Vorbild um den Preis der Lüge ?
Interview mit Margarete Mitscherlich
Ist mit Günter Grass ein moralisches Vorbild der Nachkriegszeit gestürzt?
Schon immer hat mich die geradezu lächerliche deutsche Sucht nach Vorbildern fasziniert. Als halber Dänin war mir das von jeher fremd, kulturhistorisch aber ist es leicht erklärbar. Deutschland ist nicht nur die verspätete Nation, es ist auch die verspätete Demokratie, wenn man einmal vom kläglich gescheiterten Zwischenspiel der Weimarer Republik absieht. Daher bestand hier immer ein extrem ausgeprägtes Bedürfnis nach Idealisierung ihrer politischen wie auch geistigen Führer, ein typisches Symptom für autoritär geprägte Gesellschaften.
Wie wurde Grass durch dieses politische Reizklima geprägt?
Grass wuchs auf in einer Zeit, in der man Hitler als gütige, anbetungswürdige, unfehlbare Vaterfigur verehrte, obwohl man wissen konnte, was wirklich geschah und es auch wusste. Die Fähigkeit, zwischen richtigen und falschen Werten zu unterscheiden, war verloren gegangen. Hitler wurde als Person in extremem Maße idealisiert, wie vorher schon der Deutsche Kaiser. Solche Helden „ohne Fehl und Tadel“ prägten fortan auch das ideale Selbstbild der einstmaligen Untertanen: Man gesteht sich also selbst keine Fehler mehr zu, auch wenn man um seine eigene Fehlbarkeit weiß.
Das bedeutet, auch Grass wollte – um den Preis der Lüge – ein Vorbild „ohne Fehl und Tadel“ sein?
Es war zumindest nicht sehr klug, sich derart als Vorbild zu inszenieren. Unbewusst versuchte er in der Tat, dem Ideal des „reinen Vorbilds“ zu entsprechen, und angesichts dieser unbewusst übernommenen Strategie wurde es offenbar immer schwieriger für ihn, die Wahrheit über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS preiszugeben. Und das, obwohl man ihn weder nach Sibirien geschickt noch sonst wie geächtet hätte. Es wäre absolut gefahrlos gewesen, darüber zu sprechen. Ich halte Günter Grass für sehr begabt – dass er weise ist, wage ich zu bezweifeln.
Hat er seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verdrängt?
Wenn man von „Verdrängung“ spricht, geht es in der Terminologie der Psychoanalyse bereits um ein Krankheitsbild. Das ist sicherlich nicht angebracht. Nach der totalen Niederlage 1945 de-realisierten die meisten Deutschen ihre Vergangenheit, sie wussten nach wie vor, was passiert war, aber sie schoben es einfach beiseite. In diesem etwas populäreren Sinne des Wortes kann man Grass durchaus Verdrängung attestieren – frei nach Nietzsche, der sagte: Wenn das Selbstwertgefühl vergessen will, dann gibt das Gedächtnis irgendwann nach.
Dabei hätte Grass bei einem reflektierten Umgang mit dieser biografischen Episode seine Integrität bewahren können…
Seine Integrität schon, aber eben nicht sein Selbstwertgefühl, das untrennbar mit dem Bild des idealisierten Helden verbunden ist. Er ist und bleibt ein idealbedürftiges Kind seiner Zeit – hinzu mag ein opportunistischer Zug kommen, denn spätestens bei seiner berühmten Bitburg-Rede hätte er sagen können: Auch ich gehörte damals zu dieser verführten Jugend. Aber Grass war zudem auch immer sehr rechthaberisch, wie ein überstrenger Lehrer. In dieser Angelegenheit erscheint es mir so, als sei er seinem eigenen Über-Ich ein strenger Lehrer gewesen, und offenbar hat er sich selbst verurteilt. Möglicherweise sehen wir in all dem eine Art von gespaltener Persönlichkeit, die sich selbst nicht erlaubt, fehlbar zu sein.
Was ging Ihnen als Erstes durch den Kopf, als Sie erfuhren, dass Günter Grass sich nach all den Jahren erst jetzt zur Mitgliedschaft in der Waffen-SS bekannte?
Meine erste Reaktion war, dass das eine tolle Reklame für sein neues Buch ist. Bisher war er ja dafür bekannt gewesen, dass er sein Lebtag gegen die Nazis angeschrieben hat und dass er die Traditionen analysierte, die zu Hitler führten. Er hatte sich von einem jugendlichen Nazi zu einem engagierten Aufklärer gewandelt, und in dieser Rolle überzeugte er, in dieser Rolle war er aber auch sattsam bekannt. Ich glaube kaum, dass sich viele Leser für seine Biografie interessiert hätten, wenn er jetzt nicht mit dieser „Enthüllung“ gekommen wäre.
Wie schätzen Sie seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS ein?
Die Tatsache, dass er sich zunächst für die U-Boot-Einheit gemeldet hatte, spricht für eine gewisse Ruhmsucht. Er wollte etwas Besonderes sein: Kein Wunder, so dachten viele damals, und Grass kam aus einer angepassten, linientreuen Umgebung und wollte den beengten kleinbürgerlichen Verhältnissen seiner Familie entkommen. Als er statt zur U-Boot-Staffel zur Waffen-SS eingezogen wurde, galt auch die als eine heroische Einheit, obwohl das bei Kriegsende offenbar nur noch ein elender Haufen war, keine elitäre Gemeinschaft mehr. Dass sich Grass dann aber gründlichst mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat, muss man anerkennen.
Stimmen Sie jenen Kritikern zu, die verlangen, dass Grass seinen Nobelpreis zurückgeben sollte?
Aber nein. Er hat diesen Preis nicht seiner Gesinnung wegen bekommen, sondern wegen seines Werks. Sehen Sie sich die Literaturgeschichte an: James Joyce und andere literarische Berühmtheiten waren auch nicht unfehlbar.
Sind die momentanen Reaktionen auf Günter Grass ein Zeichen dafür, dass die Aufarbeitung des Dritten Reichs noch lange nicht abgeschlossen ist?
Ich sage immer: Es waren nur zwölf Jahre, vor dem Szenario unserer europäischen Geschichte eine unglaublich kurze Zeit. Aber die Entwicklung zum deutschen Größenwahn begann viel früher, jene Mentalität, die sich in Sprüchen wie „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ äußerte. All das wirkt noch lange nach – auf einen Günter Grass und sein Selbstbild, sichtbar wird es jedoch auch in den Reaktionen auf ihn: Das Bedürfnis nach unbefleckten Helden ist immer noch da.
Das Gespräch führte Christine Eichel
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