschen Gift zu geben, mit dem er sich umbringen kann. Hat er es aber genommen und ist er inzwischen ohnmächtig, dann ist jeder Angehörige oder Arzt, also auch der, der ihm das Mittel gab, verpflichtet, für das Auspumpen seines Magens zu sorgen. Das ist offenbar nicht vernünftig.
Solange Selbstmord eine tolerierte, aber gesellschaftlich geächtete Handlung ist, bleibt das Problem der Beihilfe marginal. Im Zusammenhang mit der Euthanasiebewegung wird die deutsche Rechtsbestimmung jedoch zu einer gefährlichen Einbruchstelle.
Zu den objektiven Gründen für die Renaissance des Euthanasiegedankens gehören insbesondere die neuen Praktiken der Lebensverlängerung und die Explosion der Kosten des Gesundheitswesens. Der Widerstand gegen die Euthanasieversuchung kann seine Entschiedenheit nur rechtfertigen und durchhalten, wenn er diesen objektiven Faktoren Rechnung trägt und auf sie eine alternative Antwort gibt. Es ist ja wahr, dass das Sterben in unserem Land seit langem menschenunwürdig geworden ist. Es findet immer häufiger in Kliniken statt, also in Häusern, die eigentlich nicht für das Sterben, sondern für das Geheiltwerden da sind. In der Klinik wird naturgemäß ständig gegen den Tod gekämpft. Der Kampf endet zwar bei jedem Menschen schließlich mit Kapitulation, aber die Kapitulation geschieht oft viel zu spät. Nachdem kranke oder alte Menschen auf alle Art zum Leben gezwungen wurden, bleibt ihnen keine Zeit und kein angemessener Raum mehr, „das Zeitliche zu segnen“. Das Sterben degeneriert zum bloßen Verenden. Die Sterberituale verkümmern, Angehörige verdrücken sich, wenn es ernst wird. Die Folge all dessen ist, dass immer mehr Menschen sterben müssen, die in ihrem Leben niemals einen Sterbenden gesehen haben. Das ist ein ganz unnatürlicher Zustand und er fördert die stumme Angst vor dem Tod. „Aktive Sterbehilfe“ ist die Kehrseite jenes Aktivismus, der bis zum letzten Augenblick etwas „machen“ muss. Wenn man das Leben nicht mehr machen kann, muss der Tod gemacht werden. Die Patienten zum Beispiel, die im Herbst 1996 beim Obersten Bundesgericht der USA gegen den Staat New York auf Genehmigung der Euthanasie klagten, waren überhaupt nur noch am Leben, weil sie mit eigener Zustimmung apparativen Maßnahmen der Lebensverlängerung ausgesetzt waren.
Wer jeden Verzicht auf den Einsatz der äußersten Mittel als Tötung durch Unterlassen brandmarkt, der bereitet – und zwar oft absichtlich – den Weg für das aktive Umbringen. Die Hospizbewegung, nicht die Euthanasiebewegung ist die menschenwürdige Antwort auf unsere Situation. Wo Sterben nicht als Teil des Lebens verstanden und kultiviert wird, da beginnt die Zivilisation des Todes.
Robert Spaemann ist einer der renommiertesten Philosophen der Gegenwart. Seine letzte ausführliche Äußerung zum Thema Sterbehilfe stammt aus dem Sammelband „Sterben in Würde“ (Sinus Verlag, 2004)
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