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Machtdialektik - Warum Merkel keine Agenda verkündet hätte

Das größte sozialpolitische Reformprojekt der letzten Jahre hätte es unter Angela Merkel nicht gegeben. Warum? Weil in der Parteiendemokratie die Politik der soziale Härte jenen vergönnt ist, die sie in der Opposition beklagen

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Humorig-böse Zungen behaupten ja, die SPD unter Schröder hätte die Agenda 2010 nur eingeführt, damit sie heute gegen Niedriglohn und Altersarmut kämpfen kann. Die Agenda als in die Zukunft gelegtes Konjunkturprogramm für die Sozialdemokraten sozusagen. Wohl bekomm’s.

Auch, wenn in dieser Lesart mehr Pointe denn Analyse steckt, so zeigt sich darin doch ein immer wiederkehrendes Strukturmerkmal, ein Phänomen der Parteiendemokratie: Die Parteien streifen sich in politischer Verantwortung gern ein neues Gewand über, handeln in Regierungsverantwortung in der Regel entgegen zuvor proklamierter Prinzipientreue.

Erinnern wir uns: Rot-Grün stand vor der Kanzlerschaft Schröders für ein linkes Gesellschaftsmodell und Angela Merkel vertrat gegen Schröder die Rolle der neoliberalen eisernen Lady. Doch einmal in die Verantwortung gewählt, galt der Grundsatz, Grundsätze über Bord zu werfen.

Entsprechend wurden erst unter Rot-Grün Kriegseinsätze und Hartz-Gesetze möglich. Und entsprechend wurde die CDU unter Kanzlerin Merkel zur besseren sozialdemokratischen Partei, bemühte sogar Keynesianische Konjunkturpolitik wie die Abwrackprämie, schaffte den Atomausstieg und versetzt konservatives Urklientel in gesunder Regelmäßigkeit in Angst und Schrecken.

Im Fußball prägte der Schweizer Lucien Favre einst den Begriff der Polyvalenz. Er suchte Spieler, die auf allen Positionen nahezu ohne Qualitätsverlust gleichermaßen einsetzbar waren. Die Polyvalenz der Politik geht in der Theorie sogar noch über das Positionsspiel der eigenen Mannschaft hinaus. Denn mal ehrlich: Die Schröders, Clements und Schilys hätte ebenso gut unter dem Label CDU/FDP auflaufen können, die von der Leyens, Altmaiers und Merkels in der Sozialdemokratie Karriere machen können. Beliebigkeit gehört zur Spitzenpolitik wie die Täuschung zur Institution Ehe.

So ist es der politischen Linken vergönnt, nach gewonnener Wahl liberales Programmgut auf den Weg zu bringen und der Rechten ihr sozialdemokratisches Herz zu entdecken. Nicht nur, weil die Zentrifugalkräfte des Regierens die politischen Flügel brechen und die Regierung in die Mitte rücken lassen, sondern auch, weil bei Großprojekten wie Agenda oder Auslandseinsätzen, die Opposition über kurz oder lang mit ins Boot geholt werden muss. Fundamentalreformen verlangen zumindest nach einer informellen Großen Koalition.

Kurzum: Genauso wenig wie Angela Merkel eine Agenda politisch zu stemmen in der Lage wäre, genauso wenig hätte Kohl Kriegseinsätze auf den Weg bringen können. Schwer vorstellbar, dass Merkel, eine lässliche Opportunistin, die die Stimmungen in der Bevölkerung politisch geschickt zu absorbieren weis, den umfangreichsten sowie zugleich umstrittensten Umbau des Sozialstaates in der Geschichte des Landes hätte aussitzen können. Wohl auch, weil ihr bei der Umsetzung fundamentaler Reformen etwas Entscheidendes fehlt: die Fähigkeit, das Risiko der eigenen Abwahl einzugehen.

Seite 2: Wer Sozialdemokratie will, muss konservativ wählen und umgekehrt

Was also bleibt, ist politikmüder Zorn über „die da oben“ und das Gefühl, dass es ja sowieso egal sei, welcher Partei man seine Stimme gibt. Doch bei aller Wut ist Politik immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse. Politik macht im Kleinen vor, wie es der Gesellschaft im Großen und Ganzen geht. Macht verändert. Absolute Macht verändert absolut. Verantwortung lässt das eigene Handel nicht mehr nur aus der Theorie, sondern vor allem der Praxis schöpfen. Pragmatismus wird zum Ideal und Prinzipien fallen dem Kompromiss zum Opfer.

Ein besonderer Fall ist Europa. Europa macht Politiker ganz besonders milde. Dort werden aus Ewiggestrigen plötzlich blühende Europäer. Auch hier gilt das Marx’sche Diktum, nach dem das Sein das Bewusstsein bestimmt. Den Stoibers und Oettingers hat Europa ganz offensichtlich gut getan.

Insofern ist das Regieren wohl die schnellstmögliche Form des Erwachsenwerdens. Mit all seinen Begleiterscheinungen: Aus Vision wird Handwerk, das Kurzfristige obsiegt über das Langfristige. Aus Marx wird Markt, aus Kampf Kompromiss.

Die Neugierde, die einen hat hinaufsteigen lassen auf den Baum der Macht, wird, oben angekommen, von einer Angst abgelöst, selbige wieder abgeben zu müssen. Dort oben sitzen wir, die Kühnen, um die Welt zu sehen. Der große Rest aber, um gesehen zu werden, und aus Angst, das Gewonnene wieder eintauschen zu müssen.

Die nächste Generation steht bereit, um all das zu beklagen, angefeuert von jenen, die sich dem Spiel verweigern, es vorzeitig verlassen. Schulterzuckend bis empört regiert die neue Regierung dann auf die Kritik der Regierten. Doch auch diese Empörung hat seine Halbwertzeit, seine Legislatur, ist eine Empörung auf Zeit. Einmal in der Opposition, in den Schoß der Basis zurückgekehrt, ist all das vergessen, um mit neuem Schwung aus der jeweils linken oder rechten Deckung heraus die neuen Mächtigen zu beschießen.

Rot-Grün hat sich über die Agenda erschöpft und erholt sich jetzt mühsam, um neuen Anlauf zu nehmen. So erschöpft sich jede Generation auf die immer gleiche Weise an der Macht. Der Schriftsteller Bernhard Schlink schrieb nach Schröders erster Legislatur 2002: „Der Marsch in die Institutionen hatte Erfolg. Aber zum Marsch durch sie, zum Marsch zu einem Ziel hinter dem, was schon ist, reicht es nicht mehr.“ Doch: Es reicht nicht, weil es nicht reichen kann. Politik ist das, was ist, und nur in den seltensten Fällen das, was sein soll.

Am Ende steht für den Wähler die Erkenntnis über die asymmetrische Wahl: Wer Sozialdemokratie will, muss konservativ wählen und umgekehrt. Dumm nur, wenn tatsächlich einmal ein Politiker auf die Idee kommen sollte, das umzusetzen, was vor der Wahl versprochen wurde. Dann, ja, (und vielleicht nur dann) hat die Demokratie wirklich ein Glaubwürdigkeitsproblem.

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