- Wenn Wachstum arm macht
Am vergangenen Wochenende trafen sich Globalisierungskritiker zum Attac-Kongress „Jenseits des Wachstums?!“. Zwischen Hörsaal und veganer Linsensuppe – Cicero Online war dabei. Eine Reportage
Es ist warm im Hörsaal H3010 der Technischen Universität Berlin, die Luft verbraucht. Es riecht nach Gedanken, nach den Emissionen hitziger Diskussionen, dabei ist der Saal nur noch zu einem Drittel gefüllt. Die Karawane der Kongressteilnehmer, die hier eben noch über Rohstoffboom, Green New Deal und die Triebkräfte des Wachstums stritten, ist weitergezogen. Die Abendsonne strahlt flach durch eine verstaubte Fensterfront und taucht den vorderen Teil des Hörsaals in ein warmes Orange.
Auf dem Podium sitzt Rosa Koian. Sie spricht langsam. „Ich habe ungefähr 28 Stunden gebraucht, um nach Deutschland zu kommen“, erzählt sie. „Von Singapur nach Frankfurt bin ich in einem Flugzeug geflogen“, sagt sie ruhig, macht eine kurze Pause. „Und ich hatte Angst“, fügt sie dann hinzu. Ihre Stimme beginnt zu zittern. „Von Frankfurt aus bin ich zum zweiten Mal in meinem Leben mit dem Zug gefahren – und ich hatte Angst.“ Wieder hält Rosa inne. „Hier in Berlin hat mich ein Freund abgeholt, der meine Sprache spricht. Er hat mich herumgeführt, hat mir alles gezeigt. Noch mehr Züge und Busse, Architektur und Technik. Ich bin beindruckt. Für Deutschland funktioniert das. Doch es macht mir Angst – und ich möchte nach Hause.“ Die Frau mit dem runden Gesicht, der breiten Nase und dem kurzen, struppigen, schwarzen Haar spricht in einfachen Worten. Ihre Stimme scheint von einer urtümlichen Magie beherrscht.
Rosa Koian kommt aus Papua-Neuguinea und ist Gast beim Attac-Kongress „Jenseits des Wachstums!?“. Drei Tage lang widmeten sich die Globalisierungskritiker am vergangenen Wochenende ihrem Ziel einer ökologischen und sozial gerechten Welt sowie ihrer Vision eines guten Lebens. Die Widersprüche der Globalisierung werden aus Sicht von Attac immer drängender, die Fehlentwicklungen offenkundig. Eine geplatzte Hypothekenblase löst eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise aus, Banken und Konzerne werden mit Steuergeldern gerettet. Im Golf von Mexiko havariert ein Ölborturm. Der Unfall wird zur größten Öl-Katastrophe aller Zeiten, ein Jahr später ist BP-Chef Bob Dudley der am besten bezahlte Manager Europas. Vor den Küsten Japans bebt die Erde. Bilder von zerstörten Städten und rauchenden Atom-Reaktoren gehen um die Welt, Tepco-Chef Masataka Shimizu flüchtet vor seiner Verantwortung – erst in ein Krankenhaus und dann in den Ruhestand. Man muss kein Revoluzzer sein, um sagen zu können: Auf unserem blauen Planten läuft einiges verkehrt. Die meisten Kongressbesucher sind sich einig: Schuld daran sei vor allem das hemmungslose Streben nach wirtschaftlichem Wachstum. Die ewige Jagd nach materiellem Wohlstand müsse ein Ende haben.
Die Schattenseiten dieses Wettlaufs kennt Rosa Koian sehr genau. Ihre Heimat ist reich an Bodenschätzen. Auf der Suche nach Erdöl, Kupfer und Gold kommen Großkonzerne in den Tropenstaat und kaufen Land. Sie roden Wälder, um nach Erdöl zu bohren, schaffen riesige Agrarflächen, auf denen Palmen wachen, deren Öl zu Biosprit verarbeitet wird. „Wozu die Eile?“, fragt die zierliche Frau. Ihre Augen schimmern. „Warum müssen wir jetzt all die Schätze aus der Erde holen, warum denn alles gleich sofort?“
Mit ihrer Organisation Bismarck-Ramu-Group kämpft Rosa Koian für den Erhalt der Waldflächen. Noch ist der Großteil des Inselstaats im Besitz der Einheimischen; einfachen Urwald-Bewohner, die eine traditionelle Lebensweise pflegen. Nach westlichen Maßstäben sind diese Menschen arbeitslos. Und weil sie kein Einkommen haben – und damit weniger als einen Dollar am Tag verdienen – sind sie nach der Weltbank-Definition zudem arm. De Facto sind sie aber Grundbesitzer. „Geld und Öl machen uns nicht glücklich“, sagt Rosa. Die meisten Bewohner Papua-Neuguineas leben von dem, was sie selbst anbauen und jagen. Der Boden ist ihre Lebensgrundlage.
In Dollars gemessen ist Papua-Neuguinea bitter-arm. Der Rohstoff-Hunger der ersten Welt hingegen ist gewaltig – und eine massive Bedrohung für die Einheimischen und ihre traditionelle Lebensweise. Umso mehr Gold, Erd- oder Palmöl das Land exportiert, desto höher steigt das Bruttoinlandsprodukt. Einem solchen Wachstum steht der Urwald im Weg. Eine Rodung – ob nun für den Bergbau oder zum Anbau Mono-Kulturen – zerstört die Existenzgrundlage der Bevölkerung. Das Prinzip – umso größer der Kuchen ist, umso mehr gibt es zu verteilen – funktioniert hier nicht. Wächst das BIP von Papua-Neuguinea, dann wächst es auf Kosten der eigenen Bevölkerung und Natur. Beispiele wie dieses finden sich in Schwellen- und Entwicklungsländern auf dem gesamten Globus. Die Botschaft lautet: Wir tauschen unsere harte Währung gegen eure Rohstoffe und eure billige Arbeitskraft. Unser luxuriöser Lebensstil funktioniert nur auf Kosten eurer industriellen Unterentwicklung.
Als Medizin für Gemüt und Gewissen gibt es auf dem Attac-Kongress vegane Linsensuppe. Draußen, im grünen Hinterhof der Technischen Universität duftet es nach Knoblauch. Die Schlange ist lang, hinter dem umweltbewussten Rentner wartet die barfüßige Gender-Studentin mit Krauskopf und Ring durch die Nasenscheidewand; neben dem spanischen Austauschstudenten, das Gewerkschaftsmitglied. Die „Gerüchteküche“ serviert ihr Gericht umweltbewusst in Metallschüsseln. Gespeist wird vor allem auf dem Boden, nicht unbedingt aus Verbundenheit zur Mutter Erde, sondern weil der Kongress mit mehr als 2500 Gästen viel besser besucht ist, als die Veranstalter erwartet hatten. Kulinarisch ist das vegane Mahl auch für bekennende Fleischesser eine willkommene Abwechslung. Nach der Stärkung geht es wieder in die Schlange. Am Ende bekommen die Kongressteilnehmer jedoch keinen Nachschlag, sondern einen Schwamm zur Hand. Jeder spült sein dreckiges Geschirr selbst.
Sieht so die Welt jenseits des Wachstums aus? Man könnte sagen: so ungefähr. Dem Jetsetter, Burger-Gourmet, iPad-Fan und Starbucks-Junkie könnte es bei den Visionen des einen oder anderen Referenten kalt über den Rücken laufen. Die Schlagworte lauten: Selbstversorgung, Regionalisierung, Umverteilung und radikales Energiesparen. Ausbau der Gemeingüter, Arbeitszeitverkürzung und staatliches Grundeinkommen. Dass weltweiter Umweltschutz und globale Gerechtigkeit zusammengehören, ist Konsens. Bei der Auflistung der Probleme sind sich Kapitalismusgegner und Ökoaktivisten einig: Ein unendliches Wachstum ist mit einem räumlich begrenzten Planeten nicht zu machen. Auch ein Green New Deal kann kein ökonomisches Perpetuum Mobile versprechen. Der Streit zwischen Gemäßigten und Radikalen beginnt bei der Frage, ob der Markt gezügelt werden könne oder der Kapitalismus als Wirtschaftssystem grundsätzlich abzuschaffen sei. „Das sind die gleichen Debatten, die wir vor 30 Jahren geführt haben“, sagen einige ältere Kongressbesucher.
Papua-Neuguinea hat andere Probleme. „Wir opfern viel, damit die erste Welt ihr Öl bekommt“, sagt Rosa Koian. Egal, ob Bio-Sprit oder Erdöl, beides bedroht den Regenwald. „Wir denken sehr genau darüber nach, wer von den ‚grünen‘ Aktivitäten profitiert.“ Die Aktivistin und ihre Organisation stecken in einem Dilemma. Im Kampf für den Erhalt von Land und einem Leben, das nicht von ökonomischen Wachstumsbegriffen bestimmt ist, braucht sie Geld – als monetäre Munition für Lobbyarbeit und Gerichtsverhandlungen. Das einzige, was ihre Heimat der ersten Welt als Einnahmequelle zu bieten hat, sind jedoch Rohstoffe und Land. Auch Rosa Koian musste in ein Flugzeug steigen, um nach Europa zu kommen. Sie sagt: „ich fühle mich schuldig“.
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