- Zäher Bursche
Volker Bouffier bangt um sein Ministerpräsidentenamt. Aber was ist das schon nach dem, was er erlebt hat?
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So viel hat gefehlt. Volker Bouffier hält Daumen und Zeigefinger so nah aneinander, dass nur noch ein Haar dazwischenpasst. Der Ministerpräsident von Hessen sitzt in seiner Berliner Landesvertretung und lacht sein heiseres Raucher-Lachen. „So viel hat gefehlt, und es wäre aus gewesen.“
Es geht nicht um die knappen Wahlergebnisse, die ihn und Roland Koch in Hessen an die Regierung gebracht haben, nicht um die Umfragen, die meistens schlecht waren und jetzt, vor der Landtagswahl im September, für seine CDU nicht gerade beruhigend sind. Das Gespräch dreht sich auch nicht um die Skandale, die ihm nachgesagt und zum Teil auch nachgewiesen wurden, nicht um die Untersuchungsausschüsse, die er überstand.
Es geht um etwas, das nicht in den Archiven steht und worüber er auch überhaupt nicht gerne spricht: Um jenen Märztag des Jahres 1973, als er sich mit seinem Auto überschlug und sein Leben wirklich zwischen Daumen und Zeigefinger passte. Basketballer war er damals, 22 Jahre jung, er spielte beim deutschen Meister MTV Gießen, hatte sich sogar mit dem Gedanken getragen, Profispieler zu werden. Und dann das.
Auf dem Heimweg aus dem Skiurlaub ist es passiert, in Österreich. Seine Frau, die Großmutter und zwei Tanten saßen mit im Wagen, als er in der Nähe von Spittal einem Auto ausweichen musste, das ihm auf seiner Fahrspur entgegenkam. Er geriet auf den holprigen Randstreifen, nahm zwei oder drei kleine Bäume mit. Dann war da plötzlich eine Mauer. Mehr weiß er nicht.
Als er im Krankenhaus aufwacht, liegt er wie ein gepanzerter Riesenkäfer auf dem Rücken. Er kann sich weder zur Seite drehen noch Arme oder Beine bewegen, weil er von oben bis unten eingegipst ist. Es geht ihm wie dem Handlungsreisenden Gregor Samsa, der, wie Franz Kafka schrieb, aufwachte und sich „in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ fand. Der Befund der Ärzte ist deprimierend: Das linke Bein ist zerschmettert und wäre beinahe abgenommen worden. Es schmerzt noch immer. Der Rückspiegel des Autos hätte ihm fast den Kopf gespalten. Zwei Halswirbel sind angeknackst, der lebenswichtige Liquorkanal ist eingedrückt.
Selbst Freunde und politische Weggefährten wissen nur, dass es einmal „diesen Unfall“ gab. Aber kaum einer kennt die Details, die er nur zögernd preisgibt, weil die Erinnerung ihn belastet. Wie er später, als er endlich nach Deutschland gebracht worden war, in den Keller einer neurologischen Klinik geschoben wurde, wo mehrere Leute lagen, einige mit Gewichten am Kopf, andere mit dem Kopf nach unten aufgehängt. „Dich drehen sie gleich auch durch die Mangel“, sagte einer zu ihm.
So kam es. Schiere Folter. Rechts und links haben sie ihm kleine Löcher in den Kopf gebohrt, um ein 14 Kilogramm schweres Gewicht daran zu hängen, und dann musste er tagelang in der Schräglage bleiben, mit dem Gewicht am Kopf. Denn dieses Gewicht sollte seine gestauchten Wirbel auseinanderziehen.
Tag und Nacht Schmerzen und immer die Angst, nie mehr im Leben auf eigenen Füßen stehen zu können. Später haben die Ärzte den sechsten und den siebten Halswirbel miteinander verschweißt, um den Hals zu stabilisieren. Zwischendurch war er halbseitig gelähmt.
Zwei Jahre hat es gedauert, bis Volker Bouffier überhaupt wieder stehen und gehen konnte. Erst nur mit Krücken. Dann, nach vielen Monaten mühsamen, eisernen Trainings, endlich wieder ohne.
Dieser Mann, 61 Jahre alt, hat manche politische Schlacht geschlagen. Eine gefühlte Ewigkeit lang war er seit 1999 im Kabinett seines Freundes Roland Koch als Innenminister die Nummer zwei in Hessen, bis er 2010 selbst Ministerpräsident wurde. Gleich zu Beginn seiner Zeit als Innenminister musste er sich des Vorwurfs erwehren, als Rechtsanwalt in einem Scheidungsverfahren Parteienverrat begangen zu haben – er hatte zuerst den befreundeten Ehemann beraten und war danach Anwalt von dessen Frau. Und er machte keine gute Figur, faselte sogar etwas von einer toten Katze mit Schleife, die ihm nach Art der Mafia vor die Tür gelegt worden sei – alles erfunden, wie sich später herausstellte.
Dann soll er einer Staatsanwältin, deren Behörde den Fall untersuchte, einen lukrativen Posten angeboten haben – auch das kam heraus. So ging es weiter: Schlag auf Schlag. Der Mann, der mit dem Slogan angetreten war, als Hüter von „Law and Order“ durchzugreifen, geriet selbst immer wieder in Grauzonen. Er hat das alles überstanden. Weil Freunde zu ihm hielten, sagt er. Und weil er sich immer im Recht fühlte. Aber dies war es nicht allein. Volker Bouffier hat politisch überlebt, weil die Skandale ein Klacks waren im Vergleich zu dem, was er nach seinem Unfall durchgemacht hatte. Wer durch diese Hölle gegangen ist, den wirft nichts mehr um
„Wieder auf die Füße zu kommen“, sagt er rückblickend, „das war eigentlich die schwerste und größte Herausforderung in meinem Leben.“
Natürlich hat es ihm nach dem Unfall geholfen, dass sein Körper trainiert war. Er war in der Basketball A-Jugend des MTV Gießen zwar nicht der „Topscorer“, der immer die meisten Körbe wirft. Mit seinen 1,85 Meter, für einen Basketballer eher klein gewachsen, spielte er defensiv im Zentrum – und auf ihn war Verlass. „Der Volker“, sagt sein damaliger Mitspieler Roland Peters, „war ein zäher Bursche. Es war nicht einfach, an ihm vorbeizukommen.“ Auch sein damaliger Trainer Bernd Röder schätzt seine Talente: „Er war ein Kämpfer: robust, nicht filigran, ein toller Teamplayer. Vor allem hat er gelernt, in einer Mannschaft Siege zu erringen und Niederlagen zu verkraften.“
Robust, kämpferisch, mannschaftstauglich: Das sind die Eigenschaften, die ihm auch seine Parteifreunde in der CDU nachsagen. Als er wieder gehen konnte, hat Bouffier seine ganze Energie auf die Politik geworfen, so wie er vorher Sport getrieben hatte. Er war bereits eine große Nummer in der hessischen Jungen Union, als der sieben Jahre jüngere Roland Koch dazustieß. Bouffier war Landesvorsitzender, gehörte dem JU-Bundesvorstand an und war dabei, als 1979 während eines Fluges von Caracas nach Santiago de Chile hoch über den Wolken und mit viel Whiskey der legendäre „Andenpakt“ geschlossen wurde. Es war ein Männerbündnis, dessen Mitglieder einander schworen, sich gegenseitig beim Aufstieg nach oben nicht in die Quere zu kommen. Einige später berühmt gewordene CDU-Nachwuchspolitiker gehörten dazu: Matthias Wissmann, Günther Oettinger oder Friedbert Pflüger. Koch, der später einer ihrer Schwergewichte wurde, war erst durch Bouffier in den erlauchten Kreis aufgenommen worden.
Schon sein Vater, Robert Bouffier, 1944 in Stalingrad gefangen genommen und erst 1950 aus Russland heimgekehrt, war ein bekannter CDU-Lokalpolitiker, sein Großvater hatte 1945 die CDU in Gießen gegründet. „Wir waren ein politisches Haus, und Hessen war damals ein absolut rotes Land. Wer da die Fahne der CDU hochgehalten hat und schon gar im öffentlichen Dienst, der wusste, das kann das Ende der Karriere gewesen sein.“
Er lernte schon in jungen Jahren die Großen der CDU kennen: Konrad Adenauer durfte er im Wahlkampf 1957 als i‑Dötzchen einen Blumenstrauß überreichen, später Ludwig Erhard und Rainer Barzel die Hand schütteln. Aber: „Wir waren immer in der Opposition. Da wird man nicht übermütig.“
Wenn er mit seinen Mannschaftskameraden nach dem Training im Gasthaus „Zwibbel“ oder im Vereinshaus Bier trank, knobelte oder „Mäxchen“ spielte, ging es allerdings, wie sich Trainer Röder erinnert, „selten um Politik, sondern um Basketball“. Aber: „Man merkte schon, dass er sprachlich anders drauf war als wir“, sagt Mitspieler Peters. „Trotzdem hat er sich nie in den Vordergrund gespielt.“ Gelegentlich ging es wohl auch um die Mädels. Immerhin hat er seine Frau Ursel, die damals ebenfalls eine Basketballerin war, im Vereinshaus kennengelernt. Auch sie ist in der CDU und saß einige Jahre im Magistrat der Stadt. Die Söhne, Volker und Frederic, sind in der Jungen Union aktiv.
Als Volker Bouffier und seine Freunde von der Jungen Union anfingen, in Hessen CDU-Politik zu machen, fühlten sie sich von Gegnern umzingelt. „Wir hatten keine Referenten, keine Fahrer. Wir hatten nix. Wir wollten die Partei und die Welt verändern.“ Sie waren jung damals und ehrgeizig. Regelmäßig trafen sie sich in einem schmucklosen Hinterzimmer der Autobahnraststätte „Wetterau“ nördlich von Frankfurt an der A 5. Eine Art hessischer „Andenpakt“ war das, kurz „Tankstelle“ genannt – Franz Josef Jung, Karlheinz Weimar, Karin Wolff und Roland Koch gehörten dazu. Bouffier war ihr Anführer. Mitte der neunziger Jahre aber rückte er plötzlich klaglos in die zweite Reihe und machte dem Aufsteiger Koch Platz. Dann war es fast wieder wie früher beim Basketball: Bouffier machte den Brecher und Stopper im Mittelfeld, an dem so leicht keiner vorbeikam, und Koch den Topscorer, der die Körbe warf. So eroberten sie die Macht: in der Partei, im Land.
Seit Koch 2010 die Politik aufgegeben hat und an die Spitze des Bauunternehmens Bilfinger gewechselt ist, muss der Verteidiger Bouffier beweisen, dass auch er Körbe werfen kann. Am 22. September, zeitgleich mit der Bundestagswahl, entscheiden die Hessen bei der Landtagswahl über seine politische Zukunft. Die Umfragen verheißen nichts Gutes. Zwar hat sich die CDU nach den jüngsten Prognosen berappelt, während die SPD etwas absackte. Aber die Grünen könnten stark genug werden, um eine rot-grüne Mehrheit zu sichern. Dann ist da noch die FDP, die es auch erst einmal über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen muss. Es wird knapp.
Berlin. Beim Sommerfest im Garten der hessischen Landesvertretung sitzt Volker Bouffier, den sie „Bouffi“ nennen, mit der Bundeskanzlerin am Biertisch. Irgendwo unter den Gästen steht auch Thorsten Schäfer-Gümbel von der SPD herum, der seinen Job haben will. Aber „Bouffi“ ist der Hausherr. Er sitzt neben der Kanzlerin. Er sagt Angela zu ihr. Das Wetter ist herrlich. Bier und Wein fließen reichlich. Jetzt soll er etwas zu den schlechten Umfragen sagen. Der Mann mit dem immer noch vollen, aber inzwischen eisgrauen Haar tut so, als gäbe es die Zahlen nicht. Was für schlechte Umfragen? „Die CDU steigt, die SPD sinkt. Wir werden 40 Prozent plus x bekommen“, sagt er mit seiner tiefen, rauchigen Stimme. „Und die FDP kommt rein. Das reicht zum Regieren.“ Und wenn nicht? Wieder das etwas schiefe, typische Bouffier-Grinsen: „Damit beschäftige ich mich nicht.“
Ärgern würde er sich bestimmt und zwar fürchterlich. Aber zerbrechen würde er daran nicht.
Es gibt Wichtigeres in einem Leben, das schon mal zwischen Daumen und Zeigefinger gepasst hat.
Hinweis: Es handelt sich hierbei um eine bearbeitete Verfassung des Heftartikels
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