- Eine Partei in Angsttherapie
Die Jusos haben den großkoalitionären Plänen am Wochenende in Franken eine Watschn verpasst, während sich bei den älteren SPD-Mitgliedern eine recht einmütige Zustimmung abzeichnet. Gibt es einen Generationenkonflikt in der Partei? Beobachtungen an der Basis
Erwartungsfroh schaut Ullrich Loh in die Runde. Er rutscht auf seinem Sitz umher, lehnt sich nach vorn, kneift die Augen zusammen. Dann setzt er an: Ob man nicht mal eine Probeabstimmung zum Koalitionsvertrag durchführen wolle, fragt der SPD-Ortsvorsteher.
Donnerstagabend. Es ist stürmisch in Wetzlar-Dutenhofen, Hessen. Draußen jagt Orkan Xaver Schneeböen durchs Dorf. Drinnen im Raucherclub ist die Luft rein. Niemand quarzt, stattdessen sollen Plastikgestecke mit Tannengrün und Kunstrosen für Adventsstimmung sorgen. 14 SPD-Mitglieder beugen sich konzentriert über A4-Zettel: fünf Seiten Analyse zu den Bundes- und Landtagswahlen. Zahlen, Prozente und Tabellen, handgeschrieben und liebevoll koloriert auf Kästchenpapier. Der Ortsverein der Partei trifft sich zum ersten Mal seit den Wahlen am 22. September. Es geht um die eigenen Fehler – und darum, was das für das SPD-Mitgliedervotum bedeutet.
Ullrich Loh, grau meliertes Haar, eckige Brille, hat kein Glück: Zwei wollen nicht mitmachen. Sie wollen ihre Entscheidung, ob sie den Koalitionsvertrag befürworten oder ablehnen, lieber geheim halten. Loh, seit 1979 Ortsvorsteher und damit der dienstälteste in Wetzlar, hätte so gerne gewusst, wie die Seinen abstimmen. Auch für den Unterbezirk Lahn-Dill hätte es ihn ja gereizt.
Knapp die Hälfte der Mitglieder haben schon abgestimmt
Das ist das Dilemma der SPD. Die Zukunft Deutschlands liegt in den Händen ihrer knapp 475.000 Parteimitglieder, bis Donnerstag nimmt der Vorstand noch Wahlbriefe entgegen. Am Samstag soll das Ergebnis verkündet werden. Doch wie die Basis abstimmt, ist unklar. Meinungsumfragen sind nicht repräsentativ, auch Stimmungsbilder auf den Regionalkonferenzen und Ortsvereinstreffen taugen nicht für eine Prognose. Nicht einmal jedes zehnte Parteimitglied nimmt an einer dieser Veranstaltungen teil.
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Immerhin: Die Beteiligung am Mitgliederentscheid ist enorm. Bis Freitagmittag gingen knapp 200.000 Wahlunterlagen bei der SPD ein, teilte Generalsekretärin Andrea Nahles mit. Damit ist das nötige Quorum von 20 Prozent klar übertroffen.
Ullrich Loh hatte seinen Wahlbrief vor anderthalb Wochen erhalten. Direkt nach der Bundestagswahl war er noch gegen die Große Koalition gewesen. Doch dann änderte er seine Meinung: Um 11 Uhr öffnete er den Umschlag, um halb 12 schickte er den Brief wieder ab. Dazwischen hatte er sein Kreuzchen bei „Ja“ gesetzt.
Im Dutenhofener Wirtshaus erklärt er, warum: „Die SPD-Verhandler haben sich tapfer geschlagen.“ Loh sagt, er habe „für die Zukunft der Sozialdemokratie gestimmt, nicht für einen Koalitionsvertrag“. Denn dieses Papier könne im konkreten Regierungshandeln – wenn es um die Eurokrise oder Kriegseinsätze gehe – ohnehin schnell wieder obsolet werden.
Keine „politische Liebesheirat“, sagt Gabriel
Nicht nur Loh, auch die Bundestagsabgeordnete Dagmar Schmidt, die hier um die Ecke wohnt, wirbt für eine Zustimmung beim Entscheid. Und das durchaus geschickt, indem sie die Bedenken der Basis vorwegnimmt: Über das Regierungsbündnis sei sie „nicht himmelhochjauchzend. Aber ich glaube trotzdem, dass die Große Koalition die beste von allen schlechten Varianten ist, die man unter den gegebenen Umständen bekommen kann.“
Es ist die Taktik von SPD-Parteichef Sigmar Gabriel: Schwarz-Rot sei keine „politische Liebesheirat“, sondern eine „Koalition der nüchternen Vernunft“, sagt er immer wieder bei seinen Auftritten.
Schmidt, die Mitglied im Bundesvorstand ist, sieht ihre Themen Arbeit, Soziales und Wirtschaft im Koalitionsvertrag gut abgedeckt: Der Mindestlohn sei natürlich eine große Leistung. Auch die Rente mit 63, die Verbesserungen bei der Teilzeitarbeit, der Elternzeit, der Erwerbsminderungsrente und der doppelten Staatsbürgerschaft „helfen konkret“. Die Kommunen würden entlastet und die Eingliederungshilfe für Behinderte komme. Sie ballt die Hand zur Faust. „Das war alles hart erkämpft.“
Die junge Schriftführerin des SPD-Vereins sagt, das sei aber alles „schwammig formuliert“, insbesondere die Beschlüsse zur Leiharbeit. Und überhaupt: „Wie soll das alles finanziert werden?“ Dagmar Schmidt räumt ein, bei Werkverträgen und Leiharbeit hätte man sich deutlich mehr gewünscht. „Und wo das Geld herkommt, da bin ich auch mal gespannt“, sagt die Vorstandsvertreterin, „Herr Schäuble hat ja noch 23 Milliarden Euro im Haushalt gefunden. Ich bin diejenige, die gerne das Finanzministerium für die SPD hätte.“
Trotzdem, sagt die junge Basis-Frau, sie habe „Bauchschmerzen“.
Rebellion bei den Jusos
Es sind vor allem die Jüngeren, die gegen das schwarz-rote Bündnis rebellieren. Die Jugendorganisation der Partei (Jusos) hatte sich auf ihrem Bundeskongress am Samstag in Nürnberg gegen die Große Koalition ausgesprochen. „Zukunft gestalten geht anders!“, hieß der entsprechende Antrag. Ein „echter Politikwechsel“ werde mit dem Koalitionsvertrag nicht umgesetzt, sagte die neu gewählte Juso-Bundesvorsitzende Johanna Uekermann.
Die zwei Jusos in der Kneipe in Wetzlar-Dutenhofen haben ihre Bedenken allerdings zur Seite gestellt: Jan und Julia Polzer, 23, Zwillinge. Beide haben mit Ja gestimmt. Sie wollen vor allem Schwarz-Grün verhindern – eine Konstellation, die im Land Hessen mit den Koalitionsverhandlungen in Reichweite rückt.
Vielleicht liegt es aber auch ein bisschen daran, dass auf dem Land andere Themen wichtig sind als in der Stadt. Der netzpolitische Sprecher der Berliner SPD, Yannick Haan, kritisiert vor allem die Pläne der Koalition, die Vorratsdatenspeicherung schnellstmöglich einzuführen: „In den letzten Monaten hat die NSA-Affäre das politische Berlin in Atem gehalten. Doch wenn es um die eigene Überwachung der Bürger geht, scheint das alles vergessen zu sein“, schreibt er Cicero Online. Und auch in Sachen Klimaschutz sei dieser Vertrag eher ein Rückschritt.
Das Thema Datenschutz kommt in der Dutenhofener Kneipe gar nicht erst zur Sprache. Netzpolitik ist in einem Ortsverein, der Tabellen mit der Hand abschreiben lässt, sicher nicht die größte Sorge.
Auch in der CDU sind es die Nachwuchspolitiker, die vor der Großen Koalition warnen: Sie kritisieren insbesondere die Rentenpläne. „Statt Sozialleistungen auszubauen, gilt es vor allem in Bildung, Forschung, Vorsorge und Infrastruktur zu investieren“, heißt es in einem Aufruf von 54 jüngeren CDU-Abgeordneten aus Bund und Ländern.
40 Kilometer nördlich von Wetzlar-Dutenhofen, im hessischen Dillenburg, sind es genau diese Rentenpläne, die bei der SPD-Basis gut ankommen. Der Ortsvorsitzende Thomas Seibel nennt die Rente mit 63 ein „saugutes Argument“ für ein Ja beim Mitgliederentscheid.
Freitagabend, auf dem Berg thront die Dillenburg, darunter glänzen riesige Sterne. Majestätische Weihnachtsbeleuchtung. Der ganze Ort ist eine Ode an das niederländische Königshaus, ein Freiluftmuseum der Oranier und des Hauses Nassau.
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Der SPD-Ortsverein tagt in einem grauen Betonklotz, von dem der Rost tropft. Die Stadthalle. Drinnen ein langer Seminarraum, die Tische in U-Form, vorne läuft eine Power-Point-Präsentation. Es gibt Mineralwasser, Saft und Flaschenpils. Stellvertreter Horst Pfeifer, der einen blauen Schal um den Hals trägt, hat eindeutig zu viele Getränkekästen mitgebracht. Von 240 Mitgliedern im SPD-Stadtverband sind nur 14 erschienen. Sie sind alle ziemlich grau, ziemlich alt. Und ziemlich engagiert. Die einen von ihnen haben ohnehin schon abgestimmt, die anderen waren schon zu Wochenbeginn auf einer Unterbezirksversammlung zum Mitgliederentscheid.
Mindestlohn von 11 Euro?
Eine Zeit lang war mal spekuliert worden, ob sich nun viele Gegner der Großen Koalition in die SPD einschleichen. Ein CDU-Mann hat sich den Spaß sogar erlaubt: Der 21-jährige Geschichtsstudent Till Warning aus Göttingen füllte den Aufnahmeantrag unter falschem Namen aus. Tatsächlich erhielt er das Parteibuch und die Wahlunterlagen zum Mitgliederentscheid. Dort wolle er mit „Nein“ stimmen, kündigte er in einem Zeitungsartikel an.
Doch in der Stadthalle Dillenburg gibt es eigentlich nur einen GroKo-Gegner: Heinz Hermann, grauhaarig, Khaki-Jacke. Ihm gehe die Koalitionsvereinbarung bei der Rente nicht weit genug. Steuererhöhungen hätten es sein müssen, und eigentlich auch 11 Euro Mindestlohn. „Mit diesem Vertrag haben wir die Umverteilung des Reichtums nicht angefangen. Die Menschen werden bald gar nicht mehr von ihrer Rente leben können.“
„Das ist jetzt nicht fair“, ruft eine, schließlich habe er zuvor noch für die Rentenpläne gekämpft. Hermann geht dazwischen. „Hör doch mal bitte zu!“, fährt ein anderes Parteimitglied dazwischen. Zum ersten Mal entsteht so etwas wie ein Streit. Ortsvorsteher Seibel muss zur Ordnung rufen.
„Es wird Zeit, dass wir den Merkel-Komplex ablegen“
Horst Pfeifer mahnt die Genossen: „Wenn wir jetzt mit Nein stimmen, dann mache ich mir ganz, ganz große Sorgen um die SPD. Wenn es Neuwahlen gibt, wird sich manch einer noch umgucken.“
Diese Besorgnis hat wohl auch so manchen Rebellen in den eigenen Reihen umkippen lassen: die SPD-Basis an der Ruhr. Ihr Anführer ist Dortmunds SPD-Chef Franz-Josef Drabig, widerborstiger Vorsitzender des größten SPD-Unterbezirks Deutschlands. Zunächst hatten er und seine Getreuen sich gegen ein schwarz-rotes Bündnis gestemmt. Die Skepsis war wirkmächtig: Selbst NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft schmollte, als es in die Verhandlungen mit der Union ging. Dann änderte Kraft ihre Meinung. Jetzt will auch Drabig zustimmen, wie die Westdeutsche Allgemeine Zeitung berichtet.
Vielleicht ist das, was die SPD gerade durchmacht, eine Art Angsttherapie. Sie sitzt bei sich auf der Couch, hört sich selbst zu, fasst sich an den Händen, versetzt sich und das Land in politische Hypnose. Die sozialdemokratische Phobie, sie trägt Hosenanzug, mag Kartoffelsuppe und hört auf das Wort „Mutti“; es ist die schwarze Witwe, die reihenweise Partner frisst.
Ja, anfangs habe er auch noch schlimme Angst vor Angela Merkel gehabt, räumt Ullrich Loh aus Wetzlar-Dutenhofen ein. Aber jetzt ist er sich sicher: Die Kanzlerin habe den Zenit ihrer Macht überschritten. „Deswegen wird es Zeit, dass wir den Merkel-Komplex ablegen.“
Ob das der SPD auch in den nächsten vier Jahren gelingt?
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