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Wahlbeteiligung - Nichtwähler gefährden die Demokratie

Nichtwählen gilt mittlerweile als chic, Intellektuelle rechtfertigen sie als politische Notwehr. Entschuldigen muss sich nicht mehr der Nichtwähler, sondern der Wähler. Schluss damit! Eine Nichtwähler-Beschimpfung

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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Ja geht’s noch? Kaum ist die Wahlbeteiligung bei einer Landtagswahl mal wieder auf ein neues Rekordtief gesunken, melden sich wieder die Nichtwählerversteher zu Wort. Die Wahlkämpfe sind langweilig, die Parteien haben nichts zu bieten, ändern tut sich sowieso nichts, außer dem kleinen Koalitionspartner vielleicht. Da kann der Wähler schon zu der Überzeugung gelangen, die da oben machen sowieso, was sie wollen und können am Wahltag auch gleich zuhause bleiben.

Wähler hätten das Recht, unpolitisch zu sein, schreibt Hugo Müller-Vogg bei Cicero Online, sie hätten das Recht, das Wählen anderen zu überlassen. Sorgen macht sich der geschätzte Kollege keine, schließlich sei an einer niedrigen Wahlbeteiligung noch keine Demokratie zerbrochen.

Das Problem ist ein anderes. Nichtwählen ist mittlerweile chic. So wie es chic ist, Hosen zu tragen, die Löcher haben, oder statt einer Tageszeitung die Zeitschrift Landlust zu lesen. Und immer wieder finden sich Intellektuelle und Journalisten, die dem Zeitgeist Futter geben, mal über die „Politik ohne Volk“ klagen und gegen den Parteienstaat wettern (Gabor Steingart) oder sich nicht mehr mit dem kleineren Übel zufriedengeben wollen (Harald Welzer).

Wählen keine demokratische Selbstverständlichkeit mehr
 

Zugleich wird die Nichtwahl in den Rang eines Grundrechts erhoben und zu einem Akt der Rebellion stilisiert. Rechtfertigen muss sich plötzlich derjenige, der am Wahlsonntag sein Kreuz macht und nicht derjenige, der lieber an den See fährt. Rechtfertigen muss sich nicht derjenige, der motzend am Rande steht, sondern der, der sich in der Demokratie engagiert. Ganz nach dem Motto: „Entschuldigung, ich habe gewählt.“ 

Anders als vor vier Jahrzehnten ist die Teilnahme an einer Wahl keine demokratische Selbstverständlichkeit mehr, sondern sie gilt manchem Gelehrten im Gegenteil als ein Akt der Unterwerfung unter die Prinzipien der Postdemokratie. Wer wählen geht, so lautet der Tenor der intellektuellen Nichtwählerfraktion, akzeptiert, dass es im Grunde nur noch eine Partei gibt, die CDUCSUSPDFDPGRÜNELINKE-Partei. Es wird vermutlich nicht lange dauern, dann wird diese Partei in CDUCSUSPDGRÜNELINKEAFD umbenannt werden.

Die entscheidende Frage lautet am Ende: Cui bono? Wem nützt eine niedrige Wahlbeteiligung? Einfach lässt sich diese Frage nicht beantworten. Denn Nichtwählerstudien, die zuletzt erschienen sind, geben auf diese Frage keine eindeutige Antwort.

Zunächst einmal gibt es drei Gruppen von Nichtwählern. Es gibt erstens diejenigen, die sich von der Politik entfremdet haben und über keine Parteienbindung mehr verfügen, zweitens diejenigen, die den Parteien und der Politik einen Denkzettel verpassen wollen. Drittens gibt es eine kleinere Gruppe der Zufriedenen, die wenig an den Parteien und den herrschenden Verhältnissen auszusetzen haben.

Gefahr für die Demokratie
 

Zwar gibt es darüber hinaus Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen Bildung, Einkommen sowie der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und der Teilnahme an Wahlen herstellen. Aber es gibt auch Studien, die eine solche soziale Selektivität bei Wahlen nicht erkennen können. Es lässt sich also nicht eindeutig belegen, dass eine niedrige Wahlbeteiligung bestimmten Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel der Mittelschicht oder den Reichen, per se einen Vorteil oder mehr politischen Einfluss verschafft.

Wem nützt also eine niedrige Wahlbeteiligung? Einerseits nützt sie denjenigen, die wählen gehen, denn ihre Stimme ist dadurch mehr wert. Auch wenn dieser Vorteil, zugegeben, ziemlich abstrakt erscheint. Andererseits nützt diese gerade den etablierten Parteien, die viele Nichtwähler eigentlich abstrafen wollen. Denn sie werden zwar von weniger Menschen gewählt, erhalten jedoch genau soviel Mandate und genau soviel Macht wie bei einer hohen Wahlbeteiligung.

Zu einer besseren oder anderen Politik führt die niedrige Wahlbeteiligung hingegen nicht. Die etablierten Parteien können sehr gut damit leben. Wer tatsächlich eine andere Politik will, muss eine andere Partei wählen. Auswahl gibt es im bundesdeutschen Parteiensystem genug.

Allerdings ist eine niedrige Wahlbeteiligung darüber hinaus natürlich auch ein Indiz für Desintegrationsprozesse in einer demokratischen Gesellschaft, ein Indiz für den bröckelnden politischen Zusammenhalt und damit letztendlich doch eine Gefahr für die Demokratie. Die Nichtwählerversteher und die Nichtwählerapologeten, die leichtfertig die Nichtwahl zum Zeitgeist erheben, nehmen dies fahrlässig oder sogar vorsätzlich in Kauf. 

Lesen Sie hier, warum Nichtwählen ein Grundrecht ist. Von Hugo Müller-Vogg

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