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Sexismus-Debatte - Sind wir nicht alle ein bisschen Brüderle?

CICERO ONLINE schaut zurück auf ein Jahr voller interessanter, bewegender, nachdenklicher oder einfach schöner Texte. Zum Jahreswechsel präsentieren wir Ihnen noch einmal das Beste aus 2013.Brüderles Vergehen kann man mit „grober Unhöflichkeit“ oder „schwülstiger Geilheit“ zusammenbringen – mit Sexismus hat das aber nichts zu tun

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Zur Klarstellung, und weil es all zu häufig vergessen wird: Es gibt kaum etwas Unangenehmeres als Menschen, die angeregt durch gute Laune und Stimulanzien gleich welcher Art anderen Menschen doppeldeutige oder eindeutige Avancen machen und getrieben von der Macht der Hormone die Distanzzone ihres Gegenübers verletzen. Das gilt für den angeheiterten Chef auf der betrieblichen Weihnachtsfeier, für den netten Kollegen nach dem vierten oder fünften Schoppen auf dem sommerlichen Weinfest und auch für Politiker auf launigen Parteiveranstaltungen oder schunkelnden Karnevalssitzungen in der Provinz.

Das gilt aber auch für den coolen Hipster nach der bunten Pille im angesagten Club und für die aufgedrehte Damenrunde nach dem dritten Piccolöchen auf dem Ausflugsdampfer. Egal ob älterer Mann gegenüber junger Dame, ältere Dame gegenüber jungem Herrn, älterer Mann gegenüber jungem Mann und was sich sonst noch so an Geschlechts- und Alterskombinationen denken lässt: Es gehört zur guten Erziehung und zum Anstand, auch bei ausgelassener Stimmung die Privatsphäre meines Gegenübers zu wahren. Alles andere ist schmierig, ekelhaft und peinlich. So viel dazu.

[gallery:#aufschrei: Der ganz alltägliche Sexismus]

Und daher ist es auch leicht vorstellbar und gut nach zu vollziehen, dass sich die Kollegin des „Stern“ unangenehm berührt fühlte durch die in der Tat nicht gerade von gentlemanhafter Noblesse getragenen Komplimente des Herrn Brüderle. Doch ehrlich: Dandyhaften Esprit hatten wir bei dem Pfälzer Knappen ohnehin nie vermutet.

Doch es soll hier nicht um Stilfragen gehen, um gute Erziehung oder die schwülstige Geilheit, die sich nach einigen Gläsern mitunter nicht nur über Parteiabende und Dorffeste legt, sondern auch über Discotheken und die Party im Haus nebenan – von den Ballermännern dieser Welt ganz zu schweigen. Auch die fragwürdige Politkampagne der „Stern“, dem die unsägliche Brüderle-Anekdote ein Jahr nach ihrem Geschehen und just in dem Moment einfiel, als der ehemalige Wirtschaftsminister zum Spitzenkandidaten seiner Partei ausgerufen worden war, ist hier nicht das Thema.

Nein, es geht um etwas ganz anderes, es geht um – Sexismus. Rainer Brüderle hat nämlich, glaubt man den einschlägigen Kommentaren, nicht nur eine grobe Unhöflichkeit begangen, er hat sich des Sexismus’ schuldig gemacht. Und das soll wohl, so ahnt man aufgrund der Vehemenz der Anklage dunkel, eine besonders schwerwiegende Form der Verfehlung sein.

Der Begriff „Sexismus“ gewinnt seine anklagende Schlagkraft dadurch, dass er analog zum Begriff des Rassismus gebildet wurde und ähnlich funktioniert. So wie Rassisten Menschen anderer Hautfarbe oder anderer ethnischer und kultureller Herkunft diskriminieren und ihnen im schlimmsten Fall das Menschsein absprechen, so setzen Sexisten Menschen aufgrund ihres Geschlechtes herab. Und in der Tat: Sexismus ist keine Einbildung wild gewordener Feministinnen. Wenn Frauen aufgrund ihres Geschlechtes Schuldbildung verweigert wird, wenn sie kein Auto fahren und nur die hintere Hälfte eines öffentlichen Verkehrsmittels nutzen dürfen, wenn ihnen der Zugang zu Berufen versperrt ist, die sie genau so gut ausüben könnten wie Männer, dann handelt es sich schlicht um Sexismus: um Diskriminierung aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, fast immer verteidigt im Namen der Kultur und der Tradition.

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Im „Fall“ Brüderle geht es jedoch um etwas ganz anderes. Sehen wir einmal von den beteiligten Individuen, ihrer öffentlichen Rolle und dem Umfeld ab. Was ist dann passiert? Nun, ein Mann hat eine Frau angemacht, und der Frau hat das nicht gefallen. Ist das Sexismus? Klar, Brüderle hat die Stern-Kollegin angesprochen, weil sie eine Frau ist. Aber ist das schon Sexismus? Ist es folgerichtig sexistisch, wenn wir Menschen aufgrund ihres Geschlechts begehren und das gegebenenfalls plump zum Ausdruck bringen?

Sagen wir so: Wenn Brüderles geschmacklose Anmache sexistisch war, dann ist Sexismus unvermeidbar. Dann verhalten wir uns alle permanent und laufend sexistisch: Männer, die einer Frau nachschauen (gut, das ist sowieso klar); Frauen, die sich vor einem Rendezvous besonders hübsch machen, um ihre fraulichen Vorzüge zur Geltung zu bringen; Männern, die sich stylen, um anderen Männern zu gefallen. Man kann es kurz machen: Jede Handlung, die darauf beruht, dass Frauen als Frauen und Männer als Männer wahrgenommen werden (und wahrgenommen werden wollen), müsste demnach sexistisch sein. Und da insbesondere das Balzverhalten beider Geschlechter auf genau dieser Trennung beruht, wäre Flirten und Kontaktaufnahme in sexueller Absicht an sich sexistisch. Na prima.

Abgesehen davon, dass es Radikalfeministinnen gibt, die genau diese Weltsicht vertreten, dürfte klar sein, dass eine solche inflationäre Verwendung des Begriffs Sexismus absurd ist. Menschen werden, triebgesteuert wie sie – welche Glück und welch Segen! – nun einmal sind, bis ans Ende aller Tage flirten, anmachen und anchecken, um miteinander ins Bett zu gehen und Sex zu haben: Frauen und Männer, Frauen und Frauen, Männer und Männer und von mir aus auch alle mit- und durcheinander.

Dabei ist es nun einmal leicht möglich, von jemandem angesprochen zu werden, den man nicht attraktiv findet. So etwas kommt vor. Wer weiß: Dieselben dummen Brüderle-Sprüche geäußert von einem Mann, der etwas mehr wie George Clooney aussieht, gegenüber einer jungen Dame, die gerade in Flirtlaune ist – und niemals wäre der Vorwurf des Sexismus laut geworden. Wenn Sexismus aber ein Kriterium ist, um eine Anmache, die schmeichelt und gefällt, von einer Anmache zu unterscheiden, die unangenehm ist, dann ist der Begriff vollkommen wertlos. Und das ist gegenüber dem tatsächlich existierenden Sexismus in dieser Welt nicht nur lächerlich und verlogen, sondern vor allem geschmacklos.

Männer sprechen Frauen an, weil sie Frauen sexuell anziehend finden. Frauen flirten Männer an, weil sie Männer begehren. Männer, die Männer lieben, machen Männer an, weil sie auf Männer stehen. Alles andere ist eine Sache der guten Erziehung, des Anstandes und manchmal eben auch, seien wir ehrlich, der Laune, des richtigen Augenblicks, der momentanen Stimmung. Die Reaktionen aber, die mitunter dieser Tage im Netz und in den Kommentarspalten zu lesen waren, tragen Züge eines Neopuritanismus, der angesichts der sexuellen Freiheiten, die wir alle zum Glück genießen und wahrnehmen, an Heuchelei grenzt.

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