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Meinungsfreiheit? - Wo Thilo Sarrazin Recht hat

Kisslers Konter: Thilo Sarrazin kann sich vom harschen Medienecho auf sein neues Buch nur bestätigt fühlen. Die veröffentlichte Meinung ist links und mitunter freiheitsfeindlich. Eine Verteidigung

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Na bitte, läuft doch: Kaum ist das neue Werk des freien Publizisten Thilo Sarrazin erschienen, hagelt es Verrisse. Eine „narzisstische Kränkung“, heißt es mehrfach, spreche aus dem 400-Seiten-Wälzer, Sarrazin gebe einerseits die beleidigte Leberwurst und geriere sich andererseits als Herold einer „reaktionären Renaissance“. Er imitiere, was er angreife, die Verwechslung aller diskursiven Kategorien. Wieder einmal scheint ein Buch aus der Feder des ehemaligen Berliner Finanzsenators nicht hilfreich, nicht klug, nicht debattenwürdig. Das sei schon mit „Deutschland schafft sich ab“ und „Europa braucht den Euro nicht“ so gewesen.

Thilo Sarrazin äußert sich in „Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“ pikiert über das „Sprachbad“. So bezeichnen Berliner Bildungsverwalter die illusorische Hoffnung, türkische und arabische Migranten lernten Deutsch dadurch, dass sie im Alltag der deutschen Sprache ausgesetzt sind. Momentan badet der Autor im Sprachbad der Verrisse – bestätigen sie doch aufs Schönste seine These, er werde von der „linksliberalen Medienklasse“ abgelehnt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit sehe anders aus. Was nicht zuletzt die große Nachfrage nach seinen Büchern belege.

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So einfach liegen die Dinge nicht. Vieles gibt es an „Der neue Tugendterror“ auszusetzen, ohne dass verschwörungstheoretische Überlegungen ins Kraut schießen müssen. Ein eleganter Stilist wird Thilo Sarrazin nicht mehr. Die Lektüre ist nicht vergnügungssteuerpflichtig – wenngleich er sich bei der parodierenden Wiedergabe der 14 von ihm abgelehnten „Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart“ zu humoristischen Höhen aufschwingt. Das Kapitel über die Herleitung dieses „Tugendwahns“ aus dem jüdisch-christlichen Monotheismus käut indes überholte Ressentiments aus dem Arsenal des Kirchenkampfs wieder. Die Zahlenverliebtheit, der Materialismus, ja eine mitunter nihilistische Misanthropie sind öde und monoton. Über weite Strecken greift Thilo, der Trotzkopf, dem Empiriker Sarrazin in die Speichen. Dann stampft er mit den Füßen, schaut grimmig ins weite Rund und plärrt: Aber Recht hab‘ ich doch! Als wäre er ein ins Heidnische gewendeter Hans Küng.

Die meisten Journalisten sind eher links


Das alles ändert nichts an dem Umstand, dass der Kern seiner Beobachtungen stimmt. Tatsächlich beeinflusst die Weltanschauung der Journalisten die Art ihrer Berichterstattung. Wie sollte es anders sein? Und weil eben Journalisten mehrheitlich „sowohl links von der Bevölkerung als auch links von ihrem eigenen Publikum stehen“ – Sarrazin beruft sich auf die Erhebungen des Medienforschers Hans Mathias Kepplinger –, ist die veröffentlichte Meinung mit der öffentlichen Meinung nicht identisch. Die „Linkstendenz der Journalisten“ (präziser wäre: vieler Journalisten) trägt dazu bei, dass in Gesellschaft und Politik „insgesamt eine sachte, aber säkulare und anhaltende Bewegung nach links“ stattfindet. Der Blick auf den gegenwärtigen Bundestag, in dem letztlich nur sozialdemokratische und sozialistische Positionen vertreten sind, bestätigt den Befund.

Zutreffend identifiziert Sarrazin eine übersteigerte Gleichheitsideologie als den Kern linker Menschheitsbeglückungsphantasien, die auf dem Rücken der zu beglückenden Menschen ausgetragen werden. Sein Wahlspruch lautet „Vive la différence!“. Auch so schöpft er weit eher aus dem gedanklichen Reservoir der Postmoderne als aus den Beständen der Reaktion. Allen Gleichheitsaposteln sei mit Sarrazin in Stammbuch und Stammhirn geschrieben: „Die freie Entfaltung der Menschen führt immer zu Ungleichheit. Wo man aber Gleichheit haben will, muss die Freiheit sterben.“

Weite Teile der „sinnstiftenden Medienklasse“ erkaufen sich die Reinheit ihrer Lehre mit dem Verzicht auf Präzision und somit auf Professionalität. Ja, binnenmedialen Konformitätsdruck gibt es ebenso wie publizistische „Pseudorealität“. Sarrazin erinnert an die bestürzenden Gewalttaten im April 2013 in einigen schwedischen Städten. Diese wurden von deutschen Medien Jugendunruhen genannt, um zu bemänteln, dass sie „von jugendlichen Migranten aus arabischen Ländern“ ausgingen und darum „grundsätzliche Fragen zur schwedischen Einwanderungspolitik“ aufwarfen. Ähnliches ereignete sich wenig später in Berlin, wo „ein krimineller arabischer Großclan“ der Justiz auf der Nase herum tanzte, die „wirklichen Zusammenhänge“ sich aber nur indirekt aus der Berichterstattung erschlossen.

Es ist gut, wenn einer nachfragt


Sarrazins Plädoyer zugunsten von „mehr Leidenschaft für die Wirklichkeit“ mag etwas Wohlfeiles, Selbstbezügliches haben. Auch übersieht er die stetig wachsenden publizistischen Nischen dies- und jenseits des Internets. Aber der Zusammenhang von Medienmacht und Medienwirklichkeit, von Weltanschauung und Welterklärung ist evident. Der Freiheitsgedanke hat es in Deutschland auch deshalb so schwer, weil Wettbewerb in deutlich mehr Leitartikeln als Bedrohung und nicht als Chance angesehen wird. Die erprobte Wahrheit, dass noch immer „die besten Bedingungen für die Erziehung und das Aufwachsen von Kindern die traditionelle Ehe und Familie“ bieten, wird erst unter dem Trommelfeuer einer geschlechtergerechten Bewusstseinsindustrie zum Skandal. Und – auch da ist Sarrazin zuzustimmen – der Integration erweist niemand einen Dienst, der kritische Anfragen an den Islam von vornherein als rassistisch brandmarkt.

Allem Kalkül des Autors, das mit Händen zu greifen ist, zum Trotz: Es kann einer Gesellschaft nur guttun, wenn sie die Grundlagen ihrer Liberalität beständig hinterfragt. Wenn sie den „Meinungskorridor“ weitet und der Versuchung zum Blockwart an immer mehr Stellen widersteht. Wenn da einer ist, der nervt und quengelt und die Ruhe des vermeintlichen Einverständnisses stört, der mit den Zähnen knirscht und Anstoß nimmt und Anstoß erregt. Dem Staatsbürger Sarrazin ist dafür zu danken, trotz alledem, trotz alledem.

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