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(picture alliance) Der Fall Timoschenko sorgt für Aufregung – vor allem in Deutschland

Der Fall Timoschenko - Ist die Aufregung übertrieben?

In einem Punkt ist Deutschland bereits Europameister: in der Formulierung des politischen Protests. Nirgendwo wird über die Ukraine so heftig debattiert wie hierzulande. Ist die Aufregung übertrieben?

In einem Punkt ist Deutschland bereits Europameister: in der Formulierung des politischen Protests. Den Anfang hat Bundespräsident Joachim Gauck gemacht, indem er eine Reise zu einer Konferenz in die Ukraine absagte. Damit gab er den Anstoß zu weiterem Protest gegen die Inhaftierung der ehemaligen Regierungschefin Julia Timoschenko. Der reicht vom Aufruf an die Politik, nicht in die Ukraine zu reisen, über die Verlegung der Fußball-EM bis hin zur Absage und dem Fanboykott des Turniers. Jetzt aber mahnen erste Politiker zur Mäßigung.

Wer ruft zur Zurückhaltung auf?

Der Bundesregierung geht der anschwellende Chor der Empörung inzwischen zu weit. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) versuchte am Mittwoch den Eindruck zu zerstreuen, die deutsche Politik habe sich schon festgelegt. „Ich rate dazu, dass wir uns um das Schicksal von Frau Timoschenko kümmern und Entscheidungen erst treffen, wenn sie anstehen“, sagte er. Er sei sich mit der Kanzlerin einig, dass in der Angelegenheit „keine unbedachten Entscheidungen“ gefällt werden dürften. Westerwelle mahnte, es sei jetzt nicht sinnvoll, „über Reisepläne in sechs Wochen“ zu reden. Vielmehr müssten Wege gesucht werden, Timoschenko zu helfen. Deshalb dürfe der Gesprächsfaden mit Kiew nicht abreißen. Hintergrund ist offenbar die Befürchtung, dass die Regierung in Kiew ihren Umgang mit der Opposition und mit Timoschenko erst recht nicht überdenken würde, wenn sie zu dem Schluss käme, Deutschland betreibe einen Totalboykott der Spiele.

Auch die Vorsitzende des Bundestags-Sportausschusses, Dagmar Freitag (SPD), sieht in der Diskussion um einen sportlichen Boykott oder eine Verlegung des Turniers nach Deutschland ein Problem. „Die Diskussion, die Spiele nach Deutschland zu verlegen, halte ich – ganz abgesehen von den organisatorischen Problemen – für kontraproduktiv und kein gutes Signal, das dadurch an unsere Nachbarländer gesendet wird. Es geht nicht um Deutschland, sondern um die Ukraine“, sagte sie dem Tagesspiegel.

Der Vorsitzende des EU-Ausschusses des Deutschen Bundestags, Gunther Krichbaum (CDU), sagt zwar auch, dass es eine Balance in der Kritik geben müsse, aber: „Es ist notwendig, dass jetzt der Druck auf die Ukraine steigt.“ Auch unter Timoschenko sei die Ukraine keine perfekte Demokratie gewesen. Aber sie habe ein Anrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren und medizinische Versorgung – und beides werde ihr verweigert. „Was hier passiert ist Rachejustiz.“

Schon jetzt sei der ganze Vorfall ein „diplomatisches Fiasko“. „Ich halte es für angemessen, zu prüfen, ob man nicht das Finale von Kiew nach Warschau verlegen könnte. Das wäre ein Rückschlag für das diktatorische Regime um Viktor Janukowitsch.“ Krichbaum findet nicht, dass es eine rein deutsche Debatte sei, doch er sagt: „Der europäische Chor muss zu hören sein, nicht das deutsche Solo.“

Wie reagieren andere europäische Länder?

Die Engländer haben derzeit andere Sorgen als die Ukraine. Sie haben erst mal einen Trainer gesucht, der das Team coacht. Am Dienstag haben sie dann mit Roy Hodgson einen gefunden, und jetzt bestimmt dieser die Debatte. Was den möglichen Boykott angeht, war im Außenministerium in London erst nach mehrmaligem Nachfragen eine kurze Stellungnahme zu bekommen: „Wir behalten die Situation im Auge, in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern.“

In Frankreich ist ein Boykott der Fußball-EM ebenfalls kein großes Thema. Alle Blicke sind auf die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen am Sonntag gerichtet und damit auf die Innenpolitik. Die außenpolitischen Ereignisse sind derzeit Nebensache. Frankreichs Medien schreiben über die Behandlung Timoschenkos, allerdings eher am Rande. Meist wird über die Haltung von EU-Politikern und Deutschland zur Ukraine berichtet – aber kaum kommentiert.

Einzig die Österreicher wollen Ernst machen und keine Mitglieder der Regierung zur EM schicken. Nur sind die Österreicher auch gar nicht qualifiziert.

Ist die Ukraine ein Einzelfall?

Nein. Eine ähnliche Problematik stellt sich auch bei anderen internationalen Großveranstaltungen in Ländern, die wegen ihrer Menschenrechtspolitik in der Kritik stehen. So ist die Regierung Aserbaidschans massiv verärgert darüber, dass deutsche Medien im Vorfeld des Eurovision Song Contest in Baku am 26. Mai Missstände thematisieren. Von einer „Kampagne voll von Verleumdungen und Täuschungen“ spricht die Berliner Botschaft des Landes. Noch weit rigoroser als Baku geht der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko gegen die Opposition in seinem Land vor, in dem 2014 die Eishockey-Weltmeisterschaft stattfindet. Die FDP-Außenpolitikerin Birgit Homburger warnt davor, während des Turniers „einen völlig undemokratischen Herrscher“ zu unterstützen. Von Boykottaufrufen hält die Liberale dennoch nichts. Diese würden meist nicht nur „den Veranstaltungen schaden und nur wenig bringen“, sondern kämen meist auch zu spät. Homburgers Rat: die Menschenrechtssituation schon zum Thema machen, bevor die Entscheidung über den Austragungsort fällt.

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