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Sigmar Gabriel - Mit Links in die Große Koalition

Sigmar Gabriel schenkt der SPD-Basis die Option auf Rot-Rot-Grün – und verlangt im Gegenzug die Zustimmung zur Großen Koalition beim Mitgliederentscheid. Ein Wagnis: Seine Partei steckt in einem tiefen Dilemma

Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Es dauert etwas, bis Sigmar Gabriel sich warm geredet hat. Selbstkritisch will er sein, „nachdenklich“, „etwas weniger mitreißend“. Über die „Gründe für die Wahlniederlage“ bei der Bundestagswahl will er reden sowie über „falsche Erwartungen“ an die Große Koalition. Doch leise Töne sind nicht wirklich die Stärke des SPD-Vorsitzenden, auch nicht auf dem SPD-Parteitag in Leipzig. Sigmar Gabriel hat mit dieser Partei noch etwas vor, das ist nicht zu überhören.  

Je länger Sigmar Gabriel redet, desto lautet wird er, je länger er vor seinen Genossen steht, desto selbstbewusster werden seine Gesten, desto stärker redet er die Sozialdemokratie. Leipzig ist Sigmar Gabriels Bühne, anderthalb Stunden braucht er, um die Niederlage bei der Bundestagswahl vergessen zu machen und um seine Genossen auf die Herausforderungen der Macht einzuschwören. Aber der Beifall bleibt verhalten.

Niemand auf dem SPD-Parteitag hat Zweifel daran, dass Gabriel am Abend mit großer Mehrheit für weitere zwei Jahre zum Vorsitzenden gewählt wird, aber die Skepsis der Genossen ist im Saal deutlich zu spüren. Um etwa 17.40 Uhr ist es soweit: Sigmar Gabriel, der ohne ohne Gegenkandidaten zur Wahl antritt, wird im ersten Wahlgang mit 83,6 Prozent der Stimmen als Parteivorsitzender bestätigt. Das sind zwar 8 Prozentpunkte weniger als bei seiner Wahl 2011. Der Wiedergewählte selbst nennt dies ein „ehrliches Ergebnis“.

Wie viel Einbildung dieser neuen sozialdemokratischen Stärke zugrunde liegt und wie viel Substanz, wie viel Autosuggestion und wie viel Perspektive, das wird sich wohl erst in ein paar Wochen oder Monaten zeigen. Vielleicht auch erst in vier Jahren.

Merkwürdiger Zeitpunkt für einen SPD-Parteitag


„Wovor haben wir eigentlich Angst?“, fragt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung seine Genossen zum Auftakt des Parteitages. Er meint die Frage rhetorisch. Dabei ist die Angst der Sozialdemokraten auf dem Parteitag allgegenwärtig, die Angst vor zu vielen Zugeständnissen an die Union, die Angst davor, dass es mit der Sozialdemokratie in Deutschland nicht wieder aufwärts geht, sondern weiter abwärts.

Es ist ein merkwürdiger Zeitpunkt für einen SPD-Parteitag. Mitten in den Koalitionsverhandlungen, mitten im Ringen um einen Kompromiss zwischen drei so ungleichen Partnern, die dieses Land in den kommenden vier Jahren gemeinsam regieren wollen. Es ist ein merkwürdiger Parteitag, kurz nach einem peinlichen Wahlkampf, einer ernüchternden Wahlniederlage und kurz vor einem unkalkulierbaren Mitgliederentscheid, bei der die Basis über die Große Koalition und damit über die Zukunft der SPD entscheidet. Es ist eine ungewisse Zukunft, denn erstens ist bislang völlig unklar, auf welchen Kompromiss sich Union und SPD in den Koalitionsverhandlungen verständigen werden. Und sie ist zweitens deshalb ungewiss, weil kein Genosse weiß, was danach kommt.

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Niemand verkörpert die Ungewissheit der Sozialdemokraten mehr als Sigmar Gabriel. Er ist derzeit der starke Mann der SPD, die Skepsis gegenüber einem SPD-Vorsitzenden, der als launig, unberechenbar und  beratungsresistent galt, ist einer pragmatischen Anerkennung gewichen. Anerkennung angesichts seines Gespürs für Stimmungen und Zwischentöne, für das richtige Maß zwischen Selbstkritik und Selbstbewusstsein, zwischen Demut und Größenwahn, zwischen Strategie und Taktik. Er beschwört die klassischen sozialdemokratischen Tugenden und mutet ihnen Veränderung nur in homöopathischen Dosen zu.  Er stellt Bedingungen für die Große Koalition, erklärt die SPD dürfe nie wieder „gegen ihr inneres Selbstverständnis“  regieren, wie mit der Einführung der Rente mit 67 oder der Mehrwertsteuererhöhung in der letzten großen Koalition zwischen 2005 und 2009.

Gabriel verschweigt, dass Regieren immer auch mit Zumutungen gegenüber der eigenen Klientel verbunden ist – und mit schmerzhaften Kompromissen.

Der Parteivorsitzende hat die Zeit seit dem 22. September genutzt, um seine innerparteiliche Macht zu festigen. Der Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ist Geschichte, der darf in Leipzig sich noch kurz von seinen Genossen verabschieden. Obwohl Sigmar Gabriel entscheidende Mitverantwortung für das schlechte Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl trägt, hat ihn in den letzten zwei Monaten niemand herausgefordert. Die starken Landesmütter und -väter wie Hannelore Kraft, Stephan Weil oder Torsten Albig konzentrieren sich stattdessen darauf, in den Koalitionsverhandlungen mit der Union ihre föderalen Interessen zu wahren – notfalls gegen die eigene Partei.

Sigmar Gabriel hingegen hält derzeit die SPD zusammen. Er erinnert die Partei an ihre großen Siege der Vergangenheit, ohne dabei die Versäumnisse seiner Partei in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verschweigen. Er beklagt die kulturelle Kluft zwischen den Repräsentanten der SPD und ihrer Kernwählerschaft. Er zeigt Verständnis für die Skepsis der Basis gegenüber der Großen Koalition und er weiß doch, dass es die Aufgabe des SPD-Vorsitzenden ist, seine Partei als Juniorpartner in das Bündnis mit CDU und CSU zu führen. Er formuliert Bedingungen, die der Union wehtun werden: Mindestlohn und Doppelpass. Aber er sagt auch: „Wer 100 Prozent des SPD-Wahlprogramms erwartet, erwartet zu viel.“

Gleichzeitig bringt Sigmar Gabriel den Mut auf, mit einem Tabu zu brechen, das die Partei seit fast 25 Jahren lähmt und die SPD ihrer strukturellen Mehrheitsfähigkeit beraubt hat: die Zusammenarbeit mit der Linkspartei.

SPD zwischen Wärmestube und Realitätsschock


Trotzdem: Die SPD steckt in einem Dilemma. Das Wahlergebnis am 22. September war enttäuschend, die Genossen taumeln zwischen Wärmestube und Realitätsschock, zwischen Oppositionssehnsucht und Machtlust, zwischen Gesinnung und Verantwortung, zwischen Schwarz-Rot und Rot-Rot-Grün.

Vor allem aber beharrt die SPD unter Führung von Sigmar Gabriel in einer Großen Koalition auf einem „Politikwechsel“ - das ist der Tribut an die SPD-Basis, das ist der Tribut an das „Ja“ im Mitgliederentscheid. Allein die Mehrheit der Wähler will keinen Politikwechsel. Angela Merkel hat ja deshalb die Wahl gewonnen, weil sie nicht Wandel, sondern Kontinuität versprochen hat. Nach dem Parteitag, nach den Koalitionsverhandlungen und nach dem Mitgliederentscheid wird die SPD also viel Arbeit haben und viel Kraft investieren müssen, um sich aus diesem Dilemma zu befreien.

Schwarz-Rot oder Rot-Rot-Grün ist dabei nicht die entscheidende Frage. Die Wähler hätten bei der Bundestagswahl weder an die wirtschaftspolitische noch an die soziale Kompetenz seiner Partei geglaubt, sagte Sigmar Gabriel in Leipzig. Darin sieht er einen zentralen Grund für die schmerzhafte Niederlage. Die SPD erreiche derzeit weder ihre klassische Kernwählerschaft noch die Wechselwähler der Mitte. Wie sich das ändern soll, davon war in Leipzig hingegen wenig die Rede.

Nur, wenn Sigmar Gabriel auf diese Frage eine Antwort findet, wird die SPD wieder die Machtfrage stellen können. Erst dann wird er seine Chance bekommen, mehr zu werden als Vizekanzler. 

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