- Was Steinbrück von Helmut Schmidt lernen kann
In wenigen Tagen wird Peer Steinbrück Kanzlerkandidat der SPD. Zurückzucken wird die Partei wohl nicht mehr. Trotz argen Gegenwinds
Nein, zurückzucken will die SPD nicht mehr, wohl oder übel wird sie in wenigen Tagen bei ihrem Parteitag Peer Steinbrück offiziell zu ihrem Kanzlerkandidaten küren. Auf seinen Schultern ruht dann die Verantwortung dafür, ob es gelingt, Angela Merkel wirklich abzulösen im Kanzleramt. Es sei ein „offenes Rennen“, wird er in Interviews zu beteuern nicht müde. Aber er weiß, dass es in den Medien geradezu Mode geworden ist, ihn zu jagen und möglichst zur Strecke zu bringen. Das Ausmaß der gedruckten Aggressionen ist schon bemerkenswert.
Unterstellen wir aber einmal, man stimme der Selbstbeweihräucherung der Kanzlerin nicht zu, diese Bundesregierung sei „die erfolgreichste Bundesregierung seit der Wiedervereinigung“, und man halte also eine potente Opposition mit einem politischen Alternativangebot für dringend notwendig – wie könnte man dahin kommen? Ich möchte mich hier nur einem Aspekt dabei zuwenden, nämlich der Frage, wie weit die Spitzenkandidaten im Vorfeld, aber auch die Kanzler im Amt, mit ihrer Partei übereinstimmen sollten oder wie weit es Sinn macht, wenn sie sich gegen ihre Partei profilieren.
Natürlich kommt, wenn man die Frage so stellt, spontan Helmut Schmidt in den Sinn, der vom deutschen Publikum inzwischen geradezu auf die Kanzel gestellt worden ist als eine Art ideellen Gesamtkunstwerks, der Politiker als weiser Mann, als Philosophenkönig, als Referenzgröße, Alleserklärer und Vorbild. Das war ja nicht immer so. Als Helmut Schmidt 1974 Willy Brandt im Kanzleramt nachfolgte, zögerlich übrigens, galt er als ein sozialdemokratischer Leitwolf, der viel von seinem Profil in ständigen Reibereien mit seiner eigenen Partei gewonnen hatte. „Der richtige Mann in der falschen Partei“, hieß die Formel dafür. Er ließ das gerne so stehen.
Ein bisschen klingt auch das Echo auf Steinbrück ähnlich, und das Image hat er lange Zeit nicht ungern gepflegt, seiner Partei die Leviten zu lesen. Ein Teil der anhaltenden Publikumsfaszination gründet exakt darin, immer noch blickt man außerhalb der politischen Klasse und der Journalisten-Welt durchaus gebannt auf diesen Kandidaten. Helmut Schmidt genoss auch im Kanzleramt bereits einen grandiosen Ruf als „Flutenbändiger“ und Krisenmanager par excellence, ja eben als eine Art überparteilicher Parteipolitiker, der das Ressentiment gegen Parteien im Allgemeinen und seine Partei im Besonderen blendend bediente. Man traute ihm das Kanzleramt zu, und er bewies mit links, dass seine Verehrer sich nicht geirrt hatten.
Die politische Pointe jedoch, die man nicht aus dem Auge verlieren sollte, besteht darin, dass ihm all diese Bewunderung, das Image der Überparteilichkeit nicht sonderlich nutzten. Ja, als einzigem deutschen Kanzler widerfuhr ihm, dass sich der Bonus, den er genoss, nicht auf seine Partei übertrug. 1976, zwei Jahre war er im Amt, und schon hätte ihn beinahe der junge Ministerpräsident aus Mainz, Helmut Kohl, aus dem Sattel geworfen. Ihre Fraktionsmehrheit im Bundestag büßten die Sozialdemokraten ohnehin ein. Vier Jahre darauf konnte sich der überaus populäre Kanzler Schmidt im Amt letztlich wohl nur behaupten, weil der unkontrollierbare Bayer Franz Josef Strauß von den Christdemokraten ins Rennen geschickt wurde. Aber die SPD stagnierte, das Kanzleramt brachte ihr keine Zugewinne. Wohl kann man argumentieren, ohne Schmidt wäre es noch dramatischer gekommen für sie, aber als gesichert gilt nur, dass das Regierungsamt in der Regel den Parteien des Amtsinhabers half, beim gleichsam überparteilichen Schmidt hingegen nicht.
Damit ist aber auch die Gratwanderung für Peer Steinbrück beschrieben. Als er – nach seiner informellen Nominierung – seine Partei um „Beinfreiheit“ ersuchte, hieß das übersetzt: er müsse auch er selbst bleiben dürfen. Auch seine Bemerkung zum Rentenalter-Kompromiss klang ähnlich – er müsse sich nicht revidieren, und beide Seiten könnten damit leben. Dabei schwingt immer mit, dass die Parteipolitik das eine ist, das für vernünftig Erkannte, das Wünschbare etwas ganz anderes.
Mit der Partei, heißt das, muss man sich notgedrungen arrangieren, aber letztlich ist sie auch hinderlich. Helmut Schmidt hat es ähnlich gehalten, aber noch weiter zugespitzt: In der Partei saßen, aus seiner Sicht, die „Gesinnungsethiker“, die ihm das Regierungsgeschäft erschwerten, von „Visionen“ geplagt wurden oder die Politik unerlaubt moralisierten, während es zum Regieren „Verantwortungsethiker“ brauche, Realpolitiker eben. Gehört hat das Publikum derlei zwar gerne, aber noch einmal: gewählt hat es ihn dennoch nur zögerlich. Schmidts Traum aber, dann auch die Parteiführung zu übernehmen, weil ein einziger das Heft in der Hand halten müsse, blieb unverwirklicht. Nicht nur, weil Willy Brandt es blockierte, sondern auch, wie ich glaube, weil Schmidt insgeheim ahnte, dass sich seine Partei so, wie er es sich ausmalte, in Wahrheit gar nicht führen lasse.
Übertragen auf Peer Steinbrück und das Wahljahr, heißt das: Am Grundprinzip unserer Parteiendemokratie wird sich nichts ändern, so verunsichert die Parteien in der wankenden Publikumsgunst auch wirken. Wie irritiert waren sie – nach dem Boom für die Linke - zuletzt vom Erfolg der „Piraten“, prompt wurde denen eine große, bundesweite Zukunft vorausgesagt, obwohl sie zu den allermeisten Schlüsselfragen der aktuellen Politik nichts beitragen können, ja nicht einmal beitragen wollen. Das Phänomen dürfte daher ebenso ephemer bleiben wie der Glaube, Politik werde sich künftig auf atemberaubend neue Weise „interaktiv“ abspielen, oder man müsse dem „Schwarm“ in den Blogs nur folgen, dann schäle sich schon heraus, was richtig und falsch, wichtig und irrelevant sei. Als könnte man sich in den komplexen Fragen von heute auf diese Erregungsdemokratie im Internet auch nur eine Minute verlassen.
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Nicht einmal die gepriesene und sympathische partizipative Demokratie nach dem Muster von „Stuttgart 21“ liefert in Wahrheit ein Zukunftsmodell: Herbeigezaubert hat sie nur, aber das immerhin, einen Machtwechsel im Ländle und einen grünen Ministerpräsidenten. Gestützt auf seine Partei und die Koalition mit den Sozialdemokraten, hat Winfried Kretschmann sich – bislang jedenfalls – blendend eingeübt in das Muster tradierten Regierens, und er baut dadurch von innen Ressentiments gegenüber der Parteipolitik und der Politikarena systematisch und sogar mit lockerer Hand und ironischem Unterton ab. Wundern jedenfalls würde ich mich nicht, wenn – bei allem Reiz am Spielerischem, Neuem, Informellen – wir uns augenblicklich sticcum verabschieden von den Träumereien des Interaktiven und graswurzelartig Partizipativen, also doch wieder landen bei den überlieferten Organisatoren der Politik, den soliden Parteien, und den demokratisch legitimierten Institutionen.
Aus dieser Arena kommt Steinbrück, aus ihr glaubte er schon ausgestiegen zu sein, als er seine vielen Vorträge hielt und Bücher schrieb für stolze Summen – nur behielt er dummerweise das Mandat. Der Rückschritt in diese Welt fiel holprig aus. Auch selbstverschuldet. Was aber derzeit passiert im Blätterwald, ist damit nicht zu erklären. Bild, Bild am Sonntag, Welt, FAZ, die Endlos-Talkshow-Schleife, sogar die SZ, in jedem Blatt und Sender finden sich Ausnahmestimmen, in der Regel aber wird der Kandidat niederkartäscht. Generell wird Peer nur noch gereimt auf Pleiten, Pech, Pannen. Selbst der Spiegel entdeckt dann eine „Testosteron-Falle“, weil er angeblich nur schillernde Berater um sich sammle, die sich schrecklich abheben von den „stillen Dienerinnen von Angela Merkel“.
Weit ist es von dieser Spiegel-Diagnose nicht mehr zum Selbstlob der Kanzlerin von der „besten Bundesregierung“ seit beinahe Menschengedenken. So, desinteressiert an politischen Fragen, aber auf der Suche nach populären Helden und ebenso populären Schurken, kann man wirklich alles nieder- und alles hochschreiben, Angela Merkel lässt sich dann aufbauschen zur Glücksmarie und Peer Steinbrück zum Pechvogel, und vom Ruhm beider möchte man gleichermaßen zehren.
Falls er die Nerven hat, das alles abzuwettern, muss er dann freilich erst mit der ernsthaften Arbeit beginnen: Mit seiner Partei, nicht mit Ressentiments gegen sie und auch nicht mit dem Bedienen überparteilicher Sehnsüchte, muss Steinbrück sich eine solide Plattform in der Sache verschaffen. Um eine Alternative zur Regierungspolitik geht es dabei vor allem. Zugleich aber, und das macht sein Dilemma aus, muss er ja „Ich“ bleiben. Helmut Kohl hat das für sich so gelöst, dass er sich als Kandidat und Parteivorsitzender zur Partei erklärte und die Regierung praktisch ins Kanzleramt einzog. Er war Parteienpolitik-Kanzler durch und durch.
Gerhard Schröder hat es kurz in der Doppelrolle versucht, Regierungschef und Parteichef, was schiefging, aber auch in den späteren Konflikten mit seiner Partei ging es nicht darum, von Vorbehalten zu zehren – er wollte nur, im Zweifel mit „basta!“, geordnet regieren. Angela Merkel identifiziert ihre Partei nicht mit Staat und Regierung, anders als Kohl, aber die gefügigen Christdemokraten kuschen, solange sie Erfolge verspricht. Als Partei sind sie unter der Merkel-Tarnkappe gänzlich verschwunden.
Peer Steinbrück bleibt nichts, als sich systematisch Respekt mit überzeugenden Politikangeboten und glaubwürdigen Personen zurückzuerobern. Gegen seine Partei kann Steinbrück nach Lage der Dinge nicht wirklich Terrain zurückerobern, es nützte ihm nichts, stiege sein Prestige – Helmut Schmidt wurde trotz Prestiges von denjenigen nicht gewählt, die klagten, er sei der richtige Mann in der falschen Partei.
Aber auch das, was er keineswegs aufgeben sollte, kann Steinbrück an Schmidt studieren. Wenn man der altersweisen Ikone aus Hamburg lauscht, glaubt man es nicht, aber es war so: Er betrachtete Politik lange als „eine Art Kampfsport“. Das hat Steinbrück – neben der Lust am Argumentativen – mit dem jungen Helmut Schmidt durchaus gemein. Wenn er sich das nicht austreiben lässt, könnte Kritik mit Glück irgendwann in Respekt umschlagen. Könnte! Das schreibende Gewerbe ist immerhin volatil.
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