- Das war keine Anti-Merkel-Wahl
Hat Angela Merkel die Landtagswahlen gewonnen oder verloren? Darüber streiten sich Union und Beobachter. Dass ihre Flüchtlingspolitik viele Anhänger gefunden hat, ist jedenfalls nicht nur ein PR-Gag der Bundesregierung
Gleich vorweg: „Richtig“ und „falsch“ gibt es in der Mathematik, vielleicht auch in der Informatik, mit der „1“ und der „0“.
In der Soziologie dagegen gibt es nur Wahrscheinlichkeiten. Korrelationen. Bei Wahlanalysen wird es gar rituell orakelhaft: der „Wählerwille“, den es politmedial zu interpretieren gilt, besteht aus Millionen irrationaler Einzelentscheidungen. Aus Millionen unbekannter Variablen.
Und so verwundert es, wie einhellig sich die Beobachter nun sind, dass Angela Merkel wegen ihrer Flüchtlingspolitik die Landtagswahlen verloren habe.
Abstimmung über Merkels Flüchtlingspolitik
Unklar bleibt, welche von Merkels Flüchtlingspolitiken eigentlich gemeint ist. Ihre Willkommensrhetorik im vergangenen Herbst? Ihre Verschärfung des Asylrechts? Ihr Kuschelkurs mit Erdogan? Oder ihr Aussitzen von Idomeni? Seitdem die Balkanroute geschlossen wurde, kamen schließlich deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland als noch in den Monaten davor.
Völlig egal: Die politischen Beobachter sind sich einig, dass am Sonntag irgendwie über diese Flüchtlingspolitik abgestimmt wurde – und sogar die Kanzlerin selbst hat das bei ihrer Pressekonferenz am Montag eingeräumt. Zwietracht herrscht jedoch bei der Frage, ob Merkel nun Siegerin oder Verliererin ist – auch innerhalb der Union: Während CDU-Vize Ursula von der Leyen im Wahlergebnis eine Bestätigung von Merkels Flüchtlingspolitik sieht, fordert Horst Seehofer eine Abkehr von genau dieser.
Denn der CSU-Chef vertritt die Verlierer-These, wonach die Wahlniederlage der drei CDU-Landesverbände allein auf Merkels Konto geht. Die Sieger-These dagegen lautet: Ungeachtet des AfD-Erfolgs triumphieren im Spektrum der demokratischen Mitte diejenigen, die Merkel beigesprungen sind und ihren Kurs verteidigt haben.
107.000 CDU-Wähler stimmten im Ländle für die Grünen
Allein die unionsinterne Spaltung in ein Pro- und ein Contra-Merkel-Lager sei für das schlechte Ergebnis der CDU verantwortlich. Die Wähler, die Merkels Flüchtlingspolitik aber wollten, standen vor dem Problem, dass sich die CDU-Landesverbände nicht nur für die Kanzlerin schämten, sondern sie aktiv hintergingen. Mit ihrem „Plan A2“ probten die Wahlkämpfer Julia Klöckner und Guido Wolf den Aufstand. In Baden-Württemberg stimmten deshalb 107.000 frühere CDU-Wähler für den Grünen Winfried Kretschmann, der angeblich jeden Tag für die Gesundheit der Kanzlerin bete. In Rheinland-Pfalz wurde die Parteizugehörigkeit der beiden Spitzenkandidatinnen durch Malu Dreyers Satz „Ich stehe erheblich deutlicher hinter der Strategie von Kanzlerin Merkel als Sie“ konterkariert. Da wirkte CDU-Vize Julia Klöckner auf einmal wie eine Verräterin.
Ebenso erging es Reiner Haseloff in Sachsen-Anhalt, der sich mit der Forderung nach einer Obergrenze gegen Angela Merkel gestellt hatte. Die Christdemokraten verloren 2,7 Prozent. Ein Viertel aller Wähler kroch in den Schoß der AfD.
Merkel-Mäkeln hat die CDU ruiniert
Nicht Merkel, sondern das Merkel-Mäkeln hat die CDU ruiniert. Es hat auch den Aderlass in Richtung der AfD verstärkt. Denn wer so richtig dagegen war, der wählte die Rechtspopulisten. 278.000 Stimmen verlor die CDU in allen drei Ländern insgesamt an die Alternative.
Horst Seehofer und weitere Vertreter der Verlierer-These führen auch Zahlen an. Der Absturz der CDU von 40 auf 27 Prozent in Baden-Württemberg und von 42 auf 32 Prozent in Rheinland-Pfalz habe an dem Tag begonnen, als Angela Merkels bedingungsloses „Wir schaffen das!“ verkündet wurde, als sie den Flüchtlingstreck von Budapest durchwinkte und bald darauf bei Anne Will sagte: „Es liegt nicht in unserer Macht, wie viele nach Deutschland kommen.“
Die Umfrageergebnisse bestätigen das nicht genau so.
Denn zwischen Juni und Dezember 2015 konnte die CDU sowohl in Rheinland-Pfalz als auch bundesweit ihre Zustimmung bei 40 bis 39 Prozent halten. Selbst wenn man annimmt, dass es mehrere Wochen braucht, bis sich politisches Handeln in eine Wählerreaktion übersetzt, wäre das ein solides Ergebnis für Merkels Flüchtlingspolitik.
Uneindeutige Umfragewerte
Die Umfragewerte purzelten in Rheinland-Pfalz erst nach dem Jahreswechsel. Mitte Januar – also kurz nach den Kölner Silvesterereignissen – lagen sie bei 37 Prozent, Mitte Februar – kurz nachdem Julia Klöckner sich mit dem „Plan A2“ gegen Merkel gestellt hatte – bei 35 Prozent.
Auch in Baden-Württemberg ergibt sich bei genauerer Betrachtung ein differenzierteres Bild. Dort erreichte die CDU am 11. September 2015 – da waren die Budapest-Flüchtlinge bereits in München angekommen – mit 40,5 Prozent ihren Jahresrekord. Erst Mitte November stürzten die Umfragewerte auf plötzlich 37 Prozent ab. In den Befragungszeitraum fiel ein Leitantrag der Südwest-CDU. Darin forderte Spitzenkandidat Guido Wolf eine stärkere Begrenzung der Flüchtlingszahlen. Die Stuttgarter Zeitung notierte: „Zu Kanzlerin Merkel hält er Distanz.“ Von da an begann die ungebremste Talfahrt der Landespartei.
Was Ursache war und was Wirkung, lässt sich in beiden Fällen nicht feststellen. Klar aber ist: Die CDU verlor in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg weder am 31. August an Zuspruch, als Merkel während ihrer Sommerpressekonferenz „Wir schaffen das“ rief, noch am 5. September, als sie die Flüchtlinge aus Budapest hereinließ. Auch die Anne-Will-Sendung am 8. Oktober kratzte – vorerst – nicht am Image der CDU.
Update: In einer früheren Version war die „1“ und die „0“ in der Informatik als Operator fälschlicherweise bezeichnet worden. Das wurde korrigiert.
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